Versöhnung "oft zu Lasten der Opfer"
In Berlin hat der 19. Kongress der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus begonnen. Anna Kaminsky beschäftigt sich mit der Aufarbeitung dieser Epoche und sieht in Deutschland noch großen Nachholbedarf.
Dieter Kassel: Es ist gerade heute exakt 50 Jahre her, dass Walter Ulbricht vor versammelter Presse bei einem großen Termin wörtlich sagte: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen". Wir wissen es alle: Knapp zwei Monate später wurde die Mauer in Berlin dann gebaut, und eingesperrt haben die sozialistischen Staaten des damaligen Mittel- und Osteuropa ihre Bürger auf die eine oder andere Weise eigentlich fast alle, und die Widerspenstigen – die sogar ganz direkt. In Berlin findet ab heute der 19. Kongress der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus statt. Da kommen, so heißt es in der Ankündigung bei den Delegierten, über 400 Jahre politische Gefangenschaft zusammen. Und ein Thema heute schon war die unterschiedliche Aufarbeitung der kommunistischen Ära in den einzelnen Staaten. Ein Vortrag zu genau diesem Thema hat heute Vormittag die Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung gehalten, Dr. Anna Kaminsky, und die ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag, Frau Kaminsky!
Anna Kaminsky: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Kann man denn überhaupt über irgendeinen der ehemaligen kommunistischen Staaten Europas sagen, dass die Aufarbeitung dort bereits abgeschlossen ist?
Kaminsky: Nein, kann man kurz und knapp sagen. Das kann man leider noch von keinem sagen beziehungsweise in einigen Fällen vielleicht auch zum Glück, weil was heißt es, wenn die Aufarbeitung abgeschlossen ist? Das heißt, dass das Thema vom Tisch wäre. Aber in vielen ehemals kommunistisch beherrschten Staaten ist es doch so, dass wir noch weit entfernt davon sind, überhaupt von einer gelungenen Aufarbeitung zu sprechen.
Kassel: Gibt es denn in anderen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes auch so etwas wie bei uns die Stasi-Unterlagenbehörde, also gibt es die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen und dann auch als Privatperson unter gewissen Umständen Einsicht zu bekommen?
Kaminsky: Das gibt es, es gibt diese Institutionen nicht in allen Ländern, also es gibt in einigen Ländern diese Institutionen, allerdings sind auch hier die Zugangsrechte sehr unterschiedlich. Also in einigen Ländern bekommt man selbst die eigenen Akten nur geschwärzt zu sehen oder werden die Namen von Informanten oder von Tätern selbst in diesen eigenen Akten geschwärzt, sodass die Opfer sich zwar ein Bild über das machen können, was ihnen widerfahren ist, aber sie nicht in die Lage versetzt werden, auch diejenigen zu identifizieren, die ihnen das angetan haben. Aber wie gesagt, das wird … von Land zu Land ist das sehr unterschiedlich und auch zum Teil ein sehr kompliziertes juristisches Verfahren.
Kassel: Es gab und gibt ja auch in Deutschland immer die Diskussion darüber, ob es jenseits des Opferschutzes in diesem Zusammenhang auch eine Art Täterschutz geben soll. Gibt es auch Fälle, wo Sie selbst das Gefühl haben, na ja, da sind die Akten so offen – man weiß ja auch bei Akten von ehemaligen Geheimdiensten nicht, was da wirklich stimmt von dem, was da wirklich drinsteht –, da sind die Akten so offen, dass das eigentlich vermeintlichen Tätern gegenüber unfair sein könnte?
Kaminsky: Puh, da muss ich sagen, da hält sich mein Mitleid ehrlich gesagt in Grenzen. Denn die Täter berufen sich heute natürlich – und das ist auch ein Vorzug des Rechtsstaats – auf Menschenrechte, auf ihnen zustehende Rechte, die sie aber ihren Opfern auf konsequenteste und brutalste Weise verweigert haben. Und was ich für eine Aufarbeitung schon für wichtig halte, ist, dass diejenigen, die da Unrecht angerichtet haben, auch beim Namen genannt werden und damit, ja, das Ganze auch ein Gesicht bekommt. Weil wenn wir immer nur mit Funktionsbezeichnungen hantieren und sagen, also es war Ceausescu oder es war Honecker – das beschreibt und erklärt noch nicht, wie Diktatur funktioniert, sondern es sind auch die "kleinen Rädchen", die auf lokaler Ebene Menschen ins Gefängnis gebracht haben, die gefoltert haben in den Gefängnissen, die andere bespitzelt und verraten haben und denen großes Unrecht zugefügt haben. Und insofern halte ich das schon für wichtig, dass Opferschutz vor Täterschutz gehen muss.
Kassel: Ich habe ja erwähnt, dass bei den Delegierten, die zu diesem Kongress jetzt in diesen Tagen in Berlin zusammenkommen, es sich um Menschen handelt, die gemeinsam – wenn man das aufrechnen würde – über 400 Jahre lang aus politischen Gründen in Haft saßen, natürlich in unterschiedlichen Ländern, diese Menschen kommen aus zwölf Staaten. Wie sieht es denn konkret mit Entschädigung aus, zum Beispiel für Haftzeiten?
Kaminsky: Das ist in den meisten Ländern mittlerweile so geregelt, dass die Haftzeiten entschädigt werden, allerdings wiederum auch verglichen mit Deutschland auf sehr unterschiedlichem und zum Teil sehr, sehr geringem Niveau. Also im vergangenen Jahr fand der Kongress in Rumänien statt, im Jahr davor in Albanien, und auch dort konnte man sich einen sehr guten Einblick darüber verschaffen, dass es zwar die Gesetze gibt, aber die Umsetzung dieser Gesetze sehr, sehr langwierig ist und die Opfer sich oftmals durch viele Instanzen klagen müssen beziehungsweise immer neue Belege dafür einbringen müssen, dass ihnen etwas passiert ist, bevor sie diese Entschädigung überhaupt bekommen. Und dann wird auch je nach Kassenlage nicht die ganze Entschädigung ausgezahlt, sondern die Opfer werden vertröstet. Also das ist auch ein offener Punkt, der bei den Kongressen immer wieder eine Rolle spielt, wie man sich hier gegenseitig den Rücken stärken kann und gemeinsam dafür Sorge tragen kann, dass die Opfer in allen Ländern entschädigt werden und ihnen ermöglicht wird, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Kassel: In Berlin hat heute der 19. Kongress der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus begonnen. Wir reden deshalb hier im Deutschlandradio Kultur gerade mit der Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, das ist quasi der Gastgeber, diese Stiftung, in diesem Jahr des Kongresses, und wir reden über den unterschiedlichen Umgang mit der Vergangenheit in den einzelnen Ländern, den ehemaligen kommunistischen Ländern Europas. Frau Kaminsky, welche Rolle spielt denn dabei auch die Art und Weise, wie dieser Übergang von der Diktatur in demokratische Strukturen stattgefunden hat? Die Unterschiede sind ja sehr groß, wenn man extreme Beispiele nimmt wie Polen, wo das ja fast ein Verhandlungsergebnis war 1989, und Rumänien, Sie haben Rumänien schon erwähnt, wo ja der Diktator einfach auf offener Straße gelyncht wurde und man bis heute noch nicht genau weiß, wer da eigentlich damals gegen wen aufbegehrte. Welche Rolle spielt das auch im Nachhinein dann für die Aufarbeitung?
Kaminsky: Mein Eindruck ist hier, dass gerade die Form des Umsturzes – ob der radikal war, ob es tatsächlich einen Bruch mit den alten Machtverhältnissen war, ob die alten Eliten auch, wenn auch nur teilweise, ausgetauscht werden konnten –, dass das einen großen Einfluss auf die Bereitschaft der Gesellschaft hat, sich intensiv und auch radikal mit der Vergangenheit zu beschäftigen und hier auch radikale Beschlüsse zu fassen. Also wenn wir beispielsweise die tschechische Republik nehmen, da ist ja auch die kommunistische Ideologie zu einer verbrecherischen Ideologie erklärt worden und es gab eine große Bereitschaft auch unter den Politikern, mit dem Regime zu brechen und auch hier eine Aufarbeitung voranzubringen. Allerdings haben natürlich auch gerade bei den Feierlichkeiten 20 Jahre nach 1989 in den Jahren 2009, 2010, die ja ein Anlass hätten sein können, Stolz auf diese Revolution und die Umbrüche zurückzubringen, die haben ja in vielen Ländern gezeigt, wie zerrissen auch hier die Gesellschaft ist oder wie zerrissen auch einstige Kampfgefährten heute in diesen Fragen sind, und die Bereitschaft zur Aufarbeitung in vielen Ländern auch unter dem Diktum steht: Wie viel Versöhnung brauchen wir in unserer Gesellschaft? Und dass das oft zu Lasten der Opfer geht, ist aus meiner Sicht ein beklagenswerter Zustand.
Kassel: Besonders schlimm für Opfer kann es ja sein, wenn sie dann in diesen neuen demokratischen Ländern zum Beispiel schlicht und ergreifend zu irgendeinem Amt gehen und da sitzt genau der Gleiche, der in dem entsprechenden Vergleichsamt vor 1989 auch schon saß. Ist das in einigen europäischen Ländern wahrscheinlicher als in anderen?
Kaminsky: Also da kenne ich jetzt die Situation in den Ämtern in diesen Ländern zu wenig, aber wir haben ja ein sehr gutes Beispiel direkt vor der Haustür, bei der Enquete-Kommission im Land Brandenburg, die wir in Deutschland ja nachverfolgen und nachvollziehen können, da ist ja in der Berichterstattung auch zu lesen gewesen, dass ein Richter, der vor 1989 auch an Unrechtsurteilen beteiligt war, nach 1989 wieder in einer Position sitzt, wo er über Entschädigungsansprüche für Opfer mit entscheiden kann. Und ich denke, solche Fälle findet man auf unterschiedlichen Ebenen überall, besonders krass werden uns diese Beispiele aus Albanien berichtet, wo es ja im Prinzip keinen wirklichen Bruch mit der Vergangenheit gegeben hat, sondern sich die kommunistische Partei im Prinzip umbenannt hat und heute noch immer an den Schalthebeln der Macht sitzt, aber auch die Verwaltung dominiert.
Kassel: Sie haben sich große Mühe gegeben, Frau Kaminsky, und ich kann das sehr gut verstehen, nicht mit dem Finger auf irgendwelche Länder zu zeigen in diesem Gespräch und zu sagen, die machen es eigentlich besonders schlecht. Aber lassen Sie mich die Frage zum Abschluss dann mal umgekehrt formulieren: Wenn man diesen europäischen Vergleich hat, was den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit angeht – kann man dann vielleicht doch sagen, dass die Art und Weise, wie das in Deutschland passiert ist und passiert – das ist ja auch immer wieder umstritten bei uns –, dass die relativ gelungen ist?
Kaminsky: Ja, das ist immer das berühmte Bild: Wie voll ist das Glas, halbvoll oder halbleer? Ich bin eine Anhängerin, zu sagen, das Glas ist halbvoll. Vieles ist noch nicht gelungen bei der Opferentschädigung, dass die Opfer auch in Deutschland immer noch selbst Belege dafür beibringen müssen, dass ein gesundheitlicher Schaden, den sie erlitten haben, ihnen in der Haft zugefügt wurde, das, was im Behördendeutsch die Umkehr der Beweislast genannt wird, dringend erforderlich, oder dass die Opferrente aus der sozialen Bedürftigkeit gelöst wird. Diese Fragen – auch da hat Deutschland Nachholbedarf. Aber wenn ich mir oft die Aufarbeitungslandschaft im Vergleich mit anderen Ländern anschaue, stehen wir in Deutschland nicht da allein.
In Berlin, wir haben ja in diesem Jahr auch den 50. Jahrestag des Mauerbaus, wir haben allein fast 20 Gedenkstätten und Museen, die an ehemaligen Haftorten in Deutschland eingerichtet worden sind, wir haben unzählige Vereine, die sich dieser Aufgaben annehmen. Natürlich ist hier noch viel zu tun und vor allem ist auch die finanzielle Ausstattung dieser Arbeit noch unzureichend, aber was ich hier sehe, ist doch, dass Deutschland verglichen mit anderen Ländern dieser Aufarbeitung eine solche Autorität gegeben hat und demonstriert hat, das ist eine staatliche Aufgabe und das ist eine politisch gewollte Aufgabe – und das fehlt in vielen anderen Ländern noch.
Kassel: Sagt Dr. Anna Kaminsky, sie ist die Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung und in dieser Rolle im Moment auch Gastgeberin des 19. Kongresses der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus in Berlin. Frau Kaminsky, vielen Dank!
Anna Kaminsky: Guten Tag, Herr Kassel!
Kassel: Kann man denn überhaupt über irgendeinen der ehemaligen kommunistischen Staaten Europas sagen, dass die Aufarbeitung dort bereits abgeschlossen ist?
Kaminsky: Nein, kann man kurz und knapp sagen. Das kann man leider noch von keinem sagen beziehungsweise in einigen Fällen vielleicht auch zum Glück, weil was heißt es, wenn die Aufarbeitung abgeschlossen ist? Das heißt, dass das Thema vom Tisch wäre. Aber in vielen ehemals kommunistisch beherrschten Staaten ist es doch so, dass wir noch weit entfernt davon sind, überhaupt von einer gelungenen Aufarbeitung zu sprechen.
Kassel: Gibt es denn in anderen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes auch so etwas wie bei uns die Stasi-Unterlagenbehörde, also gibt es die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen und dann auch als Privatperson unter gewissen Umständen Einsicht zu bekommen?
Kaminsky: Das gibt es, es gibt diese Institutionen nicht in allen Ländern, also es gibt in einigen Ländern diese Institutionen, allerdings sind auch hier die Zugangsrechte sehr unterschiedlich. Also in einigen Ländern bekommt man selbst die eigenen Akten nur geschwärzt zu sehen oder werden die Namen von Informanten oder von Tätern selbst in diesen eigenen Akten geschwärzt, sodass die Opfer sich zwar ein Bild über das machen können, was ihnen widerfahren ist, aber sie nicht in die Lage versetzt werden, auch diejenigen zu identifizieren, die ihnen das angetan haben. Aber wie gesagt, das wird … von Land zu Land ist das sehr unterschiedlich und auch zum Teil ein sehr kompliziertes juristisches Verfahren.
Kassel: Es gab und gibt ja auch in Deutschland immer die Diskussion darüber, ob es jenseits des Opferschutzes in diesem Zusammenhang auch eine Art Täterschutz geben soll. Gibt es auch Fälle, wo Sie selbst das Gefühl haben, na ja, da sind die Akten so offen – man weiß ja auch bei Akten von ehemaligen Geheimdiensten nicht, was da wirklich stimmt von dem, was da wirklich drinsteht –, da sind die Akten so offen, dass das eigentlich vermeintlichen Tätern gegenüber unfair sein könnte?
Kaminsky: Puh, da muss ich sagen, da hält sich mein Mitleid ehrlich gesagt in Grenzen. Denn die Täter berufen sich heute natürlich – und das ist auch ein Vorzug des Rechtsstaats – auf Menschenrechte, auf ihnen zustehende Rechte, die sie aber ihren Opfern auf konsequenteste und brutalste Weise verweigert haben. Und was ich für eine Aufarbeitung schon für wichtig halte, ist, dass diejenigen, die da Unrecht angerichtet haben, auch beim Namen genannt werden und damit, ja, das Ganze auch ein Gesicht bekommt. Weil wenn wir immer nur mit Funktionsbezeichnungen hantieren und sagen, also es war Ceausescu oder es war Honecker – das beschreibt und erklärt noch nicht, wie Diktatur funktioniert, sondern es sind auch die "kleinen Rädchen", die auf lokaler Ebene Menschen ins Gefängnis gebracht haben, die gefoltert haben in den Gefängnissen, die andere bespitzelt und verraten haben und denen großes Unrecht zugefügt haben. Und insofern halte ich das schon für wichtig, dass Opferschutz vor Täterschutz gehen muss.
Kassel: Ich habe ja erwähnt, dass bei den Delegierten, die zu diesem Kongress jetzt in diesen Tagen in Berlin zusammenkommen, es sich um Menschen handelt, die gemeinsam – wenn man das aufrechnen würde – über 400 Jahre lang aus politischen Gründen in Haft saßen, natürlich in unterschiedlichen Ländern, diese Menschen kommen aus zwölf Staaten. Wie sieht es denn konkret mit Entschädigung aus, zum Beispiel für Haftzeiten?
Kaminsky: Das ist in den meisten Ländern mittlerweile so geregelt, dass die Haftzeiten entschädigt werden, allerdings wiederum auch verglichen mit Deutschland auf sehr unterschiedlichem und zum Teil sehr, sehr geringem Niveau. Also im vergangenen Jahr fand der Kongress in Rumänien statt, im Jahr davor in Albanien, und auch dort konnte man sich einen sehr guten Einblick darüber verschaffen, dass es zwar die Gesetze gibt, aber die Umsetzung dieser Gesetze sehr, sehr langwierig ist und die Opfer sich oftmals durch viele Instanzen klagen müssen beziehungsweise immer neue Belege dafür einbringen müssen, dass ihnen etwas passiert ist, bevor sie diese Entschädigung überhaupt bekommen. Und dann wird auch je nach Kassenlage nicht die ganze Entschädigung ausgezahlt, sondern die Opfer werden vertröstet. Also das ist auch ein offener Punkt, der bei den Kongressen immer wieder eine Rolle spielt, wie man sich hier gegenseitig den Rücken stärken kann und gemeinsam dafür Sorge tragen kann, dass die Opfer in allen Ländern entschädigt werden und ihnen ermöglicht wird, ein menschenwürdiges Leben zu führen.
Kassel: In Berlin hat heute der 19. Kongress der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus begonnen. Wir reden deshalb hier im Deutschlandradio Kultur gerade mit der Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung, das ist quasi der Gastgeber, diese Stiftung, in diesem Jahr des Kongresses, und wir reden über den unterschiedlichen Umgang mit der Vergangenheit in den einzelnen Ländern, den ehemaligen kommunistischen Ländern Europas. Frau Kaminsky, welche Rolle spielt denn dabei auch die Art und Weise, wie dieser Übergang von der Diktatur in demokratische Strukturen stattgefunden hat? Die Unterschiede sind ja sehr groß, wenn man extreme Beispiele nimmt wie Polen, wo das ja fast ein Verhandlungsergebnis war 1989, und Rumänien, Sie haben Rumänien schon erwähnt, wo ja der Diktator einfach auf offener Straße gelyncht wurde und man bis heute noch nicht genau weiß, wer da eigentlich damals gegen wen aufbegehrte. Welche Rolle spielt das auch im Nachhinein dann für die Aufarbeitung?
Kaminsky: Mein Eindruck ist hier, dass gerade die Form des Umsturzes – ob der radikal war, ob es tatsächlich einen Bruch mit den alten Machtverhältnissen war, ob die alten Eliten auch, wenn auch nur teilweise, ausgetauscht werden konnten –, dass das einen großen Einfluss auf die Bereitschaft der Gesellschaft hat, sich intensiv und auch radikal mit der Vergangenheit zu beschäftigen und hier auch radikale Beschlüsse zu fassen. Also wenn wir beispielsweise die tschechische Republik nehmen, da ist ja auch die kommunistische Ideologie zu einer verbrecherischen Ideologie erklärt worden und es gab eine große Bereitschaft auch unter den Politikern, mit dem Regime zu brechen und auch hier eine Aufarbeitung voranzubringen. Allerdings haben natürlich auch gerade bei den Feierlichkeiten 20 Jahre nach 1989 in den Jahren 2009, 2010, die ja ein Anlass hätten sein können, Stolz auf diese Revolution und die Umbrüche zurückzubringen, die haben ja in vielen Ländern gezeigt, wie zerrissen auch hier die Gesellschaft ist oder wie zerrissen auch einstige Kampfgefährten heute in diesen Fragen sind, und die Bereitschaft zur Aufarbeitung in vielen Ländern auch unter dem Diktum steht: Wie viel Versöhnung brauchen wir in unserer Gesellschaft? Und dass das oft zu Lasten der Opfer geht, ist aus meiner Sicht ein beklagenswerter Zustand.
Kassel: Besonders schlimm für Opfer kann es ja sein, wenn sie dann in diesen neuen demokratischen Ländern zum Beispiel schlicht und ergreifend zu irgendeinem Amt gehen und da sitzt genau der Gleiche, der in dem entsprechenden Vergleichsamt vor 1989 auch schon saß. Ist das in einigen europäischen Ländern wahrscheinlicher als in anderen?
Kaminsky: Also da kenne ich jetzt die Situation in den Ämtern in diesen Ländern zu wenig, aber wir haben ja ein sehr gutes Beispiel direkt vor der Haustür, bei der Enquete-Kommission im Land Brandenburg, die wir in Deutschland ja nachverfolgen und nachvollziehen können, da ist ja in der Berichterstattung auch zu lesen gewesen, dass ein Richter, der vor 1989 auch an Unrechtsurteilen beteiligt war, nach 1989 wieder in einer Position sitzt, wo er über Entschädigungsansprüche für Opfer mit entscheiden kann. Und ich denke, solche Fälle findet man auf unterschiedlichen Ebenen überall, besonders krass werden uns diese Beispiele aus Albanien berichtet, wo es ja im Prinzip keinen wirklichen Bruch mit der Vergangenheit gegeben hat, sondern sich die kommunistische Partei im Prinzip umbenannt hat und heute noch immer an den Schalthebeln der Macht sitzt, aber auch die Verwaltung dominiert.
Kassel: Sie haben sich große Mühe gegeben, Frau Kaminsky, und ich kann das sehr gut verstehen, nicht mit dem Finger auf irgendwelche Länder zu zeigen in diesem Gespräch und zu sagen, die machen es eigentlich besonders schlecht. Aber lassen Sie mich die Frage zum Abschluss dann mal umgekehrt formulieren: Wenn man diesen europäischen Vergleich hat, was den Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit angeht – kann man dann vielleicht doch sagen, dass die Art und Weise, wie das in Deutschland passiert ist und passiert – das ist ja auch immer wieder umstritten bei uns –, dass die relativ gelungen ist?
Kaminsky: Ja, das ist immer das berühmte Bild: Wie voll ist das Glas, halbvoll oder halbleer? Ich bin eine Anhängerin, zu sagen, das Glas ist halbvoll. Vieles ist noch nicht gelungen bei der Opferentschädigung, dass die Opfer auch in Deutschland immer noch selbst Belege dafür beibringen müssen, dass ein gesundheitlicher Schaden, den sie erlitten haben, ihnen in der Haft zugefügt wurde, das, was im Behördendeutsch die Umkehr der Beweislast genannt wird, dringend erforderlich, oder dass die Opferrente aus der sozialen Bedürftigkeit gelöst wird. Diese Fragen – auch da hat Deutschland Nachholbedarf. Aber wenn ich mir oft die Aufarbeitungslandschaft im Vergleich mit anderen Ländern anschaue, stehen wir in Deutschland nicht da allein.
In Berlin, wir haben ja in diesem Jahr auch den 50. Jahrestag des Mauerbaus, wir haben allein fast 20 Gedenkstätten und Museen, die an ehemaligen Haftorten in Deutschland eingerichtet worden sind, wir haben unzählige Vereine, die sich dieser Aufgaben annehmen. Natürlich ist hier noch viel zu tun und vor allem ist auch die finanzielle Ausstattung dieser Arbeit noch unzureichend, aber was ich hier sehe, ist doch, dass Deutschland verglichen mit anderen Ländern dieser Aufarbeitung eine solche Autorität gegeben hat und demonstriert hat, das ist eine staatliche Aufgabe und das ist eine politisch gewollte Aufgabe – und das fehlt in vielen anderen Ländern noch.
Kassel: Sagt Dr. Anna Kaminsky, sie ist die Geschäftsführerin der Bundesstiftung Aufarbeitung und in dieser Rolle im Moment auch Gastgeberin des 19. Kongresses der Internationalen Assoziation ehemaliger politischer Gefangener und Opfer des Kommunismus in Berlin. Frau Kaminsky, vielen Dank!