Jan M. Piskorski: Die Verjagten. Flucht und Vertreibung im Europa des 20. Jahrhunderts
Aus dem Polnischen von Peter Oliver Loew
Siedler-Verlag, München 2013
432 Seiten, 24,99 Euro, auch als ebook erhältlich
Wunsch nach gesellschaftlicher Geschlossenheit
Flucht und Vertreibung waren im 20. Jahrhundert allzu oft Realität. Der polnische Historiker Jan M. Piskorski ist selbst Sohn eines der Opfer und schildert die europäischen Massenvertreibungen.
Evakuierung, Umsiedlung, Vertreibung, Deportation: sie sind beherrschende Züge im Europa des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1914 und 1960 waren 75 Millionen Europäer davon betroffen.
Zitat: "Ein Soldat fällt unter Waffengeklirr, auf dem 'Feld der Ehre', und in der Regel wird zumindest ein Kreuz oder ein anderes Symbol an ihn erinnern.
Vertriebene sterben still in Straßengräben, überfüllten Waggons, Eisenbahnunterführungen, Übergangs- und Internierungslagern – sie sterben unterwegs.
Außer den engsten Verwandten erinnert sich später niemand an sie. Sie sind es nicht, die Geschichte machen, sie werden von ihr überrollt. Das sagt – Kinder einmal ausgenommen – nichts darüber, ob sie unschuldig oder schuldig waren."
Und auch wenn sie lebend und ohne körperliche Schäden davonkommen, ist ihnen Fürchterliches angetan worden. Der Flüchtling ist unwillkommen, man behandelt ihn hart und herrisch. Gerade dem Schlimmsten entronnen, merkt er, was ihn solange davon abhielt, die Heimat zu verlassen: Er hat den Ertrag eines ganzen Lebens aufgegeben.
Jan Piskorski, Historiker an der Universität Stettin, setzt ein mit den Balkankriegen. Und nach dem Ersten Weltkrieg folgen weitere ethnische Bereinigungen. Frankreich schiebt 150.000 bis 200.000 Deutsche ab, die sich nach 1871 in Elsass-Lothringen niedergelassen hatten.
Griechenland greift mit moralischer Unterstützung Großbritanniens 1919 nach Kleinasien aus, um die Idee eines großgriechischen Staates, die sogenannte "große Idee" gegen das osmanische Reich durchzusetzen; es wird ein grauenvoller Fehlschlag.
Im Frieden von Lausanne 1923 wird der Bevölkerungsaustausch festgelegt, 500.000 Türken verlassen Griechenland, rund 1,5 Millionen Griechen das türkische Kleinasien, Heimat ihrer Vorfahren über mehr als zwei Jahrtausende. Aber zunächst wurde dieser Vertrag als eine beispielhafte Lösung ethnischer Konflikte angesehen. Ihren Höhepunkt erreicht diese Politik im Nationalsozialismus.
Der Generalplan Ost sah die Abschiebung von rund zwei Dritteln der Bevölkerung Osteuropas vor, an ihrer Stelle sollten Deutsche siedeln. Und dem Beschluss zur sogenannten "Endlösung der Judenfrage" ging der Madagaskar-Plan voraus. Seine Idee, die europäischen Juden auf die afrikanische Insel zu deportieren, war bereits in der Zwischenkriegszeit von britischen Antisemiten erwogen worden.
Was die Deutschen ihren Nachbarn antun, schlägt seit 1944 auf sie zurück, nun flüchten sie aus den östlichen Provinzen nach Westen. Später werden die, die geblieben sind, vertrieben.
Ist die Politik der ethnischen Neuordnung des Kontinents etwas Neues? Piskorski gibt auf diese Frage keine ganz klare Antwort. Wohl betont er, ganz zu Recht, dass nationale Überlegenheitsgefühle keine Erfindungen des 19. Jahrhunderts sind. Und natürlich sind da die erzwungenen Wanderungen aus religiösen Gründen seit der Reformation: Minderheiten machen sich auf den Weg, den Drangsalierungen der alten Heimat zu entgehen.
Zitat: "Aber "will man etwas herausstellen, was die ethnischen Säuberungen im 19. und 20. Jahrhundert vor allem auf europäischem Boden auszeichnet, so sind die gewaltigen technischen, organisatorischen und mobilisierenden Möglichkeiten des modernen Staates zu nennen."
Doch da ist nicht nur ein Zuwachs an Machtmitteln. Da ist auch der Wunsch nach Homogenität, nach gesellschaftlicher Geschlossenheit.
Der britische Historiker Tony Judd, der als Jude wusste, was es bedeutet, zu einer Minderheit zu gehören, hat erklärt, warum moderne Staaten zu Homogenisierung neigen: Sie übernehmen so viele Aufgaben, regeln so umfassend das Leben ihrer Bürger - zum Beispiel in Bildung und Erziehung, greifen als Sozialstaaten so stark auf deren Einkommen zu, dass sie großen Vertrauens bedürfen. Vertrauen aber hat man am ehesten zu den Menschen, die man kennt.
Das schreckliche Paradoxon: Die moderne Welt ist eine mobile, migrantische. Aber, so Piskorski, je moderner, je besser organisiert eine Gesellschaft ist, desto mehr verlangt sie von Migranten, desto eher sieht sie die Fremden als Bedrohung des sozialen Friedens.
Ein erheblicher Teil der Umsiedlungen des 20. Jahrhundert ist einfach verbrecherisch, vor allem, wenn ihnen ein Eroberungsfeldzug vorausgeht und die neuen Machthaber Probleme lösen wollen, die es ohne ihre Aggressivität nicht gäbe.
Aber was ist mit den Vertreibungen der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg? Der Stettiner Historiker lässt keinen Zweifel an den Leiden auch dieser Flüchtlinge. Er zitiert den Mathematiker und Philosophen Bertrand Russel, der deren Elend mit dem der Juden verglich – für uns heute befremdlich.
Aber Jan Pistorski fragt, ob es für die Tschechoslowakei oder Polen eine bessere Alternative gab. Will man die Vertreibungen heute verurteilen,
Zitat: "so muss die Hypothese plausibel gemacht werden, dass die Umsiedlungen mehr menschliche Existenzen vernichtet haben, als der Verzicht gekostet hätte."
Das aber könne man kaum sagen. In deutschen Ohren mag sich das hart anhören, aber ein Mangel an Einfühlung kann man dem Autor ganz gewiss nicht vorwerfen. Die Stärke seines Buches besteht gerade im Erzählen, darin, den Schmerz deutlich zu machen. Er hat sogar Verständnis für die Deutschen, die zerstörten, was sie ab 1944 verlassen mussten. Die Polen, die ab 1945 aus dem Osten ihres Landes in den Westen umgesiedelt wurden, handelten ähnlich.
Das Schlimmste aber ist für ihn, dass das Böse ansteckend wirkt. Was die Deutschen nach 1944/45 erlebten, war nicht unbedingt Rache der zuvor von ihnen Gequälten. Auch andere, darunter viele Kollaborateure, nutzen die "vergifteten Umstände dieser Zeit".
Doch Jan Piskorski endet auf einem freundlichen Ton, mit den Flüchtlingsromanen Erich Maria Remarques, der seinen Büchern oft ein Happy End gegeben habe, …
Zitat: … "nicht nur, weil sich Geschichten mit glücklichem Ausgang besser in Hollywood verkaufen lassen, sondern weil Remarques schriftstellerischer Instinkt das vorgab. Das Leben schlägt sich immer durch."