Vertrauen und Verrat

Von Otto Langels |
Der Untergang der DDR und des Ministeriums für Staatssicherheit bot die historisch einmalige Gelegenheit, Einblick zu gewinnen in die Welt der Spitzel und Spione. Doch nur wenige inoffizielle Mitarbeiter, die im Dienste der Stasi standen, sprechen 20 Jahre später offen über ihre Vergangenheit; darunter sind Christina Kanyarukiga und Helmut Teichmann. Warum wird jemand zum Spitzel? Welchen Preis ist man bereit zu zahlen? Gibt es moralische Grenzen des Verrats?
Kanyarukiga: "Ich bin 1977 von einem Offizier des MfS in Hoyerswerda angesprochen worden, gefragt worden: Bist du bereit, im Rahmen deiner Mitgliedschaft in der SED und auch deiner politischen Haltung für die Stärkung unseres Landes, unseres Staates, auch auf der Ebene der Informationsbeschaffung mitzuarbeiten? Da habe ich damals nicht drüber nachgedacht. Das war für mich ein Auftrag, eine politische Arbeit, es war selbstverständlich."
Teichmann: "In der Zeit meines Studiums kamen die Genossen von der Stasi. Ich war Teil der politischen Struktur. Und so habe ich es auch verstanden. Jeder Genosse hatte den Auftrag, diese Genossen von diesem Ministerium zu unterstützen. Und da brauchte man mir keinen Vortrag zu halten."

Vertrauen und Verrat. Über Macht, Moral und Überzeugungen von Stasi-Spitzeln. Eine Sendung von Otto Langels

Christina Kanyarukiga war 26 Jahre alt, Helmut Teichmann 33, als Offiziere des Ministeriums für Staatssicherheit sie als Spitzel anwerben wollten. Aus Überzeugung wurden sie IM, inoffizielle Mitarbeiter der Stasi.

Kanyarukiga und Teichmann sind zwei von insgesamt 620.000 inoffiziellen Mitarbeitern, die im Laufe von 40 Jahren DDR für das MfS, das Ministerium für Staatssicherheit spionierten. Beide waren zunächst überzeugt, das Richtige zu tun, ihr Doppelleben im Dienste der Stasi führte dann aber zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen.

Führte das MfS anfangs nur 5200 Stasi-Spitzel, so wuchs ihre Zahl bis 1989 auf knapp 190.000, am Schluss betreut von ca. 12.000 operativen Mitarbeitern. Doch nur wenige sind selbst fast 20 Jahre nach dem Untergang der DDR bereit, über ihre IM-Tätigkeit zu sprechen.

Vor Jahren drehte der Fernsehjournalist Christhard Läpple eine Dokumentation über das ZDF im Visier der Stasi. Im Zuge seiner Recherchen, die er auch in einem Buch unter dem Titel "Verrat verjährt nicht" veröffentlichte, versuchte er Kontakt zu einer Vielzahl von Stasi-Spitzeln aufzunehmen. Aber die meisten zogen es vor zu schweigen. Wer redet schon gerne über Verrat?

Läpple: "Es gibt ein Schweigen aus Trotz, weil man es damals für richtig hielt. Es gibt sicherlich ein Schweigen aus Scham, weil man versucht hat, dieses zu überwinden bzw. sich damit auseinanderzusetzen, aber diesen Prozess nicht nach außen zu tragen. Und dann gibt es sicherlich auch dieses Schweigen aus Berechnung oder Opportunismus. Also ich glaube schon, dass die Besonderheit unseres Landes darin besteht, dass es eine große Zuschauermenge gibt, also von Westdeutschen – nenne ich sie mal -, die praktisch sich dieses Schauspiel angeschaut haben, wie demokratisieren wir eine Gesellschaft.

Und dadurch entstand natürlich ein öffentlicher Raum, in dem es schwer fällt, sich öffentlich zu bekennen. Das ist sicherlich eine Sondersituation, die es in Polen, in Ungarn, in anderen vergleichbaren Ländern oder auch in Spanien, in Argentinien, also immer nach dem Ende einer Diktatur, nicht gegeben hat."

Ende 1950 wird Christina Kanyarukiga in einem kleinen Ort in der Niederlausitz geboren, als ältestes von sechs Kindern. Sie empfindet Dankbarkeit gegenüber dem Arbeiter- und Bauernstaat, der ihr trotz ihrer Herkunft aus einfachen Verhältnissen den Besuch der erweiterten Oberschule und Universität ermöglicht.

Kanyarukiga: "Für mich war immer klar, ich möchte nicht nur einfach leben, sondern ich wollte auch immer einem Ideal folgen. Und ich hatte ein Ideal, und das war für mich schon, meinen Staat weiter zu stärken, meinen Staat zu demokratisieren, meinen Staat so zu gestalten, wie wir glaubten, dass es der bessere deutsche Staat wird."

Geradezu selbstverständlich tritt sie der sozialistischen Jugendorganisation FDJ bei und wird im Alter von 19 Jahren Mitglied der SED. Nach dem Studium arbeitet sie als Lehrerin.
Dann steht eines Tages der Stasi-Offizier vor der Tür.

Kanyarukiga: "Ihr habt interessante Freunde in Österreich, du bist ja auch jemand, der sich politisch engagiert, wie siehst du das? Würdest du bereit sein, hier in deinem Bereich, in der Lehrerschaft usw. Informationen zu sammeln, die wichtig wären, um Einschätzungen vorzunehmen?"
Sie stellte unter Beweis, dass sie in der Lage ist, unter Anwendung operativer Legende, schöpferisch aktiv an Personen zu arbeiten.

Schreibt im November 1978 ein Führungsoffizier in bürokratischer Amtssprache in einem Bericht über "IM Swantje", so der Deckname von Christina Kanyarukiga.

Im Treffgespräch zeigt sie immer wieder ein hohes Maß politischen Verantwortungsbewusstseins für unseren Staat. Swantje bekam zunehmend durch Aufzeigen der hinterhältigen Machenschaften der imperialistischen Geheimdienste gegen die sozialistischen Staaten einen gesunden Hass auf die imperialistischen Feindorgane.

Läpple: "Ich habe viele viele tausende Akten gesehen, in denen immer wieder dieser Appell an den Gemeinsinn, an die Bereitschaft, das Land zu schützen, zu verteidigen vor fremden Mächten, vor Feinden, dass an diese patriotische Gesinnung appelliert worden ist, so dass es damals hieß, du tust deine staatsbürgerliche Pflicht, wenn du den Staatsorganen hilfst."

So erklärt Christhard Läpple die Bereitschaft vieler DDR-Bürger, für ihren Staat zu spitzeln.
Das Netz der Informanten war flächendeckend. Hatte während der NS-Zeit die Gestapo einen Spitzel pro 10.000 Einwohner im Einsatz, so kam in der DDR in den Achtzigerjahren ein IM auf 90 Einwohner. Allerdings war nicht – wie häufig vermutet - die Neigung zu Verrat und Denunziation in der DDR ausgeprägter als in anderen osteuropäischen Ländern. Wie viele Informanten für den bundesdeutschen Verfassungsschutz tätig waren oder sind, ist nicht bekannt. Die Bewahrung und Öffnung der Stasi-Archive nach dem Untergang der DDR bot die historisch einmalige Gelegenheit, detaillierte Einblicke in das Innenleben eines Geheimdienstes zu gewinnen.

Helmut Teichmann wächst in den Fünfzigerjahren in einem durch Krieg und Vertreibung nachhaltig geprägten Elternhaus auf. Als 17-Jähriger will er mit einem selbst verfassten Flugblatt gegen das Verbot protestieren, westliche Beatmusik zu hören.

Teichmann: "Soweit kam es gar nicht, da war die Polizei und die Stasi schneller. Ich wurde dann in der Straße verhaftet. Das war für mich eine ganz schwere Zeit, von den eigenen Genossen verhaftet zu werden, das waren ja meine Genossen."

Vor zehn Jahren erlitt Helmut Teichmann einen Schlaganfall, deshalb fällt ihm das Sprechen schwer.

1965 wird er nach mehrwöchiger Haft zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Doch das harte Vorgehen der Staatsmacht verstärkt nicht, wie man vermuten könnte, die oppositionelle Einstellung des Jugendlichen. Es folgen zwölf Jahre als hauptamtlicher Funktionär der Freien Deutschen Jugend sowie das Studium der Philosophie mit anschließender Promotion und Habilitation. Seiner akademischen Laufbahn schadet es sicher nicht, dass er während des Studiums dem Ruf der Stasi folgt und dem MfS fortan als IM "Albin Wittwer" treu dient.

Teichmann: "Man muss es wollen, nur auf Befehl geht das nicht. Man braucht auch die richtigen Motive. Ich habe es immer so empfunden, dass die Genossen des Ministeriums mehr bereit waren, auf die Fakten zu hören als die Genossen in der Partei."

Staadt: "Es gibt einen bestimmten Prozentsatz von wirklichen Überzeugungstätern, die aus Überzeugung der Meinung waren, sie müssen das Vordringen des Klassenfeinds in der sozialistischen Gesellschaft verhindern und es deswegen gemacht haben."

Erklärt der Stasi-Experte Jochen Staadt, Mitarbeiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin:

Staadt: "Und es gibt wenige Fälle von Erpressung, sehr wenige Fälle, im Gegensatz zu manch öffentlicher Behauptung. Denn eine solche Geheimpolizei kann schlecht mit Leuten arbeiten, die das nur widerwillig tun. Deswegen haben sie meistens, wenn sie festgestellt haben, jemand berichtet falsch oder entzieht sich Treffen, haben sie das auch eingestellt."

Läpple: "Natürlich sind überzeugte Kommunisten relativ schnell zu gewinnen, sie sind aber meistens schlechte Spione. Viel interessanter ist natürlich die Frage, warum es innerhalb des Familienkreises passieren konnte, warum es innerhalb von Kollegen und von Freunden passieren konnte. Man wird ja zum Teil der Macht, man hat das Gefühl, als kleines Rad im großen Rad mit zu drehen. Und das ist sozusagen dieses Geschäft auf Gegenseitigkeit. Der Staat gibt einem ein Stück Gefühl, bedeutend zu sein, gebraucht zu werden, wichtig zu sein. Dafür kann man sich ein Stück weit erhöhen."

Ergänzt der Autor Christhard Läpple.

Zunächst gibt der stark betonte Ausschluss aller Draußenstehenden ein entsprechend stark betontes Eigentumsgefühl.

Schreibt der Philosoph und Soziologe Georg Simmel in seiner sozialpsychologischen Studie über das Geheimnis aus dem Jahr 1907.

Das Geheimnis gibt der Persönlichkeit eine Ausnahmestellung, es wirkt als ein sozial bestimmter Reiz, der von seinem jeweiligen Inhalt prinzipiell unabhängig ist, aber natürlich in dem Maße steigt, in dem das besessene Geheimnis bedeutsam und umfassend ist.
Nachdem Christina Kanyarukiga sich als IM in der DDR bewährt hat, beschließen ihre Führungsoffiziere, sie als "Kundschafter des Friedens" in die Bundesrepublik zu schicken. Ende 1981 reist Christina Kanyarukiga in den Westen - als eine von 12.000 Stasispitzeln insgesamt, die das MfS in die Bundesrepublik einschleuste.

An der Universität Gießen wird die promovierte Historikerin Mitarbeiterin des Instituts für Geschichtsdidaktik. Sie lernt den damals noch weitgehend unbekannten Guido Knopp vom ZDF kennen sowie die renommierten Publizisten Klaus Harpprecht und Sebastian Haffner. "IM Swantje" hat Zugang gefunden zu einflussreichen Personen, aber was sie an Informationen notiert, ist eher banal. Ein- bis zweimal im Jahr fährt sie nach Leipzig, um ihren Führungsoffizieren Bericht zu erstatten. Doch die sind unzufrieden, weil sie kein brisantes Material liefert.

Kanyarukiga: "Ich hätte niemals irgendwelche Informationen beschafft im Bett oder auf so einer Ebene, wo es wirklich um Intimitäten und so weit geht. In bestimmte private Sphären bin ich ja bewusst nicht hinein gegangen, oder ich habe bestimmte Informationen, die privat waren, die auch vielleicht delikat waren, die habe ich nicht weiter gegeben. Und das war auch für mich der wichtigste Punkt, ich musste es mit mir vereinbaren können, ich musste es moralisch vertreten können vor mir selber."

Staadt: "Es gab inoffizielle Mitarbeiter, vor allem bei denen, muss man sagen, die auch sehr stark auf die Moral des sogenannten Marxismus-Leninismus achteten, die beispielsweise ihren Führungsoffizieren dann erklärt haben, sie werden nicht über bestimmte Personen aus ihrem Umfeld berichten, sondern nur über solche, von denen sie glauben, dass sie dem Sozialismus schaden, dass sie dem Klassenfeind helfen, in die DDR einzudringen, also es gab Leute, die klare Grenzen gezogen haben, und das auch mit ihrem politischen Anspruch nicht vereinbaren konnten, private Dinge zu berichten.

Und das Erstaunliche ist eben, dass das möglich war, dass die Stasi-Offiziere, die Führungsoffiziere dann, um diese Kontaktbeziehung aufrecht zu erhalten, auch diese Grenzen akzeptiert haben. Es gab aber auch Leute, die skrupellos über alles berichtet haben, was sie über Nachbarn, Freunde, ihr Umfeld herauskriegen konnten, oder sogar über Familienangehörige berichtet haben."

Erklärt der Stasi-Experte Jochen Staadt.

Zu denen, die keine moralischen Bedenken kennen und in ihren Berichten bereitwillig intime Details weitergeben, gehört Helmut Teichmann.

Allgemeiner Eindruck während des ersten Treffens: Sie macht einen sexuell übersättigten Eindruck auf mich, was nicht unbedingt bedeutet, dass ihr Dasein von sexueller Harmonie geprägt ist. Die Wohnung ist stilvoll, aber leger eingerichtet. Auffallend für mich war die Vielzahl von angebrochenen Spirituosenflaschen, die an mehreren Stellen des Wohnzimmers auf dem Fußboden anzutreffen waren.

Teichmann: "Gucken Sie sich die Geschichte der Geheimdienste an, was kann man besser haben als etwas Intimes. War schon immer so. Also du bekommst einen Auftrag, und der Auftrag geht davon aus, von dieser Person brauchen wir Informationen, für was, das weiß man nicht. So ist das eben. Bei geheimdienstlichen Tätigkeiten geht es nicht darum, ob man jemandem geschadet hat oder nicht, den Auftrag muss man erfüllen. Die große Frage ist, wer ist denn der Feind?"

Bei einem "richtigen Feind", so Helmut Teichmann, habe er nie Bedenken gehabt, auch intime Details aus seinem Umfeld an die Stasi weiterzugeben. Woher aber wusste IM Albin Wittwer, ob er einen richtigen Feind vor sich hatte?

Teichmann: "Das ist ein Problem. Das weiß kein Spion. Der muss immer sich darauf verlassen, was die anderen Offiziere ihm sagen. Da gibt es Festlegungen, und die musst du erfüllen. Andere haben das Recht, einen Auftrag dir zu geben, und du hast nicht das Recht, den zu hinterfragen."

Warum eigentlich nicht? Helmut Teichmann hätte nein sagen und klare Grenzen ziehen können.
Heute stellt der ehemalige IM grundsätzliche Überlegungen zu Geheimnis und Verrat, Wahrheit und Lüge an, um sein früheres Handeln zu rechtfertigen. Der Philosophie-Professor Helmut Teichmann erklärt den Verrat zu einer soziologischen Kategorie, auf die jede Gesellschaft angewiesen sei. Er bezieht sich dabei auf Georg Simmels sozialpsychologische Studie über das Geheimnis:

Das Geheimnis, das durch positive oder negative Mittel getragene Verbergen von Wirklichkeiten, ist eine der größten geistigen Errungenschaften der Menschheit. Das Geheimnis bietet sozusagen die Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren, und diese wird von jener aufs stärkste beeinflusst. Das Geheimnis ist getragen von dem Bewusstsein, es verraten zu können und damit die Macht zu Schicksalswendungen und Überraschungen, zu Freuden und Zerstörungen in der Hand zu haben.

Teichmann: "Das kann man nicht nur negativ sehen, das Geheimnis und auch den Verrat. Der Verräter ist auf der anderen Seite der große Held. Die meisten guten Spione muss man nicht überreden. Sie haben etwas Besonderes, Wissen usw., haben die Möglichkeit, an Geheimnisse ranzukommen, und dann haben sie Vorstellungen, was man mit diesen Geheimnissen machen könnte. Gutes und weniger Gutes."

Verräter, das sind die andern. Für einen Verräter will niemand gelten, schreibt Hans Magnus Enzensberger in seiner Theorie des Verrats. Aber unter gewissen historischen Bedingungen könne jedermann zum Verräter werden.

Aus Verrätern bestand beispielsweise die gesamte Bevölkerung von Norwegen, Holland, Frankreich, Griechenland und Jugoslawien während der deutschen Okkupation dieser Länder; gleichgültig, welche Regierung jeder Einzelne als die seine ansah, es war jeweils eine andere vorhanden, in deren Augen er Verrat beging. Ähnlich spiegelbildliche Zwangs-Situationen ergeben sich in allen geteilten Ländern, wie zum Beispiel in Deutschland.

Läpple: "Es gibt in Deutschland ein wunderbares Sprichwort dafür, man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter. Freisler hat die Widerstandskämpfer des 20. Juli im Prozess als Hochverräter bezeichnet. 20, 30, 40 Jahre später bezeichnen wir diese Menschen als Helden. D. h. es ist immer abhängig im Kontext der jeweiligen Zeit, wie man Menschen sieht. Dazu kommt, dass ja damals in der DDR dies nicht als Verrat betrachtet worden ist, sondern als Beistand, als patriotische Pflicht."

Spitzel gehören nicht nur zum Inventar von Diktaturen, sondern auch zum Arsenal demokratischer Gesellschaften, um zum Beispiel notwendige Informationen aus dem Innenleben extremistischer oder terroristischer Organisationen zu bekommen. Wer diese Aufgabe übernimmt, wird zwangsläufig zum Lügner und Verräter. Ob jemand dazu bereit ist und wie weit er dabei geht, ist, dies zeigt das Beispiel Christina Kanyarukigas, eine subjektive Entscheidung.

Kanyarukiga: "Dass ich in einem politischen Prozess aus der Sicht der anderen Verrat begehe, wenn ich für den politischen Gegner arbeite, das muss ich akzeptieren, das gehört zu den Spielregeln des politischen Arbeitens. Und das muss für mich noch lange nicht heißen, dass ich mich als Verräterin sehe. Aber ich denke, jeder Mensch muss entscheiden, an welchem Punkt seines Handelns er auch für sich selbst zum Verräter wird, entweder seiner Überzeugung oder eben auch seiner Moral und Ethik.

Ich habe nie meine moralischen Grenzen überschritten. Ich muss wissen, wofür tue ich das. Ich verrate Menschen, ich belüge Menschen, das ist aber der Preis, um den ich Kundschafterin oder Agentin bin. Und dass Staaten mit Geheimdiensten arbeiten, das wissen wir ja. Und dass die Menschen nicht anders arbeiten können, das wissen wir auch. Aber es muss Grenzen geben, und was ich heute weiß, es muss auch eine Kontrolle geben."

Je länger Christina Kanyarukiga im Westen lebt, umso mehr zweifelt sie am Sinn ihres Auftrags. Die Bundesrepublik entspricht nicht dem Zerrbild, das die DDR-Propaganda ihr vermittelt hat. Sie nimmt Zwischentöne in der westdeutschen Gesellschaft wahr.

Kanyarukiga: "Mir imponierte diese Persönlichkeit, dieser Mut, sich zu äußern, und zwar ohne diese politischen Hülsen, das ist mir sofort aufgefallen. Das musste ich aber verheimlichen, das konnte ich ihnen nicht zurückmelden, aber das war das, was der Beginn war meines Nachdenkens über das Ziel."

Treffbericht "IM Swantje", 7.11.1984. Das Treffgespräch erbrachte im politisch-ideologischen Bereich eine Reihe von Problemen, bei denen "Swantje" Unklarheiten hinsichtlich der Innen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR erkennen ließ bzw. die zeigen, dass sie teilweise von BRD-Medien verbreitete Klischeevorstellungen übernommen hat.

Die Zweifel wachsen, ob sie weiter für die Stasi spionieren soll. Die Distanz zwischen Christina und "IM Swantje" nimmt zu, die Skepsis gegenüber der DDR wird größer.

Kanyarukiga: "Dann kam immer weiter dieses Nachdenken darüber, ist es wirklich wahr, dass wir das bessere Deutschland verkörpern. Wie kann ein Staat seine eigenen Bürger so demütigen, so behandeln, der sich moralisch auch überlegen fühlt?"

Staadt: "Es gibt die Feststellung, dass die Versprechen, die gemacht worden sind über den Aufbau des Sozialismus, über die bessere Entwicklung der DDR, über den kommenden Aufschwung, über Konsumgüterproduktion, die sich verbessern würde, also die Enttäuschung der Erwartungen dazu führte, dass die ideologische Überzeugung zerbrach."

Speziell wurde auf den Widerspruch zwischen verbalen Bereitschaftserklärungen und praktischen fehlenden Resultaten eingegangen.

Heißt es im Treffbericht des Führungsoffiziers vom März 1988 über IM "Swantje".

Es zeigten sich tiefe ideologische Unklarheiten nicht nur hinsichtlich des Verständnisses ihrer Rolle im Operationsgebiet, sondern auch in prinzipiellen Fragen der Gestaltung des entwickelten Sozialismus. So behauptete sie zum Beispiel die Notwendigkeit der Öffnung der DDR-Medien für "Dissidenten".
Im Sommer 1988 beendet Christina Kanyarukiga die Zusammenarbeit mit der Stasi. Obwohl sie damit rechnen muss, verhaftet zu werden, fährt sie ein letztes Mal in die DDR, um ihre Führungsoffiziere zu treffen. Und das Erstaunliche ist: Die Stasi behelligt sie nicht weiter. Keine Festnahme, keine Sanktionen. Niemand hält sie in Ost-Berlin am Grenzübergang auf.

Die einzige Reaktion aus der DDR: Die abtrünnige Kundschafterin des Friedens wird aus der SED ausgeschlossen "aufgrund ihrer" – so die Begründung – "Entfernung von den politisch-ideologischen Positionen der Partei".

Staadt: "Es gibt viele Fälle von Aussteigern, von Ausstiegen, wo IMs erklärt haben, dass sie das nicht mehr können und nicht mehr wollen, oder dass sie auch nicht mehr davon überzeugt sind. Und das ist eben das Erstaunliche, wenn heute von solchen ehemaligen IMs behauptet wird, sie konnten nicht anders. Man konnte anders."

Während Christina Kanyarukiga im Westen Abstand von der Stasi gewinnt, ist Helmut Teichmann im Osten weiterhin in seinem beruflichen Umfeld an der Hochschule als IM aktiv. Noch im Sommer 1989, kurz vor dem Untergang des SED-Regimes, kommt er gewissenhaft seinen IM-Pflichten nach. Als sich DDR-Bürger bereits massenhaft über Ungarn auf den Weg in den Westen aufmachen, verrät er die Fluchtpläne einer Bibliothekarin seiner Hochschule an die Stasi. Helmut Teichmann ist bis zuletzt ein treuer Diener des MfS.

Persönliche Schuldgefühle empfindet er heute nicht.

Teichmann: "Das große Schuldgefühl ist, dass wir es nicht verstanden haben, einen Sozialismus zu machen, der demokratisch ist. Die Geheimdienste sind immer nur das Spiegelbild der Gesellschaft, sie können nicht anders sein als die Gesellschaft. Und leider hat sich bisher keine Gesellschaft dazu durchgerungen, ohne Geheimdienste zu bestehen."

Helmut Teichmann verweist auf die Geheimdienste in anderen Ländern, um das Vorgehen der Stasi zu rechtfertigen. Gehörten illegale Methoden, Lüge und Verrat nicht zum Handwerkszeug jeder Spionageorganisation, auch in der Bundesrepublik?

Jochen Staadt: "Generell würde ich dazu sagen, dass die Aufgaben der Leute, die für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet haben oder auch die für den Verfassungsschutz im Inland gearbeitet haben, andere waren als die von Stasispitzeln. Wenn man die Unterlagen da, wo man sie vergleichen kann – in einigen Fällen kann man das ja - sich anschaut, dann sieht man, dass beispielsweise diese persönlichen Bespitzelungen, diese Berichte über Intimsphären, über ganz unbedeutende Dinge, ob jemand trinkt oder nicht trinkt, welche Freunde er hat, also diese Dinge spielen für die westlichen Dienste keine Rolle oder nur in Ausnahmefällen eine Rolle, aber nicht in der flächendeckenden Art und Weise, wie das im Stasi-Unterlagenarchiv zu sehen ist."

Wie eine bittere Ironie des Schicksals wirkt es, dass Helmut Teichmann im Jahr 2000 im Alter von 52 Jahren ein Schlaganfall trifft. Ein Mann, in dessen Leben das Geheimnis und das Schweigen eine so große Rolle spielen, ist über Nacht gelähmt und hat die Sprache verloren. Mühsam muss er früher selbstverständliche Körperfunktionen wie Laufen und Reden wieder erlernen.

Lange Zeit interessiert sich niemand für "Albin Wittwer" und "Swantje", dann stößt der Journalist Christhard Läpple im Zuge seiner Recherchen auf ihre IM-Akten. Während Helmut Teichmann, der nach der Wende vorübergehend selbst als Journalist für verschiedene West-Medien gearbeitet hat, nach Ausflüchten sucht, stellt sich Christina Kanyarukiga ihrer Vergangenheit.

Teichmann: "Wenn ich weiß, dass etwas nicht der Wahrheit entsprach, dann bin ich auch sehr bereit, mich zu entschuldigen. Aber ich habe leider nicht die Möglichkeit, ich würde es gerne machen, meine Arbeit noch mal zu beurteilen."

Kanyarukiga: "Ich weiß im Nachhinein, dass es gut war, dass Läpple aufgetaucht ist und dass ich mich noch mal neu stellen musste. Ich bin jetzt mit mir klarer. "Swantje" gehört zu meinem Leben, und ich muss sie nicht mehr unterm Deckel halten, weil viele wissen das, nicht alle, das ist auch klar. Ich hab dann versucht, mit allen zumindest zu telefonieren und zu sprechen, und habe dann mehr oder weniger von allen die Entschuldigung angenommen bekommen. Aus ihrer Sicht habe ich sie missbraucht, weil ich habe ihnen nicht gesagt, dass da nicht nur Christina Kanyarukiga mit ihnen spricht, sondern dass es da noch eine "Swantje" gibt. Aus meiner Sicht war es unmöglich, das zu veröffentlichen. Aber das war der Preis, um den ich das gemacht habe. Und ich wusste das."
Das Bemerkenswerte an Christina Kanyarukigas Fall ist, dass sie im doppelten Sinn zur Verräterin wurde: Sie hat, um für die Stasi zu spionieren, die Nähe von Menschen gesucht und deren Vertrauen missbraucht. Aber aufgrund ihrer Erfahrungen im Westen hat sie in den Augen hartgesottener Geheimdienstapologeten auch ihren Staat und das Ministerium für Staatssicherheit verraten.

Kanyarukiga: "Das war meine Heimat, das war mein Staat. Viele von uns, die haben lange, lange Zeit geglaubt, wir schaffen das irgendwann, aber im Moment noch nicht. Das waren für uns nicht nur Formeln. Wenn Menschen im Westen das hören, dann sagen sie, wie kann man sich so einwickeln lassen. Das war aber unsere Sozialisation. Für einen Menschen, der anders sozialisiert wurde, für den mag das unvorstellbar sein.
Was mich heute maßlos entsetzt, ist die Art und Weise, wie man mit Menschen umgegangen ist, die in der Macht des Staates waren, die im Gefängnis saßen, wie man die Würde dieser Menschen wirklich missachtet hat. Meine Güte, dafür sind wir nicht angetreten, wirklich nicht, mit welchen Methoden, wirklich diesen Methoden der Gestapo, das war für uns moralisch verwerflich. Da hatten wir uns doch mal verständigt, das "Nie wieder!". Da kann ich nur sagen, dafür schäme ich mich."
Im Jubiläumsjahr des Mauerfalls von 1989 könnte Christina Kanyarukigas Umgang mit der eigenen Stasi-Vergangenheit als Beispiel dienen, dass die Annäherung an ein heikles Kapitel deutsch-deutscher Geschichte nicht zwangsläufig in vorschnelle Urteile, billige Ausflüchte und einseitige Vorwürfe münden muss. Denn – wie der Fall des West-Berliner Kriminalrats Kurras erst kürzlich gezeigt hat: Das Dilemma von Vertrauen und Verrat ist nicht allein ein DDR-Problem, sondern ein doppelbödiges, noch lange nicht restlos aufgeklärtes deutsch-deutsches Phänomen.

Läpple: "Wir haben ja eine einmalige Situation in der Welt. Wir haben uns die größte Aufarbeitungsbehörde der Welt geleistet mit einem richtigen Apparat, der Birthler-Behörde. Wir haben uns für diesen Weg entschieden, und dadurch sind ja auch Millionen Vorgänge geschaffen worden. Das ist ja auch eine wichtige und wesentliche Botschaft. Das ist uns gelungen. Wir sind aber ein Stück weit stecken geblieben.

Der zweite Schritt, die Auseinandersetzung, das Gespräch, die Offenheit, auch die Frage, was heißt denn politische Denunziation, das Einbinden in ein solches System, das ist nicht mehr geschafft worden, dafür hat die Kraft gefehlt. Vielleicht kommt es in zehn, 20 Jahren, vielleicht ist es eine Aufgabe für die nächste Generation."

Kanyarukiga: "Ich wünsche mir wirklich eine Auseinandersetzung, in der aber sensibler zugehört wird, aufeinander zugegangen wird und versucht wird, nachzuvollziehen, was ist da passiert, wie sind Menschen da hingekommen, und wenn sie das gemacht haben, wie sehen sie es heute. Und sie einladen, sich zu äußern und nicht zu schweigen und abzutauchen. Viel verletzender ist das heutige Schweigen, das heute-noch-Ignorieren, nein, das bin ich nicht, obwohl aus den Akten viele Fakten dafür sprechen, dass das ein Informant war.
Und ich denke, das ist viel schlimmer, dieses nach wie vor unter dem Deckel halten wollen, koste es, was es wolle. Und koste es eine zweite Chance. Denn darüber reden heißt ja auch, einander näherkommen, sich erklären und eventuell sogar einen Konsens finden, wie es weiter geht."