Versteckspiel im Buchstabenwald
Siebeneinhalb Millionen Deutsche können nicht richtig lesen und schreiben, wie eine Studie ergeben hat. Die Politik hat zwar ein Programm aufgelegt, doch letztlich fehlt den Betroffenen die Lobby. Ihr Alltagsleben gleicht einem Versteckspiel mit vielen Hindernissen.
Mittwochabend, kurz nach 18 Uhr, in einem Seminarraum der Bremer Volkshochschule. Kursleiterin Claudia Fritsche hat heute ein Gesellschaftsspiel mitgebracht, die Kursteilnehmer - drei Frauen, sieben Männer – versuchen sich an der Spielanleitung.
Bei diesem Kursteilnehmer klappt es schon ziemlich gut mit dem Lesen, andere in der Runde tun sich deutlich schwerer. Aber darum sind sie ja hier: Schließlich heißt der Kurs "Lesen und Schreiben von Anfang an". Mit dabei an diesem Abend ist auch Lothar, 46 Jahre alt, Schnauzbart, sonnengegerbte Haut. Lothar gab sich vor drei Jahren einen Ruck und nutzt seitdem das kostenlose Kursangebot der VHS – wenn es sich mit seiner Arbeit vereinbaren lässt: Der Bremer arbeitet als Gabelstapler-Fahrer im Schichtdienst, auch abends und nachts. Nach dem Kurs bleibt Lothar noch eine Weile sitzen, erzählt, wie das ist bei ihm mit dem Lesen und Schreiben:
"Wenn ich jetzt zum Arzt gehe, ein neuer Arzt, und da heißt es dann: Füllen Sie mal das Ding aus, Name, Adresse – das kriege ich wohl hin. Aber, ich sag mal, welche Krankheiten haben Sie gehabt? Da geht es dann schon los. Ich sag mal: "Lungenentzündung" zu schreiben, wenn Du das musst, das ist das Problem. Also geht’s dann los zu sagen: Ich habe meine Brille vielleicht nicht mit oder wie auch immer, und sich nicht zu blamieren eben halt beim neuen Arzt. Mittlerweile kann ich damit umgehen. Das war auch schwer zu sagen: Ich kann's nicht, können Sie mir mal bitte helfen?"
Lothar hat die Hauptschule nach der achten Klasse verlassen, ging dann zur Berufsschule, konnte aber nie richtig lesen und schreiben.
"Die Sache ist so: In der Schule, ich hab' vielleicht nicht genug aufgepasst, meine Eltern vielleicht auch n' bisschen weniger aufgepasst, wenn sie gesagt haben: Haste deine Hausaufgaben? Natürlich hatte ich meine Hausaufgaben! Natürlich hatte ich sie nicht gemacht. Und öfter mal nicht in der Schule gewesen, an der Schule öfter mal dran vorbei gegangen."
Bei diesem Kursteilnehmer klappt es schon ziemlich gut mit dem Lesen, andere in der Runde tun sich deutlich schwerer. Aber darum sind sie ja hier: Schließlich heißt der Kurs "Lesen und Schreiben von Anfang an". Mit dabei an diesem Abend ist auch Lothar, 46 Jahre alt, Schnauzbart, sonnengegerbte Haut. Lothar gab sich vor drei Jahren einen Ruck und nutzt seitdem das kostenlose Kursangebot der VHS – wenn es sich mit seiner Arbeit vereinbaren lässt: Der Bremer arbeitet als Gabelstapler-Fahrer im Schichtdienst, auch abends und nachts. Nach dem Kurs bleibt Lothar noch eine Weile sitzen, erzählt, wie das ist bei ihm mit dem Lesen und Schreiben:
"Wenn ich jetzt zum Arzt gehe, ein neuer Arzt, und da heißt es dann: Füllen Sie mal das Ding aus, Name, Adresse – das kriege ich wohl hin. Aber, ich sag mal, welche Krankheiten haben Sie gehabt? Da geht es dann schon los. Ich sag mal: "Lungenentzündung" zu schreiben, wenn Du das musst, das ist das Problem. Also geht’s dann los zu sagen: Ich habe meine Brille vielleicht nicht mit oder wie auch immer, und sich nicht zu blamieren eben halt beim neuen Arzt. Mittlerweile kann ich damit umgehen. Das war auch schwer zu sagen: Ich kann's nicht, können Sie mir mal bitte helfen?"
Lothar hat die Hauptschule nach der achten Klasse verlassen, ging dann zur Berufsschule, konnte aber nie richtig lesen und schreiben.
"Die Sache ist so: In der Schule, ich hab' vielleicht nicht genug aufgepasst, meine Eltern vielleicht auch n' bisschen weniger aufgepasst, wenn sie gesagt haben: Haste deine Hausaufgaben? Natürlich hatte ich meine Hausaufgaben! Natürlich hatte ich sie nicht gemacht. Und öfter mal nicht in der Schule gewesen, an der Schule öfter mal dran vorbei gegangen."
Die Mehrheit ist berufstätig
So oder ähnlich klingen viele Lernbiographien von Menschen, die wie der Bremer Lothar nur wenig und mit großer Anstrengung lesen und schreiben können. Experten wie die Erziehungswissenschaftlerin Anke Grotlüschen von der Uni Hamburg sprechen in einem solchen Fall von "funktionalem Analphabetismus":
"'Funktionaler Analphabetismus' heißt, dass man nicht genug lesen und schreiben kann, um in der jeweiligen Gesellschaft zu funktionieren, also alleine aktiv die anfallenden Arbeiten zu bewältigen, den Mietvertrag, den Handyvertrag und dergleichen. Gleichzeitig bringen solche Leute sehr wohl unter Druck schon vereinzelt Sätze zu Papier."
Anke Grotlüschen hat gemeinsam mit ihrer Kollegin Wibke Riekmann 2011 die erste deutsche Untersuchung überhaupt zu funktionalem Analphabetismus vorgelegt. Von dem Ergebnis der so genannten Level-One-Studie, kurz "Leo", waren die Erziehungswissenschaftlerinnen selbst überrascht: Demnach sind siebeneinhalb Millionen Menschen in Deutschland funktionale Analphabeten, immerhin ein Siebtel der Gesamtbevölkerung und deutlich mehr als vorher angenommen. 8000 Menschen zwischen 18 und 64 Jahren wurden für die repräsentative Studie befragt, nur Menschen ohne Migrationshintergrund wohlgemerkt. Doch nicht nur die hohe Anzahl funktionaler Analphabeten sei frappierend gewesen, sagt Anke Grotlüschen.
"Das zweite überraschende Ergebnis war, dass 57 Prozent dieser Betroffenen berufstätig sind. Die liegen also nicht dem Staat auf der Tasche, sie sind nicht alle arbeitslos, sondern die gehen sehr wohl ihrer Arbeit nach. Das nächste, was uns überrascht hat, ist, dass 80 Prozent einen Schulabschluss haben. Das heißt, die Schulabschlüsse sichern nicht mehr hinreichend vor dem Zurückrutschen in funktionalen Analphabetismus, wie wir es wissenschaftlich bezeichnen."
Umgekehrt bedeute das aber auch: Probleme mit dem Lesen und Schreiben kämen in vielen Familien vor, die Stigmatisierung dieser Menschen werde dadurch eventuell schwächer:
"Und die sind deswegen auch nicht ausgeschlossen von allem und jedem. Die können sehr wohl ein reguläres Leben führen mit Familie und Berufstätigkeit. Sie sind aber häufig auf einfache Berufe verwiesen, also auf langweilige Arbeiten am Fließband, Fischdosen füllen oder Ähnliches."
Eine Schockwelle jedenfalls wie nach den schlechten Ergebnissen der ersten Pisa-Studie rollte nicht durchs Land, als die Ergebnisse der Leo-Studie veröffentlicht wurden. Das Thema Erwachsenenbildung sei nicht zu vergleichen mit Schulbildung, es fehle die Lobby, so einfach sei das, resümiert Anke Grotlüschen.
Immerhin verkündeten Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz 2011 großspurig eine "Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener". Bis 2015 fließen 20 Millionen Euro in insgesamt 60 Modellprojekte in Unternehmen sowie die Fortbildung von Dozenten in Bildungsmaßnahmen – laut Expertin Anke Grotlüschen sicherlich nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
"'Funktionaler Analphabetismus' heißt, dass man nicht genug lesen und schreiben kann, um in der jeweiligen Gesellschaft zu funktionieren, also alleine aktiv die anfallenden Arbeiten zu bewältigen, den Mietvertrag, den Handyvertrag und dergleichen. Gleichzeitig bringen solche Leute sehr wohl unter Druck schon vereinzelt Sätze zu Papier."
Anke Grotlüschen hat gemeinsam mit ihrer Kollegin Wibke Riekmann 2011 die erste deutsche Untersuchung überhaupt zu funktionalem Analphabetismus vorgelegt. Von dem Ergebnis der so genannten Level-One-Studie, kurz "Leo", waren die Erziehungswissenschaftlerinnen selbst überrascht: Demnach sind siebeneinhalb Millionen Menschen in Deutschland funktionale Analphabeten, immerhin ein Siebtel der Gesamtbevölkerung und deutlich mehr als vorher angenommen. 8000 Menschen zwischen 18 und 64 Jahren wurden für die repräsentative Studie befragt, nur Menschen ohne Migrationshintergrund wohlgemerkt. Doch nicht nur die hohe Anzahl funktionaler Analphabeten sei frappierend gewesen, sagt Anke Grotlüschen.
"Das zweite überraschende Ergebnis war, dass 57 Prozent dieser Betroffenen berufstätig sind. Die liegen also nicht dem Staat auf der Tasche, sie sind nicht alle arbeitslos, sondern die gehen sehr wohl ihrer Arbeit nach. Das nächste, was uns überrascht hat, ist, dass 80 Prozent einen Schulabschluss haben. Das heißt, die Schulabschlüsse sichern nicht mehr hinreichend vor dem Zurückrutschen in funktionalen Analphabetismus, wie wir es wissenschaftlich bezeichnen."
Umgekehrt bedeute das aber auch: Probleme mit dem Lesen und Schreiben kämen in vielen Familien vor, die Stigmatisierung dieser Menschen werde dadurch eventuell schwächer:
"Und die sind deswegen auch nicht ausgeschlossen von allem und jedem. Die können sehr wohl ein reguläres Leben führen mit Familie und Berufstätigkeit. Sie sind aber häufig auf einfache Berufe verwiesen, also auf langweilige Arbeiten am Fließband, Fischdosen füllen oder Ähnliches."
Eine Schockwelle jedenfalls wie nach den schlechten Ergebnissen der ersten Pisa-Studie rollte nicht durchs Land, als die Ergebnisse der Leo-Studie veröffentlicht wurden. Das Thema Erwachsenenbildung sei nicht zu vergleichen mit Schulbildung, es fehle die Lobby, so einfach sei das, resümiert Anke Grotlüschen.
Immerhin verkündeten Bundesbildungsministerium und Kultusministerkonferenz 2011 großspurig eine "Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener". Bis 2015 fließen 20 Millionen Euro in insgesamt 60 Modellprojekte in Unternehmen sowie die Fortbildung von Dozenten in Bildungsmaßnahmen – laut Expertin Anke Grotlüschen sicherlich nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
Jan Delay und Kurt Krömer gegen Lese- und Schreibschwächen
Mehr Sensibilität für das Thema hat der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung mit seinen kurzen Werbevideos geschaffen. Der Verein hat schon Mitte der 90er Jahre das sogenannte Alfa-Telefon eingerichtet, eine anonyme Anlaufstelle und Beratungshotline für Betroffene.
Inzwischen hat der Verband auch Musiker wie Jan Delay oder den Comedian Kurt Krömer für seine Initiative "I-Chance" ins Boot geholt, um vor allem jüngere Menschen auf lockere Art zu animieren, etwas gegen eventuell vorhandene Lese- und Schreibschwächen zu tun.
Den Spieß quasi umgedreht hat das "Büro für leichte Sprache", eine Einrichtung der Lebenshilfe Bremen. Der Ansatz hier lautet: Für Menschen mit Beeinträchtigungen müssen komplizierte Texte verständlich gemacht werden. Das Büro übersetze zum Beispiel im Auftrag von Behörden schwierige Dokumente, Gesetzestexte oder Verträge in "leichte Sprache", berichtet Elisabeth Otto von der Lebenshilfe Bremen:
"Früher war es immer so, so ist auch unser Schulsystem aufgebaut gewesen: Der Mensch muss sich an das Wissen anpassen. Er muss sich selber befähigen, das Wissen zu erlangen, das es zu erlangen gilt. Leichte Sprache hat genau den umgekehrten Ansatz. Wir sagen: Der Zugang zum Wissen muss angepasst werden an die Kompetenz des Nutzers, des Lesers."
So hat das Büro für leichte Sprache in diesem Jahr ein Buch speziell für Menschen herausgegeben, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. "Leichte Sprache – die Bilder" heißt es und erklärt in einfachen Texten kombiniert mit Bildern komplexe Begriffe wie Ehrenamt und Kündigung genauso wie Alltägliches: Frisör oder Supermarkt zum Beispiel. Den Begriff "Sexuelle Belästigung" illustriert ein Bild mit einem Mann, der einer Frau an die Brust fasst, daneben steht der entsprechende Text in leichter Sprache:
Nicole Papendorf hat drei Jahre lang als Testleserin an dem Buch mitgearbeitet. Die 37-Jährige ist ab der Hüfte querschnittsgelähmt und hat durch einen Nervenschaden im Hirn Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie vermisst nach wie vor ein Bewusstsein für das Thema bei vielen ihrer Mitmenschen:
"Dann kriegt man öfters so Sachen an den Kopf geschmissen wie: Setz' mal Deine Brille auf! Wieso, das steht doch da! Ich hab' keine Zeit, wieso kannst Du denn nicht lesen? Geh doch nochmal zur Schule…"
Auch wenn die Tragweite des Problems langsam stärker ins Blickfeld rückt – auch die Wissenschaftlerin Anke Grotlüschen sieht Deutschland nach wie vor als Entwicklungsland in Sachen funktionaler Analphabetismus:
"Und ich glaube, da sind wir einfach im Kopf noch furchtbar auf unser Dichter-und-Denker-Getue zurückgeworfen und halten uns für zu gut, und die paar armen Analphabeten, für die muss man ein bisschen was tun...""
Länder wie die USA hätten die Problematik wesentlich früher erkannt und gehandelt. Dort stehe für entsprechende Angebote ein Budget von einer halben Milliarde Dollar zur Verfügung. Auch Nachbarland Frankreich geht einen sehr viel konsequenteren Weg:
"Frankreich hat es 2013 geschafft, das Thema zur 'Grande Course Nationale' zu erklären, die nationale große Sache, das prioritäre Thema. Dadurch gewinnen die Sendeplätze in den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiokanälen. Frankreich hat unter dem letzten Präsidenten das Thema unter die Schirmherrschaft von Carla Bruni-Sarkozy gebracht, also allerhöchstens aufgehängt."
Die Frau von Nicolas Sarkozy wandte sich in Videobotschaften an die Franzosen, von denen zehn Prozent als funktionale Analphabeten gelten. Carla Bruni wies unter anderem darauf hin, dass Analphabetismus keine Frage mangelnder Intelligenz sei, sondern eine Folge der Lebensumstände und Schicksale Einzelner. Von solch prominenter Fürsprache sei Deutschland weit entfernt, kritisiert Anke Grotlüschen:
"Wir sind noch immer im Bildungsministerium. Wir haben noch nicht mal den Bundespräsidenten, geschweige denn die Kanzlerin zu einem Gipfel bewegen können.""
Inzwischen hat der Verband auch Musiker wie Jan Delay oder den Comedian Kurt Krömer für seine Initiative "I-Chance" ins Boot geholt, um vor allem jüngere Menschen auf lockere Art zu animieren, etwas gegen eventuell vorhandene Lese- und Schreibschwächen zu tun.
Den Spieß quasi umgedreht hat das "Büro für leichte Sprache", eine Einrichtung der Lebenshilfe Bremen. Der Ansatz hier lautet: Für Menschen mit Beeinträchtigungen müssen komplizierte Texte verständlich gemacht werden. Das Büro übersetze zum Beispiel im Auftrag von Behörden schwierige Dokumente, Gesetzestexte oder Verträge in "leichte Sprache", berichtet Elisabeth Otto von der Lebenshilfe Bremen:
"Früher war es immer so, so ist auch unser Schulsystem aufgebaut gewesen: Der Mensch muss sich an das Wissen anpassen. Er muss sich selber befähigen, das Wissen zu erlangen, das es zu erlangen gilt. Leichte Sprache hat genau den umgekehrten Ansatz. Wir sagen: Der Zugang zum Wissen muss angepasst werden an die Kompetenz des Nutzers, des Lesers."
So hat das Büro für leichte Sprache in diesem Jahr ein Buch speziell für Menschen herausgegeben, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. "Leichte Sprache – die Bilder" heißt es und erklärt in einfachen Texten kombiniert mit Bildern komplexe Begriffe wie Ehrenamt und Kündigung genauso wie Alltägliches: Frisör oder Supermarkt zum Beispiel. Den Begriff "Sexuelle Belästigung" illustriert ein Bild mit einem Mann, der einer Frau an die Brust fasst, daneben steht der entsprechende Text in leichter Sprache:
Nicole Papendorf hat drei Jahre lang als Testleserin an dem Buch mitgearbeitet. Die 37-Jährige ist ab der Hüfte querschnittsgelähmt und hat durch einen Nervenschaden im Hirn Probleme beim Lesen, Schreiben und Rechnen. Sie vermisst nach wie vor ein Bewusstsein für das Thema bei vielen ihrer Mitmenschen:
"Dann kriegt man öfters so Sachen an den Kopf geschmissen wie: Setz' mal Deine Brille auf! Wieso, das steht doch da! Ich hab' keine Zeit, wieso kannst Du denn nicht lesen? Geh doch nochmal zur Schule…"
Auch wenn die Tragweite des Problems langsam stärker ins Blickfeld rückt – auch die Wissenschaftlerin Anke Grotlüschen sieht Deutschland nach wie vor als Entwicklungsland in Sachen funktionaler Analphabetismus:
"Und ich glaube, da sind wir einfach im Kopf noch furchtbar auf unser Dichter-und-Denker-Getue zurückgeworfen und halten uns für zu gut, und die paar armen Analphabeten, für die muss man ein bisschen was tun...""
Länder wie die USA hätten die Problematik wesentlich früher erkannt und gehandelt. Dort stehe für entsprechende Angebote ein Budget von einer halben Milliarde Dollar zur Verfügung. Auch Nachbarland Frankreich geht einen sehr viel konsequenteren Weg:
"Frankreich hat es 2013 geschafft, das Thema zur 'Grande Course Nationale' zu erklären, die nationale große Sache, das prioritäre Thema. Dadurch gewinnen die Sendeplätze in den öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiokanälen. Frankreich hat unter dem letzten Präsidenten das Thema unter die Schirmherrschaft von Carla Bruni-Sarkozy gebracht, also allerhöchstens aufgehängt."
Die Frau von Nicolas Sarkozy wandte sich in Videobotschaften an die Franzosen, von denen zehn Prozent als funktionale Analphabeten gelten. Carla Bruni wies unter anderem darauf hin, dass Analphabetismus keine Frage mangelnder Intelligenz sei, sondern eine Folge der Lebensumstände und Schicksale Einzelner. Von solch prominenter Fürsprache sei Deutschland weit entfernt, kritisiert Anke Grotlüschen:
"Wir sind noch immer im Bildungsministerium. Wir haben noch nicht mal den Bundespräsidenten, geschweige denn die Kanzlerin zu einem Gipfel bewegen können.""
"Ich habe gezittert, weil ich ja probeschreiben musste"
Die Hamburger Erziehungswissenschaftlerin hält Kurse wie den an der Volkshochschule Bremen für wichtig und richtig. Das Angebot müsse aber ergänzt werden etwa durch Einzelcoachings für Menschen, die einer solchen Gruppensituation aus dem Weg gehen wollen. Und nicht nur die funktionalen Analphabeten selbst, auch ihr Umfeld brauche Unterstützung und Beratung:
"Das Thema Co-Alkoholismus – davon haben wir den Begriff Co-Analphabetismus geklaut und gesagt: Das gibt es auch. Und auch da muss man vielleicht unterstützen, dass die Co-Analphabeten unterrichtet werden und Hilfe finden dahin gehend: Was machen sie denn falsch, wenn sie jemandem alles abnehmen?"
VHS-Kurs-Teilnehmer Lothar aus Bremen jedenfalls schaut nach vorne: Seinen Führerschein würde er irgendwann gerne noch machen – und einen Arbeitskollegen, der nicht schreiben und lesen kann, ermutigen, auch einen Kurs zu machen:
"Er traut sich halt nicht, er hat auch alle Ausreden: Ich kann nicht wegen dies, wegen das. Aber das ist es eben: diesen Sprung zu schaffen. Ich kann's nicht, ich geh' da jetzt hin. Ich habe gezittert, weil ich ja probeschreiben musste, wie ich das erste Mal hier war. Aber wenn man erst da ist, ist das alles okay."
"Das Thema Co-Alkoholismus – davon haben wir den Begriff Co-Analphabetismus geklaut und gesagt: Das gibt es auch. Und auch da muss man vielleicht unterstützen, dass die Co-Analphabeten unterrichtet werden und Hilfe finden dahin gehend: Was machen sie denn falsch, wenn sie jemandem alles abnehmen?"
VHS-Kurs-Teilnehmer Lothar aus Bremen jedenfalls schaut nach vorne: Seinen Führerschein würde er irgendwann gerne noch machen – und einen Arbeitskollegen, der nicht schreiben und lesen kann, ermutigen, auch einen Kurs zu machen:
"Er traut sich halt nicht, er hat auch alle Ausreden: Ich kann nicht wegen dies, wegen das. Aber das ist es eben: diesen Sprung zu schaffen. Ich kann's nicht, ich geh' da jetzt hin. Ich habe gezittert, weil ich ja probeschreiben musste, wie ich das erste Mal hier war. Aber wenn man erst da ist, ist das alles okay."