Verteidigung des Liberalismus

"Illiberale Demokratien" gibt es nicht

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Eine Luftaufnahme zeigt Menschen, die auf der mexikanischen Seite der amerikanisch-mexikanischen Grenze am Strand von Tijuana am Grenzzaun stehen.
Bürgerrechte sind ungleich verteilt: Die Luftaufnahme zeigt Menschen auf der mexikanischen Seite der Grenze zu den USA am Strand von Tijuana. © getty images / Mario Tama
Jan-Werner Müller im Gespräch mit René Aguigah |
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Von Populisten wird der Liberalismus häufig als "Elitenprojekt" geschmäht. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller weist diese Behauptung entschieden zurück: Gerade für die Schwachen und Verwundbaren garantiere er den Schutz der Grundrechte.
Bis vor kurzem hatte es den Anschein, die liberale Demokratie sei aus dem Kampf der Ideologien des 20. Jahrhunderts als Sieger hervorgegangen. Zumindest in den Staaten des Westens stellte nach 1945 kaum noch jemand zentrale liberale Werte wie die Akzeptanz von Grundrechten, den Schutz von Minderheiten oder das Prinzip der Gewaltenteilung grundsätzlich in Frage, sagt Jan-Werner Müller im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.

Autoritäre Staatschefs attackieren liberale Werte

Doch inzwischen habe sich die Situation verändert, und liberale Prinzipien würden offen in Frage gestellt, so Müller, der Politische Theorie an der Universität Princeton lehrt: Populistische Bewegungen brandmarken den Liberalismus als "kulturelles Elitenphänomen". Russlands Präsident Wladimir Putin bezeichnete "die liberale Idee" im Interview mit der Financial Times als "überholt". Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán kündigte bereits 2014 an, sein Land zu einer "illiberalen Demokratie" machen zu wollen.
Fatalerweise hätten politische Kommentatoren diesen Begriff inzwischen in ihre Analysen übernommen – ein schwerer Fehler, sagt Müller, "weil man damit den Orbáns dieser Welt den Begriff Demokratie überlässt und im Grunde ja zugesteht: Na ja, es ist schon noch Demokratie, halt nur die ‚illiberale Variante‘."
Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Princeton.
Ein offenes Ohr für Erfahrungen mit Machtmissbrauch und Willkür: Jan-Werner Müller wirbt für einen Liberalismus, der die Schwachen und Rechtlosen schützt.© Tor Birk Trads
In seinem Essay "Furcht und Freiheit" weist Jan-Werner Müller die Rede vom Liberalismus als einem "Elitenprojekt" zurück und macht sich für einen "anderen Liberalismus" stark, der den Schutz der Grundrechte gerade auch für "die Schwachen und Verwundbaren" garantiere.

Misstrauen gegenüber konzentrierter Macht

Müller erinnert an zwei Grundlinien des Liberalismus im 19. Jahrhundert. Auf der einen Seite habe dieser ein ethisches Ideal der Selbstvervollkommnung geprägt – im Sinne der Devise Wilhelm von Humboldts, ein Mensch solle sich so vielen Situationen wie möglich aussetzen, um all seine Talente und Charaktereigenschaften zu entfalten. Demgegenüber stand ein eher auf die gesellschaftliche Verfasstheit bezogenes Verständnis von Liberalismus "als eine Sache von Grundrechten, von Abwehr gegen Gefahren, die auch vom Staate ausgehen, und ein gehöriger Grad von Misstrauen gegenüber jeglicher Form von Machtkonzentration."
In seinem Essay knüpft Jan-Werner Müller an den "Liberalismus der Furcht" an, eine von der amerikanischen Politologin Judith Shklar geprägte Denkrichtung: "Shklar, die als Kind vor Nazis und Kommunisten aus Riga flüchtete, hat einen Liberalismus formuliert, der für gewisse Erfahrungen besonders sensibel sein und auch sensibel machen wollte."

Grausamkeit als Spektakel

Judith Shklar lag besonders daran, zu verhindern, "dass Menschen andere mit Grausamkeit behandeln", so Müller: "Sie sah diese Grausamkeit vor allem im Kontext der totalitären Erfahrungen im 20. Jahrhundert. Der Punkt ist aber nicht beschränkt auf diese historischen Erfahrungen. Wenn Sie sich anschauen, was an der Grenze zwischen den USA und Mexiko passiert, ist relativ klar, dass man nicht nur Leute grausam behandelt, sondern die Grausamkeit geradezu zum Spektakel macht, um zu sagen: Das schreckt dann die anderen ab."
Liberalismus nach Shklars Verständnis zielte "auf existenzielle Sicherheit, welche ein freies Leben nach eigenen Vorstellungen erst ermögliche", schreibt Müller in seinem Essay. "Daraus ergab sich ein praktischer Imperativ der Gleichbehandlung. Zudem müsse man ein offenes Ohr haben für Erzählungen von Furcht und Verletzungen."

Populisten legen falsche Fährten

An diesen Appell knüpft Jan-Werner Müller in seinem Versuch an, den Liberalismus neu zu positionieren. In der gegenwärtigen Diskussion kursierten zahlreiche falsche Alternativen, so Müller, da populistische Wortführer versuchten, "Sicherheit" gegen "Freiheit" auszuspielen oder ihr Verständnis von "Volk" gegen die angeblichen Interessen einer "globalen Elite".
Anstatt auf solche Ablenkungsmanöver einzugehen, gelte es, die Erfahrungen von Menschen ernst zu nehmen, die der Willkür von Mächtigen ausgesetzt seien, und Bewegungen für den Schutz von Grundrechten wie #MeToo oder Black Lives Matter nicht von vornherein "als Identitätspolitik" abzukanzeln, so Müller.
Die Bereitschaft, denjenigen zuzuhören, "die sich – aus welchen Gründen auch immer – als Opfer bezeichnen", sei "eine Forderung, die man auch an wachsame Bürgerinnen und Bürger stellen darf."
(fka)

Jan-Werner Müller: Für einen anderen Liberalismus
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019
171 Seiten, 16 Euro

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