Martin Tschechne lebt als Journalist und Psychologe in Hamburg.
Wozu finstere Mächte herhalten müssen
Verschwörungstheorien sind Konstrukte einer psychologischen Vereinfachung. Sie unterstellen Plan und Absicht, wo Komplexität den Seelenfrieden stört, meint der Psychologe Martin Tschechne. Doch: "Die Reduktion der Wirklichkeit auf ein Muster aus Absicht und Ausgeliefertsein verrät eine postdemokratische Haltung".
In dunklen Zeiten, da Geister um die Häuser schlichen, saßen die Menschen in ihren Stuben und wärmten sich an der gemeinsamen Angst. Erst das helle Licht des Geistes öffnete ihre Sinne, die Wiedergeburt der antiken Philosophie, das "sapere aude!" der Aufklärung – diese große Einladung, dem eigenen Denken zu vertrauen.
Die Menschen entdeckten die Ratio, die kreative Kraft von Debatte und Disput, die Gesetze der Natur. Und kamen – nun ja, ein ganz ordentliches Stück weiter. Ahnten zumindest, dass ihr kleiner Planet nicht im Zentrum des Universums stand und ihr eigenes Schicksal nicht ganz und gar im Fokus finsterer Mächte.
Unerklärliches ängstigt den Menschen
Sehr viel einfacher ist das Leben seither nicht geworden. Wissenschaft und Politik stießen immer wieder an ihre Grenzen. Das ist ihre Aufgabe. Aber die Begegnungen mit dem Neuen, dem Unerklärlichen und Unheimlichen wurden dadurch nicht weniger, sondern mehr. Das Wesen der Menschen konnte dem schnellen Wandel nicht folgen.
Es gab Streit und Meinungsverschiedenheit, wo vorher das Diktum einer Doktrin für Ruhe gesorgt hatte. Und je schwerer Übersicht und Orientierung fielen, desto größer wurde das Bedürfnis, einer verwirrenden Realität den Sinn einer eingängigen Erzählung zu geben. So kamen die Verschwörungstheorien in die Welt.
Verschwörungstheorien erhalten den Seelenfrieden
Als Konstrukte einer psychologischen Vereinfachung nämlich. Sie unterstellen Plan und Absicht, wo Komplexität den Seelenfrieden stört, wo Zufall die alten Ängste weckt und die Summe der berechenbaren Wahrscheinlichkeiten am Ende nicht hundert Prozent ergibt.
Die Welt wird von einer kleinen Gruppe Auserwählter aus einem Hotel in den Niederlanden gesteuert. Die Invasion von Texas durch die Bundeswehr ist bereits auf dem Weg. Das Aids-Virus wurde in den Labors des Geheimdienstes entwickelt, um Homosexuelle auszurotten. Und Deutschland ist ein rechtloser Vasall der Amerikaner, die obendrein giftige Chemikalien über das Land streuen lassen.
Wer sich im Internet treiben lässt, begegnet solchen Konstrukten auf Schritt und Tritt. Das mag zunächst an der niedrigen Schwelle der so genannten sozialen Medien liegen, in die jeder Beitrag zum öffentlichen Diskurs unterschiedslos eingerührt wird, ob ernst oder albern, zuständig oder angemaßt, offen oder anonym.
Houellebecq inszeniert Flucht vor eigener dunkler Seite
Eine Gefahr also nur für die, die sich in solchen Gedankenspielchen verlieren? Vorsicht! Die Reduktion der Wirklichkeit auf ein Muster aus Absicht und Ausgeliefertsein verrät eine postdemokratische Haltung. Sie dokumentiert die Distanz zu einer Gemeinschaft, die keine Visionen mehr zulässt.
Wenn die klassischen Formen des Politikbetriebs – die Diplomatie, die überzeugende Rede, die Debatte im hohen Hause des Parlaments – wenn sie in Einfallslosigkeit zu verdämmern drohen, dann bleibt eben die Idee der Verschwörung, um das Mögliche zu skizzieren.
Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat es in seinem Roman "Die Unterwerfung" und auf der Bühne des Theaters als Groteske inszeniert: die Flucht einer westlichen Gesellschaft in den islamischen Staat, um so der Bedrohung durch die dunkle Seite des eigenen Wesens zu entgehen.
Desillusionierte Gesellschaften spielen mit dem Feuer
Und die Wähler in Holland haben mal eben vorgeführt, wie es tatsächlich funktionieren könnte: Sie blieben zu Hause, anstatt ihre Stimme abzugeben, und überließen es einer vergleichsweise kleinen Zahl von Rechtsradikalen, die gesamte Europäische Union mal spaßeshalber vor die Wand zu fahren. Eine gelangweilte, desillusionierte Gesellschaft spielt mit dem Feuer.
Verschwörungstheorien sind nicht nur Ausdruck kollektiver Ängste – sie bedienen ein subversives Bedürfnis nach Macht und geben dem Zorn der Vernachlässigten ein Ventil. Der Mythos, so formulierte es der Philosoph Ernst Cassirer, füllt die Orientierungslücken in der politischen Ideenwelt.
Und solche Lücken gibt es viele. Die Mondlandung fand in einem Filmstudio in Hollywood statt. Paul McCartney ist vor 50 Jahren gestorben. Aber Osama bin Laden lebt noch heute.