Verstörend schön

Ein Familiengeheimnis steht im Mittelpunkt von Gerbrand Bakkers Roman "Oben ist es still": Der Ich-Erzähler Helmer führt einen Rachefeldzug gegen seinen Vater und erinnert sich stückchenweise daran, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Ganz behutsam legt der Autor das in Helmers Seele Verschüttete frei.
Dieser Roman beginnt mit einem Befreiungsschlag:

"Ich habe Vater nach oben geschafft."

Wie ein Möbelstück verfrachtet der Ich-Erzähler seinen bettlägerigen Vater ins zweite Stockwerk des seit Jahrzehnten gemeinsam bewohnten Hauses. Denn der Milchbauer Helmer van Wonderen hat nach 35 Jahren beschlossen, die Verhältnisse endlich auf den Kopf zu stellen. Sein Vater bildet in diesem Szenario die Ouvertüre.

Fortan wird das Vieh im Stall regelmäßiger versorgt als dieser. Von Zeit zu Zeit bekommt er zwar eine Schale mit Essen oder Wasser vorgesetzt, aber sein erbärmliches Rufen aus der unbeheizten Kammer bleibt meist ohne Resonanz.

Helmer van Wonderen führt einen späten Rachefeldzug, ohne dabei jedoch Zufriedenheit zu finden. Denn unter der rigiden Regie des Vaters hatte er ein fremdbestimmtes Leben zu führen und niemals den Mut gehabt, sich zu wehren. Die gestohlenen Jahre sind durch die eigene Schwäche verloren gegangen. Und die scharfen Blicke des fremden, alten Mannes sind noch immer stark genug, um die Handlungen des Sohnes zu durchkreuzen.

Erst nachdem Helmer alle beweglichen und sichtbaren Erinnerungsstücke beseitigt beziehungsweise zum Vater nach oben gebracht hat - das elterliche Schlafzimmer, den Frisiertisch der längst verstorbenen Mutter, Teppiche und Bilder -, ist der nötige Raum geschaffen, um auch die unsichtbaren Erinnerungen hervortreten zu lassen. Allmählich setzt sich eine Lawine in Bewegung, die das traumatisch Verschüttete ans Licht bringt.

Man erfährt, dass Helmer ein Zwilling ist, dessen Bruder Henk nicht nur die uneingeschränkte Zuneigung des Vaters erfuhr, sondern auch als alleiniger Erbe des stattlichen Anwesens vorgesehen war. Als Henk bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommt, muss Helmer, der in Amsterdam ein Studium der Niederländischen Sprach- und Literaturwissenschaft begonnen hatte, ungefragt diese Leerstelle ersetzen.

Seitdem hockt er "unter den Kühen" und ist dort "nie mehr weggekommen". Henks Freundin, die am Steuer saß, überlebte den Unfall. Als sie plötzlich Kontakt zu Helmer aufnimmt, fühlt sich dieser völlig aus der Bahn geworfen. Sie hatte bereits vor dem Unfall getrennt, was einst zusammengehörte: "zwei Jungen mit einem Körper".

Der niederländische Autor Gerbrand Bakker erweist sich in seinem Romandebüt als ein Meister des sprachlichen Minimalismus. Ein unterkühlter Ton beherrscht nicht nur die spärlichen Dialoge, die Helmer mit dem Vater, der Nachbarin oder dem Milchfahrer führt. Die tägliche Routine in der menschenleeren Landschaft des Waterlands hat seine Sprache auf skurrile Weise verkümmern lassen.

Es entstehen Sätze, die den Text brüchig erscheinen lassen und nicht ohne Komik sind:

"Wenn mich jemand sehen könnte, würde er denken, dass ich zu viert zu sein versuche, um nicht allein essen zu müssen"

oder:

"Sonderbarer Bauer in vorgerücktem Alter spricht vor offener Haustür laut mit Unsichtbarem."

Der Redefluss im Roman wird von den Personen in Gang gehalten, die sich zeitweilig in Helmers Nähe aufhalten und agieren. Doch indem Bakker die Handlungen seines Protagonisten immer wieder aus einer Außenperspektive spiegelt, ergibt sich eine zweite narrative Dimension im Text. Sie legt behutsam die unausgesprochenen Sehnsüchte und Ängste und somit Helmers verschüttete Sprache frei.

Gerbrand Bakker ist ein verstörend schöner Roman gelungen, der an eine künstlerische Forderung erinnert, die manchem gestrig erscheinen mag: Wahrhaftigkeit!

Rezensiert von Carola Wiemers

Gerbrand Bakker: Oben ist es still
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Suhrkamp Verlag 2008
316 Seiten, 19,80 Euro