Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Sie lebte zwölf Jahre in den USA. 1999 kehrte sie nach Berlin zurück, wo sie mit ihren beiden Söhnen heute lebt. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Nirgendwoher, irgendwohin". Danach folgten: "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich", "Westwärts, so weit es nur geht. Eine Landsuche" sowie "Herr Hübner und die sibirische Nachtigall". 2015 erhielt sie den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis.
Gehört der Islam zu Deutschland oder nicht?
Die Frage der Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland ist verstörend und kontraproduktiv, meint die Schriftstellerin Susanne Schädlich: Es mache keinen Sinn, eine ganze Gruppe von Menschen, die hier lebt und arbeitet, wegen ihres Glaubens pauschal auszugrenzen.
"Der Islam gehört zu Deutschland, der Islam gehört nicht zu Deutschland". Seit vier Jahren geistern diese beiden Sätze durch das Repertoire von Politikern und Publizisten wie ein Abzählreim: Er liebt mich, er liebt mich nicht.
Fadenscheinige Argumente
Für das Pro werden historisch-kulturelle Argumente herangezogen, die aber den Satz 'Der Islam gehöre zu Deutschland' nicht rechtfertigen: dass islamische bzw. islamisch-christliche Mathematiker, Mediziner, Geografen, Astronomen, Chemiker und so weiter ab etwa dem 8. Jahrhundert bis ins Mittelalter führend waren in den Wissenschaften, auf deren Erkenntnisse sich die Welt heute noch bezieht. Islamische Gelehrte beriefen sich dabei auf das Wissen der alten Griechen, übersetzten die Werke ins Arabische, erweiterten sie mit eigenen Entdeckungen und vermittelten sie schließlich nach Europa. Es fand ein Wissenstransfer statt. So einfach ist das. Und so normal ist das auch.
In der "Welt" konnte man kürzlich die jüngsten Blüten für die Beweisführung, der Islam gehöre zu Deutschland, lesen. Seit die Romantiker des 19. Jahrhunderts, dem Ruf Goethes nach einer Universalpoesie folgend, die Literatur des Orients ins Deutsche übersetzten - allen voran der Dichter Friedrich Rückert - er übertrug nicht nur Lyrik aus dem Arabischen und Persischen, sondern auch den Koran - gehöre der Islam zu Deutschland.
Wollte man das ernst nehmen, könnte man auch sagen: Weil deutsche und andere europäische Literatur ins Japanische oder Persische übersetzt wird, gehört das Christentum zu Japan oder zum Iran.
Wer gehört zu Deutschland: Muslime oder der Islam?
Der Historiker Michael Borgolte schlug in einem Interview noch einen anderen Weg ein: Viele Politiker argumentierten, dass zwar die Muslime zu Deutschland gehörten, nicht aber der Islam. Aus Sicht des Mittelalterhistorikers müsse er die Prioritäten umkehren: Nicht die Muslime gehörten zu Deutschland, aber der Islam gehöre zu den Fundamenten europäischer und deutscher Kultur.
Genau da ist der Knackpunkt:
Kanzlerin Merkel bemerkte einmal etwas verschwiemelt, "Ich glaube, dass der Bundespräsident" - es war noch Christian Wulff - "auf etwas hingewiesen hat, was aus meiner Sicht sehr wichtig ist: erstens, dass Deutschland durch die christlichen Wurzeln, durch die jüdischen Wurzeln geprägt ist, dass das unsere Geschichte ausmacht und, dass wir inzwischen natürlich Muslime in Deutschland haben." Muslime "haben" wir nicht erst "inzwischen" in Deutschland, sondern spätestens, seit sie als so genannte Gastarbeiter in die Bundesrepublik geholt wurden und blieben.
Eine reine Scheindiskussion
Ob, und wenn ja, inwieweit der Islam zu Deutschland gehört, ist nichts weiter als eine Scheindiskussion, mit der ständig Wasser auf die Mühlen derer geleitet wird, die vordergründig eine Religion, in Wirklichkeit jedoch Menschen muslimischen Glaubens für nicht dazugehörig befinden.
Nützlicher wäre es, die Kenntnis des Grundgesetzes aufzufrischen. Artikel 4, Absatz 1 und 2: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet", statt zu spalten und Projektionen zu befeuern, die sich mittlerweile auch auf diejenigen richten, die vor dem Islam in unsere freiheitlich rechtsstaatliche Ordnung geflüchtet sind.
Der Kategorische Imperativ des Ja oder Nein der Zugehörigkeit ist verstörend und kontraproduktiv, denn es wird eine ganze Gruppe von Menschen, die in Deutschland lebt und arbeitet, als keine Selbstverständlichkeit betrachtet, als partikulär behandelt und automatisch ausgegrenzt.
Mit dem einem Satz ‘Der Islam gehört zu Deutschland‘, wie dem anderen Satz ‘Der Islam gehört nicht zu Deutschland‘ muss endlich Schluss sein.
Bezugnehmend auf seinen Vorgänger bemerkte Bundespräsident Gauck 2012: "Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland."
Hätte. Hat er aber nicht. Doch genau so muss es heißen: Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland gehören zu Deutschland. Ein für alle Mal.