Versteckt und überlebt

Von Tina Hüttl |
Nur wenigen Juden gelang es, sich in Deutschland bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs versteckt zu halten. Die 76-jährige Jüdin Rahel Mann ist eine der Überlebenden. Sie wurde als Kind in einem Keller versteckt. Nach vielen Jahrzehnten besucht sie ihr altes Versteck in einem Wohnhaus in Berlin.
Rahel Mann: "Solange ich lebe, ist meine Aufgabe ein Stück dieser deutsch-jüdischen Geschichte weiterzugeben. Aber eigentlich ist mein tiefster Gedanke, ich kann aufzeigen, dass man sich von solchen Situationen - egal ob Weltkrieg, Kampf oder Tod - nicht unterkriegen muss, man muss nicht krank werden, nicht verzweifeln, und nicht schon von vornherein Gräber zu bauen."

Das Kleid mit roten Mohnblumen weht im Wind, die grauen, nach hinten gekämmten Haare auch, die Augenlider sind hellblau geschminkt - Rahel Mann wird nicht übersehen: Nicht auf der Straße, die sie gerade entlang läuft; nicht, wenn sie auf einem Podium oder vor einer Schulklasse als Zeitzeugin erzählt. Rahel Mann, vor 76 Jahren hier in Berlin-Schöneberg geboren, ist unterwegs zur Starnberger Straße, zu der Wohnung, auf deren Tür einst ein gelber Davidstern gemalt war, damit jeder sie als Judenwohnung erkennt.

"Ich bin aus der Nummer 2, hier waren die Röttchers, die Familie mit den drei Töchtern, die meine Mutter verraten haben ..."

Rahel ist fünf, als ihre Mutter nach Oranienburg ins Lager deportiert wird. Daran kann sie sich nicht mehr erinnern - aber, dass ein paar Wochen später die jüdische Familie, die mit ihnen in der Sternwohnung einquartiert ist, abgeholt wird.

"Das ist jetzt das Fenster, wo ich zugeguckt habe, als die Familie abgeholt wurde ..."

Vor der Nummer 2 biegt sie einfach die Äste des Rhododendrons zur Seite, tritt durch die Blätter in den Vorgarten, ganz dicht an das Balkonfenster im Erdgeschoss ran. Fast hätte die Gestapo sie damals mitgenommen, ihre Rettung ist die Frau des Blockwarts im Haus, ein Frau mit dem Namen "Vater", die sie mit zu sich nach unten holt und später im Keller des Wohnhauses versteckt.

"Und da habe ich hinter der Gardine gestanden und ich war da alleine und sah die Szene. Hörte nicht, was gesprochen wurde. Kriegte nur mit, dass der eine die Mutter anschrie, der Vater und die älteren Kinder waren schon im Wagen und sie hatte das jüngste auf dem Arm und da hat er ihr das Kind entrissen, es an den Wagen geschlagen, hat es da kräftig dagegen geschlagen. Dass das dann geschrien hat, habe ich gehört."

Ein paar Mal ist sie seitdem im Haus gewesen, nie jedoch in der Wohnung von Frau Vater, ihrer Retterin, die sie bis Kriegsende bei verschiedenen Helfern unterbrachte und am Ende im Keller der Starnberger Straße versteckt hielt.

"Wo finden wir denn vielleicht jemanden, wir klingeln jetzt einfach mal hier.

Ich glaube nicht, dass hier jemand ist ..."

Erst rührt sich länger nichts, doch dann:

Gegensprecher: "Ja bitte?"

"Hallo, mein Name ist Mann, können wir mal bitte ins Haus? Ich habe hier früher gewohnt."

Gegensprecher: "Sind Sie Frau Mann?"

"Ja!"
"Wer das jetzt war, weiß ich gar nicht, das war vielleicht Herr Köhler ..."

Im Innenhof kommt ihr ein schmaler Herr mit Brille entgegen, Andreas Köhler, früher hat er dieses Haus verwaltet, jetzt wohnt er hier. Er kennt Rahel Manns Geschichte, die beiden haben sich schon einmal gesehen.

Andreas Köhler: "Köhler: Hallo, ich muss Ihnen doch Guten Tag sagen."

"Das ist ja eine Überraschung, früher war hier ihr Büro."

Spontan lädt er sie ein hereinzukommen.

Ohne zu zögern folgt Rahel Mann ihm. Drinnen geht sie voran, öffnet neugierig die Türen in der lichten Wohnung, Köhler hinterher. Dort wo einst das fensterlose Bad war, ist jetzt eine Essecke mit großem Fenster, dort wo das Nachbarhaus stand, führt eine Tür zur einer kleinen Terrasse, weil die Bombenlücke nie mehr bebaut wurde.

"Als ich hier so 1944 und auch 43 ab und zu mal hier war, das war für mich ein ganz dunkles Loch. mit dunklen, alten, so massigen Möbeln. Dunkel."

Der Ehemann von Frau Vater war der Blockwart des Viertels, dazu angehalten, "Judenfreunde" zu melden und darauf zu achten, dass die schikanösen Vorschriften gegen Juden in den Sternwohnungen eingehalten werden.

"Aber der hat in mir keinen Eindruck hinterlassen, weil er nie mit mir gesprochen hat. Immerhin mich auch nicht verraten hat, er war ja Blockwart, war in der Partei."

Draußen auf der Terrasse am gedeckten Tisch sitzt der Besuch von Andreas Köhler, sein alter Schulfreund, ein Berufsschullehrer aus NRW. Auch Rahel Mann arbeitet - solange ihre eigenen Kinder noch klein sind - als Lehrerin, erzählt sie. Später nimmt sie ihr Medizin- und Psychologie-Studium wieder auf und eröffnet eine Therapiepraxis. Einige ihrer Patienten sind selbst NS-Opfer, aber auch ein ehemaliger KZ-Lager-Leiter kommt kurz vor seinem Tod zu ihr, bittet um Hilfe:

"Dann habe ich gesagt: 'Nein, ich schmeiße Sie aber nicht raus. Sie brauchen jetzt meine Hilfe und sie kriegen sie'."

Rahel Mann lässt sich Erdbeeren mit Käse schmecken und erzählt, wie sie von November '44 bis zur Befreiung im Mai '45 durch die Russen als Siebenjährige alleine im Verschlag saß, versorgt von Frau Vater.

"Ich habe mich im Keller behütet gefühlt, aufgehoben. Das hat mir überhaupt keine Angst gemacht, aber Stiefel und Sirenen und Menschen mit Gewehrkolben - so was hat mir Angst gemacht."

Rahel Mann würde gerne den Keller sehen, verdrängen ist nicht ihre Sache. Also holt Köhler den Schlüssel, sie zieht sich vor dem Spiegel im Gang noch schnell die Lippen rot nach, dann führt sie fast fröhlich das kleine Grüppchen an, das ihr die Treppe im Hof abwärts folgt:

"Ach, schön frisch. War das Licht schon oder haben sie angemacht? Wo ist das Vorderhaus von dem Rechtsanwalt jetzt?"

Köhler: "Hier ..."

Unten ist sie zuerst verwirrt, dann findet sie den ehemaligen Verschlag:

"Ach ja guck, hier ist ein Lichtschlitz. Dann stand hier der Kleiderschrank, dahinter meine Matratze und ich hatte beide Lichter im Blick sozusagen. Total anders jetzt."

Während sie sich umsieht, lächelt sie. Heute lagert ein Rechtsanwaltskanzlei hunderte Ordner in dem Raum. Ihr gefällt, dass ihre Vergangenheit überschrieben wird. Andere an die NS-Verbrechen und ihre Geschichte erinnern, will sie, ja. Aber ewig Opfer sein? Nein, diese Rolle hat Rahel Mann immer abgelehnt.

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