"Verschobenes Selbstmitleid"

Karl-Heinz Beine im Gespräch mit Dieter Kassel |
Wenn Mitarbeiter in Heimen und Kliniken Menschen töten, dann geht es angeblich oft um Mitgefühl. Das wahre Motiv für solche Taten ist meist aber ein ganz anders, sagt der Psychiater und Buchautor Karl-Heinz Beine, der das Phänomen der Krankentötungen wissenschaftlich erforscht hat.
Dieter Kassel: 35 eindeutig nachgewiesene und dokumentierte Tötungsserien in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen gab es weltweit zwischen 1975 und 2008. Über 300 Menschen wurden dabei getötet. Diese Fälle wurden ausgewertet von Karl-Heinz Beine, Chefarzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am St.-Marien-Hospital in Hamm und Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten-Herdecke für seine Studie "Krankentötungen in Kliniken und Heimen". Die Studie ist jetzt in Buchform erschienen. Ich begrüße Professor Beine am Telefon – schönen guten Tag!

Karl-Heinz Beine: Guten Tag, Herr Kassel!

Kassel: Das ist ein Thema, mit dem Sie sich schon seit 20 Jahren beschäftigen, das ist ein Thema, das aber in der Regel außerhalb der Zeiten, in denen spektakuläre Fälle Resonanz in der Presse finden, wenig Beachtung findet. Warum haben Sie überhaupt angefangen, sich damit zu beschäftigen?

Beine: Ich habe 1990 begonnen, mich damit zu beschäftigen, weil in einem der Arbeitsfelder, in dem ich selber gearbeitet hatte, in einer Klinik ein Krankenpfleger, den ich kannte, Patienten getötet hat, die ich auch kannte. Und es war für mich ein so unfassliches Phänomen, dass jemand, der angetreten war wie ich selber auch, Leiden zu lindern und zu helfen, dass der jetzt dazu gekommen war, aus zunächst mal völlig unverständlichen Motiven in einer völlig unverständlichen Art und Weise Leute ungebeten zu töten, dass ich keine andere Möglichkeit damals gesehen habe, damit auch ganz persönlich umzugehen und fertig zu werden, indem ich mich dieses Themas angenommen habe.

Und das lässt mich jetzt seit 20 Jahren nicht mehr los, und so ist das gekommen, dass ich mich beschäftigt habe mit einem Thema, mit dem ich mich unter normalen Umständen wahrscheinlich niemals beschäftigt hätte. Und es ist so, dass die Beschäftigung mit diesem Thema auch damit zusammenhängt, dass ich aus der Psychiatriegeschichte gelernt habe, und zwar insbesondere aus der deutschen Nazi-Psychiatriegeschichte gelernt habe, wie schnell es gehen kann, dass menschliches Leben zur Disposition gestellt wird, und dieses war eine weitere Quelle für die nachhaltige Auseinandersetzung mit diesem Thema.

Kassel: In so gut wie allen Fällen, die Sie untersucht haben, haben die Täter und die Täterinnen als mindestens eines ihrer Motive, wenn nicht sogar als einziges, bei der strafrechtlichen Vernehmung später dann Mitleid angegeben und den Willen, Menschen von ihrem Leid zu erlösen. Ist das ein Motiv, an das Sie so gar nicht glauben können?

Beine: Alle Fakten, die sich im Laufe der später dann durchgeführten Gerichtsprozesse herausgestellt haben, und alle Erkenntnisse, die während der forensisch-psychiatrischen Begutachtung der Täter gewonnen wurden, sprechen dagegen – deshalb, weil zum einen Tötungsmethoden derartig brutal waren, dass die kaum oder gar nicht mit Mitleid in Verbindung gebracht werden können. Darüber hinaus ist es in nicht wenigen Fällen so gewesen, dass die Täter ihre Opfer erst kurz kannten und von daher über deren Wünsche, über deren Bedürfnisse und auch über deren medizinische Prognose, in Anführungszeichen, so gut wie nichts wussten und sie getötet haben. Und last not least, es gibt kaum ein Opfer, das darum gebeten hatte, getötet zu werden.

Und wenn man einmal absieht davon, ob es überhaupt möglich ist, jemanden zu töten aus Mitleid heraus, dann ist es in jedem Fall so, dass eine Tötungshandlung aus Mitleid eine professionelle oder aber mindestens eine menschliche Beziehung voraussetzt, und die war in vielen Fällen gar nicht gegeben. Schon das spricht gegen das von allen Tätern behauptete Mitleid.

Kassel: Gab es denn bei diesen insgesamt ja 35 Serien, aber 37 Täterinnen und Tätern, deren Fälle Sie untersucht haben, gibt es denn nun insgesamt so etwas wie ein typisches Täterprofil in solchen Fällen?

Beine: Es ist so, dass wenn es so etwas gibt wie ein typisches Täterprofil, dann ist das gekennzeichnet dadurch, dass die späteren Täter alle überdurchschnittlich selbstunsichere Personen sind. Diese Selbstunsicherheit, die überdurchschnittlich ausgeprägt ist, hat wahrscheinlich schon bei der Berufswahl eine große, vielleicht unbewusste Rolle gespielt. Es ist so, dass helfende Berufe ja ein hohes Sozialprestige haben und in Sonntagsreden werden helfende Berufe sehr hervorgehoben und gewürdigt, und es hat den Anschein, als hätten die Täter sich von dieser Berufswahl versprochen, dass sie damit ihr defizitäres Selbstwertgefühl kompensieren, sich selbst aufwerten, in einzelnen Fällen auch, dass sie sich erhofft haben, dass es ihnen selbst dadurch besser geht.

Und wenn dann im Laufe der Zeit diese erhoffte Aufwertung, diese erhoffte Stabilisierung ausbleibt, dann kommt es zu einer Vermischung zwischen eigenem Missempfinden, eigenem Leiden und dem Leiden der potenziellen Opfer und der Patienten. Denn das tatsächliche Leiden der Patienten erscheint in den Augen der Täter, denen es zunehmend schlecht geht in ihrer beruflichen Position, deutlich schlimmer, als es von den Opfern selber und von anderen Kolleginnen und Kollegen empfunden wird, und es kommt am allerletzten Ende zu dem, was ich verschobenes Selbstmitleid nenne: Es kommt zu einer Übertragung von eigenem Missempfinden auf die Patienten vonseiten der Täterinnen und Täter, und sie wiegen sich schließlich in der unreflektierten Illusion, dass sie mit ihren Tötungen, die ja ungebeten sind, den Patienten oder Patienten etwas Gutes täten.

Und in Wahrheit geht es darum, dass sie sich selbst befreien von einem unerträglichen Anblick und aus einer unerträglichen Situation. Es gibt viele später als Täterinnen und Täter identifizierte Leute, die diesen Mechanismus beschrieben haben. Es gibt eine französische Krankenschwester, die gesagt hat, es ist wahr, dass man sein eigenes Leiden erleichtert, indem man das des anderen erleichtert. Oder der Sonthofener Krankenpfleger Stefan L. hat gesagt: Ich war irgendwo erleichtert und hatte das Gefühl, dass jemand erlöst ist – ich war erleichtert.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Karl-Heinz Beine über die 35 Serientötungen in Krankhäusern und Pflegeheimen, die es von 1975 bis 2008 weltweit gegeben hat und die er sich sehr genau angeschaut hat für eine Studie zum Thema. Herr Beine, nun beschreiben Sie in vielen dieser Fälle, sehr vielen, ganz eindeutige Hinweise, die sehr, sehr lange nicht richtig gedeutet worden sind. Was mich zum Teil erschreckt hat, ist, dass einzelne Täter lange vor Beginn irgendwelcher Ermittlungen gegen sie schon im Kollegenkreis mit Namen belegt wurden wie Todesengel, Vollstrecker, Erlöser. Da habe ich manchmal den Eindruck – oder es wurde gesagt, schickt mal XY in das Zimmer, dann ist es schneller vorbei –, da habe ich teilweise den Eindruck, da hat es Fälle gegeben, da haben die ganz gewusst, was vor sich geht und haben trotzdem nicht versucht, diese Taten zu verhindern?

Beine: Diesen Eindruck muss man haben, es gibt in einzelnen Fällen, in einzelnen wenigen Fällen so was wie eine heimliche Komplizenschaft wie ein mehr oder minder unausgesprochenes Einverständnis mit dem Tun des Täters, sodass man fast den Eindruck haben kann, eine gesamte Stationsgruppe delegiert diese Arbeit an ein Mitglied dieser Gruppe, der dann diesen Auftrag übernimmt und tötet. Nur, das ist in der Mehrzahl der Fälle nicht so, sondern in der Mehrzahl der Fälle ist es so, dass zunächst einmal die Tötung von Patienten oder Heimbewohnern in der eigenen Einrichtung für unmöglich gehalten wird und die Menschen, die einen solchen Verdacht äußern, als Denunzianten bezeichnet werden und mit Strafanzeigen bedroht werden, wenn sie nicht aufhören, diese Art von übler Nachrede zu praktizieren.

Und erst im Laufe von Zeit, wenn die Verdachtsmomente dichter werden, kommt es dann dazu, dass ernsthafte Recherchen betrieben werden, die dann aber meist auch nicht zu irgendeinem Ergebnis führen. Und erst dann, wenn die Indizien vollkommen unübersehbar werden, wird dann Strafanzeige erstattet – mit der fatalen Konsequenz, dass zwischen den ersten internen Verdächtigungen oder aber mit der Konsequenz, dass lange bevor Leute verhaftet werden, sie mit Spitznamen belegt werden und eindeutige ernsthafte Frühwarnzeichen da sind, dass in diesen Zeiten weitere Tötungen geschehen. Das ist die eine Seite.

Die andere Seite besteht aber darin, dass es ja geradezu denkunmöglich ist, dass in einer Einrichtung, die geschaffen wurde, um besonderen Schutz zu gewähren, in der Menschen arbeiten, die der hippokratischen Tradition verpflichtet sind, dass dort getötet wird – also die Tötungshandlungen in Kliniken oder Heimen sind besonders abwegig, sind besonders undenkbar. Und wenngleich das Gesundheitswesen in den Grundfesten erschüttert ist, wenn solche Tötungsserien bekannt werden, über die Zeitspanne hinaus betrachtet, sind das ja keine Massenphänomene, diese Tötungsserien, sondern sind eher seltene Ereignisse, aber gleichwohl, es gilt die Frühwarnzeichen zu erkennen und sie zu unterscheiden von haltlosen Beschuldigungen.

Kassel: Nun reden wir ja aber von diesen 35 Tötungsserien, die eindeutig nachgewiesen und dokumentiert sind, bei denen es am Ende Urteile gegeben hat gegen die Täter. Von was für einer Dunkelziffer gehen Sie in etwa aus?

Beine: Also es ist so, dass die Zahl der nachgewiesenen Opfer 326 beträgt und die Zahl der dringenden Verdachtsfälle liegt bei weit über 2000. Es ist so, dass in vielen Fällen die Nachweise im Hinblick auf eine eindeutige Todesursache nicht geführt werden konnten, weil die Leute kremiert worden waren oder weil der Verwesungszustand so weit vorangeschritten war. Und von daher ist es schwierig, Spekulationen anzustellen über die Dunkelziffer. Man muss davon ausgehen, dass jedes aufgeklärte Tötungsdelikt zwei bis drei unaufgeklärte Tötungsdelikte nach sich zieht oder dass jedes aufgeklärte vergesellschaftet ist mit zwei bis drei unaufgeklärten.

Und die Dunkelziffer in Kliniken und Heimen ist wahrscheinlich in dieser Größenordnung oder tendenziell eher höher, weil es gibt einige Besonderheiten, nämlich dass der Tod in Kliniken und Heimen für sich genommen ja nichts, in Anführungszeichen, "Außergewöhnliches" ist, weil in Kliniken und Heimen sterben häufig Leute an natürlichen Todesursachen. Und die im Nachhinein als Tötungshandlung identifizierten Abläufe sind von außen und ohne Argwohn betrachtet leicht identifizierbar als medizinische oder pflegerische Routinehandlungen. Und von daher ist die Kombination von besonderem Schutz, besonderer Gewaltfreiheit, besonderer Typus von Mensch in den Kliniken und Heimen als Mitarbeiter schwierig in Verbindung zu bringen mit Tötungshandlungen. Es liegt besonders fern.

Kassel: Sie haben das Buch vor allen Dingen für diese Mitarbeiter von Heimen und Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern geschrieben, ich kann es – es ist durchaus auch verständlich für andere Menschen – auch allen anderen empfehlen. Das Buch heißt "Krankentötungen in Kliniken und Heimen: Aufdecken und Verhindern" und ist im Lambertus-Verlag erschienen. Herr Beine, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!

Beine: Vielen Dank, auf Wiederhören!