Vertreibung

Ein Dorf in der Kirche

Ehemalige Ikriter der ersten und dritten Generation vor der Dorfkirche
Die ehemaligen Bewohner von Ikrit leben in ganz Galiläa verstreut. © Igal Avidan
Von Igal Avidan |
Ikrit ist ein christliches Dorf in Galiläa, der Heimat Jesu – aber der Begriff Dorf trifft die Sache nicht wirklich. Denn das Dorf besteht eigentlich nur noch aus einer Kirche. Sie ist zum Kern des Kampfes um eine Rückkehr geworden.
Die Kirche der Heiligen Mirjam stand einmal im Dorf Ikrit im Norden Israels. Dort steht sie immer noch. Und obwohl das Dorf abgerissen wurde, lebt die Dorfgemeinschaft, die in Galiläa verstreut wohnt, fort, und kämpft um ihre Rückkehr. Der 52-jährige Computer-Ingenieur Nemi Ashkar, Sohn eines Vertriebenen, ist Vorsitzender des Ikrit-Vereins:
"Ikrit ist unsere Lebensart. Unsere Gemeinde dreht sich um diesen Ort und um diese Kirche und den Friedhof. Obwohl wir an verschiedenen Orten im Norden leben, bleiben wir eine vereinte Gemeinschaft, die zusammen für die Rückkehr und für die Rückgabe der Rechte kämpft, die unseren Eltern im November 1948 weggenommen wurden."
Während Israels Unabhängigkeitskrieg von 1948 verloren die allermeisten Palästinenser ihre Heimat - durch Flucht oder Vertreibung - und wurden Flüchtlinge in den benachbarten arabischen Staaten. 40.000 Palästinenser hingegen wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land.
Dorf wurde militärisches Sperrgebiet
Das griechisch-katholische Dorf Ikrit war ein Sonderfall. Denn eine Woche nach dem Einmarsch der israelischen Truppen und der Kapitulation der Ikriter wurden die 600 Bewohner gedrängt, ihr Dorf vorläufig zu verlassen, bis sich die Lage in dieser Grenzregion stabilisiert. Aber nach neun Monaten erklärte die Armee das Dorf zum militärischen Sperrgebiet. Die Bewohner der benachbarten christlichen Dörfer Ikrit und Bir’am klagten vor dem Obersten Gericht Israels. Dieses ordnete 1951 dem Verteidigungsminister an:
"Die Rückkehr der Bewohner in ihre Dörfer zu gestatten, vorausgesetzt, dass die Sicherheitslage das ermöglicht."
sagt Vater Souhail Khoury, der Geistliche für Ikrit und ebenfalls Sohn von Vertriebenen. Aber wohin sollten die Ikriter zurückkehren?
"Im gleichen Jahr, am Vorabend des Weihnachtsfestes, zerstörte die Armee alle Gebäude im Dorf – mit Ausnahme der Kirche."
Die Bewohner durften zurück - wenn sie tot waren
Das Land des Dorfes wurde enteignet. Die Ikriter, die wie alle arabischen Israelis unter Militärregime lebten, waren machtlos. Erst ab Oktober 1967 durften sie ihr Dorf Ikrit wieder besuchen, aber nur an Israels Unabhängigkeitstag. 1972 erlaubte ihnen das Militär den Zugang zu ihrer Kirche und zu ihrem Friedhof, jedoch nur tagsüber. Zum ersten Mal nach der Vertreibung durften die Dorfbewohner endgültig zurückkehren – aber nur, wenn sie tot waren.
1977 lehnte ein Regierungsausschuss unter dem Vorsitz von Ariel Sharon die Rückkehr der Ikriter ab, und 1981 wies das Oberste Gericht die zweite Klage der Dorfbewohner ab. Erst 1995, auf dem Höhepunkt des Friedensprozesses, erzielten die Ikriter einen Etappensieg in Form einer Empfehlung einer Regierungskommission:
"Weil die Behörden sich in der Vergangenheit dazu verpflichtet haben und ihr Ehrenwort gaben; und als absoluter Sonderfall, der keinerlei Präzedenzen schaffen soll, soll das Dorf Ikrit auf 60 Hektar neu gegründet werden."
Ein bescheidener Sieg: Denn ursprünglich erstreckte sich Ikrit über 2500 Hektar. Die Angst der Israelis, dass die Rückkehr von 270 Familien den Kampf für die Rückkehr der Millionen palästinensischer Flüchtlinge beflügeln würde, findet Nemi Ashkar vollkommen absurd. Er betont, dass Ikrit ein Sonderfall sei.
Noch immer ein Sonderfall
"Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen uns und den anderen Dörfern, denn wir wurden sechs Monate nach der Gründung Israels evakuiert und nicht während des Krieges. Wir waren zu dem Zeitpunkt bereits israelische Staatsbürger.
Zweitens sind wir das einzige Dorf, dessen Bewohner nach einem Urteil des Obersten Gerichts zurückkehren sollten. Drittens hat ein Regierungsausschuss beschlossen, dass unser Fall einzigartig sei. Daher wird unsere Rückkehr keinen Präzedenzfall darstellen. Außerdem erkennen sogar rechtsgerichtete Politiker unsere Rechte auf unser Land an."
2003 wies das Oberste Gericht die dritte Klage der Ikriter schließlich ab. Die Angst vor einem Präzedenzfall war wohl doch zu groß.
Aber dieser friedliche, jedoch zähe Kampf stärkte den Zusammenhalt der Dorfgemeinde. Diese gründete einen Verein, der vom Justizministerium anerkannt wurde, obwohl dessen Ziel die Rückkehr der Entwurzelten in ihr Dorf ist.
Die Kirche wurde zum neuen Dorf, sagt Shadia Sbait. Sie leitet die Lobbyarbeit des Vereins und ist mit einem Mann verheiratet, dessen Eltern aus Ikrit stammen.
"Die Kirche ist sehr wichtig für unsere Gemeinschaft und für unseren Kampf, weil sie die Menschen vereint. Denn Ikrit ist nicht nur ein zerstörtes Dorf, sondern vielmehr eine lebende Gemeinde. Und diese wird durch Begegnungen in der Kirche gestärkt."
Siedlung in der Kirche
Seit 1995 organisieren die Ikriter jährlich ein Sommercamp und jeden Samstag ein Jugendtreffen in der Kirche. Neulich fand dort ein Seminar statt und am vergangenen Samstag wurde dort eine Hochzeit abgehalten. Seit kurzem haben junge Ikriter eine Art Siedlung in der Kirche errichtet.
Der 18-Jährige Amir Toama, Student der Politikwissenschaften an der Universität Haifa, kommt jeden Freitag hierher und bleibt bis Sonntagmorgen. Heute hat er mitgeholfen, das Dach der Kirche abzudichten. Und jetzt bereitet er sich auf eine Prüfung vor, in einer kleinen Nische der Kirche – von Kruzifixen umgeben:
"Ich bin ursprünglich von hier, aus Ikrit, und gehöre der dritten Generation an. Ich bin in der Gruppe, die beschlossen hat, hier wieder zu wohnen. Auf diese Weise kämpfen wir für die Rückkehr ins Dorf und für dessen Wiederaufbau."
Der High-Tech-Experte Nemi Ashkar bewohnt eine zweistöckige Villa mit einem schönen Vorgarten am Rande des arabischen Dorfes Yasif in Galiläa. Aber er fühlt sich dort fremd. Würde Ashkar seine Villa verlassen, um nach Ikrit zurückzukehren?
"Natürlich! Was ist dieses Haus? Das sind doch nur Wände! Wir haben schon zusammen mit Architekten einen Bebauungsplan für Ikrit angefertigt. Wir wollen einfache ökologische Gebäude, die sich der Landschaft anpassen. Und das werden wir auch realisieren."
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