"Versuch, die Vergangenheit zu verstehen"
Trotz des Auseinanderbrechens von Jugoslawien ist er konsequent für die Beibehaltung des Vielvölkerstaates eingetreten: Dzevad Karahasan, 1953 im heutigen Bosnien-Herzegowina geboren. Sein neues Buch spielt 1991, also am Vorabend des Bürgerkriegs. Wie er sich seiner Heimat auch in seinem neuen Roman vergewissert, sagte er Sigried Wesener auf der Leipziger Buchmesse.
Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Gespräch:
Dzevad Karahasan: Ein unreflektiertes Dasein ist eigentlich kein menschenwürdiges Dasein. Ich muss verstehen, ich muss reflektieren, wie es dazu kam, dass ich auf einmal meinem Nachbarn, meinem gestrigen Freund oder Gespächspartner nicht mehr akzeptabel war. Das Buch ist ein ehrlicher, aufrichtiger Versuch, eben die unmittelbare Vergangenheit meines Landes zu verstehen.
Sigried Wesener: Im Mittelpunkt steht ein Arzt, Simon, der ein Vierteljahrhundert nicht in seinem Heimatland gelebt hat. Und er kehrt zurück an die Drina, in ein kleines Städtchen, und diese Heimat ist völlig verändert: Er versteht die Codes nicht mehr, er versteht nicht mehr, warum die Nachbarn sich abwenden, warum Menschen auf der Flucht sind, warum Lehrer plötzlich Uniformen tragen. Er steht quasi zwischen den Kulturen. Welche Chance hat denn der Einzelne zu widerstehen, sich zu widersetzen, wenn all die Sicherheiten, die man im Leben hat, und die man auch für sein Überleben braucht, wenn die wegfallen?
Karahasan: Er steht, er befindet sich an der Grenze: zwischen einer Welt im Westen, die immer noch funktioniert, die immer noch klare Formen hat, und einer anderen Welt seiner eigenen Vergangenheit, die bereits ihre Formen verliert. Ohne Form sind wir Menschen nicht imstande, etwas zu begreifen. Simon, mein Held, als einer, der an der Grenze steht, hat hinter sich eine Welt, in der alles klar, gut angeordnet war, eine Welt, die funktionierte, die klare Formen hatte. Er versucht aufgrund dieser Welt, aufgrund - gestatten Sie mir eine Vereinfachung - der Aufklärung, die Welt, in der er jetzt geht, oder in der er sich jetzt befindet, zu verstehen. Diese Welt aber hat ihre Formen schon verloren. Da hilft keine Logik mehr, beziehungsweise in der Welt, in seiner Geburtsstadt, findet er pure Romantik vor, Emotionen, schäumende Reden, Leute, die viel mehr am Irrationalen, am Unterbewussten hängen als an der Vernunft. Leute, die viel mehr das Mythische möchten als das Aufgeklärte.
Wesener: Und er wird hineingezogen in Situationen, die für ihn ja immer brenzliger werden, insofern ist dieser Roman ein Aufklärungsroman möglicherweise, ein philosophischer Roman. Aber er hat auch etwas von einem Thriller: Er gerät ja durchaus in Verdacht, Mörder zu sein. Ist diese Ambivalenz auch etwas, was Sie erlebt haben: Dass die Kluft zwischen denen, die weggegangen sind, und denen, die zurückgekommen sind beziehungsweise die immer geblieben sind in Sarajevo oder in den kleineren Städten, dass diese Kluft immer größer wird?
Karahasan: Das Schlimme ist an Kriegen ist eben, dass die Gesellschaft immer weiter zersplittert. Im Sommer 1991 waren wir alle immer noch Jugoslawen, 22 Millionen Menschen. Im Herbst 1991 waren wir schon Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier und so weiter. Heute fragt man sich, wenn ich nach Sarajewo zurückkomme, frage ich mich, ob ich überhaupt noch zu dieser Welt gehöre.
Das vollständige Gespräch mit Dzevad Karahasan können Sie für eine begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Player hören.
Dzevad Karahasan: Ein unreflektiertes Dasein ist eigentlich kein menschenwürdiges Dasein. Ich muss verstehen, ich muss reflektieren, wie es dazu kam, dass ich auf einmal meinem Nachbarn, meinem gestrigen Freund oder Gespächspartner nicht mehr akzeptabel war. Das Buch ist ein ehrlicher, aufrichtiger Versuch, eben die unmittelbare Vergangenheit meines Landes zu verstehen.
Sigried Wesener: Im Mittelpunkt steht ein Arzt, Simon, der ein Vierteljahrhundert nicht in seinem Heimatland gelebt hat. Und er kehrt zurück an die Drina, in ein kleines Städtchen, und diese Heimat ist völlig verändert: Er versteht die Codes nicht mehr, er versteht nicht mehr, warum die Nachbarn sich abwenden, warum Menschen auf der Flucht sind, warum Lehrer plötzlich Uniformen tragen. Er steht quasi zwischen den Kulturen. Welche Chance hat denn der Einzelne zu widerstehen, sich zu widersetzen, wenn all die Sicherheiten, die man im Leben hat, und die man auch für sein Überleben braucht, wenn die wegfallen?
Karahasan: Er steht, er befindet sich an der Grenze: zwischen einer Welt im Westen, die immer noch funktioniert, die immer noch klare Formen hat, und einer anderen Welt seiner eigenen Vergangenheit, die bereits ihre Formen verliert. Ohne Form sind wir Menschen nicht imstande, etwas zu begreifen. Simon, mein Held, als einer, der an der Grenze steht, hat hinter sich eine Welt, in der alles klar, gut angeordnet war, eine Welt, die funktionierte, die klare Formen hatte. Er versucht aufgrund dieser Welt, aufgrund - gestatten Sie mir eine Vereinfachung - der Aufklärung, die Welt, in der er jetzt geht, oder in der er sich jetzt befindet, zu verstehen. Diese Welt aber hat ihre Formen schon verloren. Da hilft keine Logik mehr, beziehungsweise in der Welt, in seiner Geburtsstadt, findet er pure Romantik vor, Emotionen, schäumende Reden, Leute, die viel mehr am Irrationalen, am Unterbewussten hängen als an der Vernunft. Leute, die viel mehr das Mythische möchten als das Aufgeklärte.
Wesener: Und er wird hineingezogen in Situationen, die für ihn ja immer brenzliger werden, insofern ist dieser Roman ein Aufklärungsroman möglicherweise, ein philosophischer Roman. Aber er hat auch etwas von einem Thriller: Er gerät ja durchaus in Verdacht, Mörder zu sein. Ist diese Ambivalenz auch etwas, was Sie erlebt haben: Dass die Kluft zwischen denen, die weggegangen sind, und denen, die zurückgekommen sind beziehungsweise die immer geblieben sind in Sarajevo oder in den kleineren Städten, dass diese Kluft immer größer wird?
Karahasan: Das Schlimme ist an Kriegen ist eben, dass die Gesellschaft immer weiter zersplittert. Im Sommer 1991 waren wir alle immer noch Jugoslawen, 22 Millionen Menschen. Im Herbst 1991 waren wir schon Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier und so weiter. Heute fragt man sich, wenn ich nach Sarajewo zurückkomme, frage ich mich, ob ich überhaupt noch zu dieser Welt gehöre.
Das vollständige Gespräch mit Dzevad Karahasan können Sie für eine begrenzte Zeit in unserem Audio-on-Demand-Player hören.