Vertical-Video-Syndrom

Wenn Amateurvideos lang statt breit sind

Eine Person filmt mit dem Handy brennende Christbäume auf einem Scheiterhaufen bei Nacht.
Weil eine Hand ausreicht: Smartphone-Videos sind in der Regel hochkant. © dpa/ picture-alliance/ Benjamin Beytekin
Von Hartwig Tegeler · 03.11.2016
Bei Unfällen, Katastrophen, Terroranschlägen: Fast täglich nutzt das Fernsehen Amateuraufnahmen von Smartphone-Filmern, obwohl sie nicht recht auf den Bildschirm passen. Sie sind hochkant gefilmt, vertikal statt horizontal. Wirft das nur ästhetische Fragen auf oder geht es um mehr?
Kleines Selbst-Experiment: Nehmen Sie doch mal Ihr Smartphone zur Hand, um ein Filmchen aufzunehmen. Meinetwegen vom Kätzchen, das übers Sofa tobt. Wie halten Sie es, instinktiv? Eben! Hochkant.
Vier Finger der rechten, gerne auch der linken Hand, ergreifen dieses, ja, dieses Basisgerätes unseres Lebens; der Daumen "toucht" auf dem Screen die Kamera-App, wischt von Foto- auf Videofunktion, roten Knopf mit Daumen sanft drücken und ruckzuck: Kamera läuft! So entsteht das Vertikal-Video. Querformat, also horizontal halten, wäre viel komplizierter, würde länger dauern, bräuchte vielleicht gar zwei Hände und dann noch die Drehung.
Selbstverständlich bestimmen neue Medien die Wahrnehmung unserer Welt. Und verändern sie. Dadurch, dass wir auf Computertastaturen tippen, mit Mäusen klicken, über Touchscreens wischen oder eben mit schnellen, quasi aus der Hüfte geschossenen Smartphone-Clips hochkant die Umwelt aufnehmen. Weil: Die Geräte, die Gadgets, machen es problemlos möglich.

Wer immer nur filmt, entscheidet nicht mehr

Dass dieses Vertikal-Format, wie Kritiker sagen, eingeengt wirkt, sei zugegeben. Und man könnte - um auf dem Format-Argument noch rumzuhacken - auch mit einer gewissen Berechtigung sagen: Genau das entspringt ja wohl der Welt-Wahrnehmung all derjenigen, die aufgrund ihres permanenten Blicks aufs Smartphone ja sowieso eine verengte Welterfahrung haben. Mag sein.
Und es gibt Leute, die Essenseinladungen mit dem Zusatz verschicken, dass Smartphones an diesem Abend am Tisch nichts zu suchen haben. Denn, so das verständliche Argument: Es kann ja nichts schaden, sich bei der gemeinsamen Nahrungsaufnahme zu unterhalten und dabei ins Auge zu blicken.
Und wenn wir noch weiter digitale Kulturkritik betreiben mögen: Es wird kaum jemand aus eigener Erfahrung dem Hirnforscher Gerald Hüther widersprechen wollen, der - jenseits von "vertikal" oder "horizontal" - darauf hinweist, dass eine übermäßige Alltagsnutzung digitaler Medien es schwer macht, "das Wichtige vom Unwichtigen" zu unterscheiden. Um es im Extrembeispiel zu verdeutlichen: Der, der also am Unfallort ankommt und zuerst das Handy zückt und losfilmt, statt zu helfen, hat offensichtlich ein mediales wie ethisches Problem bei der Differenzierung zwischen wichtig und unwichtig.

Gegenöffentlichkeit dank Smartphone-Videos

Mag alles sein. Mag alles richtig sein. Doch die andere Seite der Medaille ist politisch und historisch schwerwiegender: Der Afroamerikaner, der die explodierende Polizeigewalt filmt, den Clip hochlädt, kann auf Basis des technischen Gerätes Smartphone eine Gegenöffentlichkeit in den USA praktizieren, die immerhin etwas gewährleistet, was vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre: Dass nämlich diese Art von gesellschaftlicher Gewalt nicht mehr im Verborgenen bleibt. Und die Vereinigten Staaten sind nur ein Ort, an dem so etwas nötig ist. Und wenn Vertikal-Video, bitteschön, auch das!
Am Ende, bei allen Entgleisungen und Unabwägbarkeiten, die die Smartphone-Mania ohne Frage an den Tag legt: Es überwiegt - ob horizontal, vertikal, ob aufgezeichnet oder live - die historisch-politische Chance, mittels dieser Form der Verbreitung von Informationen Gegenöffentlichkeit herzustellen. Im Politischen.
Und wie sieht's aus im Privaten? So wie neue Techniken neue Formen des Sozialen hervorbringen, so müssen diese Formen natürlich auch gelernt oder geübt werden. Was möglicherweise bedeutet, im Privaten eben: Abstinenz. Etwas nicht zu dokumentieren. Ein reifer, erwachsener Umgang mit den digitalen Medien bedeutet, auch in der "real world" etwas zu erleben - und erzählen Sie mir nicht, dass das so einfach wäre -, und kein Foto, keinen Film davon zu machen, sondern ein Bild in sich zu empfangen. Ohne technische Abbildung, egal ob vertikal oder horizontal, ganz im Sinne von "echt". Authentisch.

Hartwig Tegeler, geboren 1956 in Nordenham-Hoffe an der Unterweser, begann nach einem Studium der Germanistik und Politologie in Hamburg seine journalistische Arbeit bei einem Privatsender und arbeitet seit 1990 als Freier Hörfunk-Autor und -Regisseur in der ARD, schreibt Filmkritiken, Features und Reportagen.

Hartwig Tegeler
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