Ein Dialog mit vielen Stimmen
09:09 Minuten
In Niedersachsen beanspruchen drei Verbände, die Muslime zu vertreten. Für die Landesregierung ist es darum schwer, einen Ansprechpartner zu finden. Gleichzeitig aber gibt es in den Gemeinden drängende Probleme, die es schnell zu lösen gilt.
Sonntag, früh am Morgen um sieben Uhr. Sechs Frauen sitzen an einem langen Tisch im Dachgeschoss der Moschee in Hannover-Linden: Janaan, Müneri, Necla, Sevkija, Fatma und Aynur. Sie lesen und besprechen religiöse Texte, dazwischen wird gebetet. Das tun sie jeden Sonntagmorgen von sechs bis neun Uhr. Besucher werden sehr herzlich aufgenommen, es gibt Tee und Kaffee zur Stärkung. "Es kann manchmal mehr als ein Jahr dauern, bis wir ein Buch durch haben. Manchmal auch länger."
Für ein friedliches Miteinander
Ihre Gemeinschaft der Jama'at-un Nur, eine sunnitisch-islamische Aufklärungsbewegung, beruft sich auf den kurdischstämmigen Religionsführer Said Nursi, der 1960 starb. Männer und Frauen beten getrennt voneinander, die Frauen tragen Kopftuch. Auf dem Tisch an diesem Morgen liegt das Hauptwerk von Said Nursi: Risale-i Nur. Janaan liest aus dem Vorwort vor. In dem Text geht es zufällig um ein Thema, das alle am Tisch gerade sehr beschäftigt: ein friedliches Miteinander.
"Ich lese erstmal auf Türkisch: Wir müssen uns richtig Mühe geben, miteinander freundschaftlich umzugehen, und gegen Hass kämpfen. Hass ist unser Feind."
Alle nicken. Sie leben schon seit Jahrzehnten hier oder sind in Deutschland geboren. Die Stimmung verschlechtere sich gerade spürbar. "Werde ich schon komisch angeguckt, das ist nicht wie früher."
Kritik an Verbandschef
Aydun erzählt: "Ich bin sehr glücklich aufgewachsen, ich wurde hier auch noch nie negativ angesprochen. Ich möchte, dass meine Kinder hier, wie ich auch, glücklich miteinander leben können. Einfach Respekt miteinander. Das ist vielleicht wie ein Märchen, aber das kann man machen."
Mit am Tisch sitzt Gemeindevorsteher Avni Altiner und hört aufmerksam zu. Seit vielen Jahren engagiert sich der 50-Jährige für die Integration der Muslime in Deutschland. Bis April 2016 war er Vorsitzender des "Landesverbandes der Muslime in Niedersachsen e.V.", der Schura. Seitdem er Ende Januar in Hannover seinen eigenen Verband gegründet hat, wird er heftig kritisiert. "Ich werde persönlich als Spalter bezeichnet. In den sozialen Medien rückt man mich in die Nähe der Gülen-Bewegung, das sind schlimme Kampagnen."
Wunsch nach Unabhängigkeit
Die Frauen am Tisch begrüßen seinen Schritt. Müneri fasst zusammen:
- "Es ist seine Lebensaufgabe. Ich hoffe, dass er es durchzieht und zum Erfolg gelangen kann."
- "Sie unterstützen das?"
- "Natürlich."
- "Es ist seine Lebensaufgabe. Ich hoffe, dass er es durchzieht und zum Erfolg gelangen kann."
- "Sie unterstützen das?"
- "Natürlich."
Altiner möchte unabhängiger werden von der finanziellen Unterstützung und der politischen Einflussnahme aus dem Ausland, nicht nur von der Türkei wie bei dem Moscheeverband Ditib, sondern auch von Saudi-Arabien, dem Iran oder anderen.
"Wir wollen, was wir errungen haben, noch festigen. Aber wir wollen eine normale Stimme in Niedersachsen sein. Dass sich die Muslime in Niedersachsen auf den Kern der Religion konzentrieren, mehr nicht."
Streit um Einmischung
In seinem neu gegründeten Verband "Muslime in Niedersachsen e.V." haben sich elf Moscheegemeinden und zwei Jugendverbände zusammengeschlossen, mit je sechs Männern und sechs Frauen im Vorstand. Nach der Gründung von Schura im Jahr 2002 und dem Ditib-Verband in 2009, die jeweils rund 90 Moscheegemeinden im Land vertreten, ist sein Verband der dritte und kleinste im Land. Dem Ditib-Landesvorsitzenden Ali Ihsan Ünlü passt das nicht:
"Ich glaube nicht, dass wir einen anderen Verein brauchen."
Aber auch in Ünlüs Ditib rumort es. Sein Vorgänger im Amt, Yilmaz Kilic, war mit dem gesamten Vorstand aus Protest gegen die direkte Einflussnahme aus der Türkei vor vier Monaten zurückgetreten. Ünlü hatte zuvor jahrelang für den Vorstand der Ditib-Zentrale in Köln gearbeitet. Der Kontakt zum türkischen Ministerium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) ist nun enger, auch wenn Ünlü beteuert:
"Wir wollen uns auch nicht in die Politik hineinziehen lassen. Das habe ich mehrfach gesagt. Wir stehen für die Belange der Muslime und werden unsere Arbeit leisten. Aber man kann mich nicht für die Belange der türkischen oder deutschen Regierung verantwortlich machen."
Zusammenarbeit beendet
Die Landesregierung ist auf Distanz gegangen: Das Justizministerium hat die Zusammenarbeit mit hauptamtlichen Ditib-Imamen für die Gefängnisseelsorge beendet. Ein Staatsvertrag, der vor zwei Jahren möglich schien, ist durch die politischen Ereignisse in weite Ferne gerückt. Auch weil Ditib sich weigert, die eigene Satzung zu ändern, wie Staatssekretär Jörg Mielke erklärt: "Solange Ditib auch aufgrund seiner Satzung – darüber haben wir mit Ditib lange geredet – in der Tat direkten Einfluss in Köln aus Ankara bekommen kann, sehe ich die Möglichkeit für die niedersächsische Landesregierung nicht."
Die allgemeine Zusammenarbeit mit den Islamverbänden Schura und Ditib wird aber fortgesetzt, bisher sind nur Vertreter dieser Verbände in politischen Gremien und Ausschüssen vertreten. "Das Wichtige für uns ist, dass wir auf alle Fälle in den praktischen Fragen, ob das nun Islamismusprävention ist, ob das Fragen der Curricula beim Islamunterricht in den Schulen oder der Universitäten ist, dass wir dort vertrauensvoll miteinander zusammenarbeiten, das ist nach wie vor der Fall."
Suche an Ansprechpartnern
Altiners neuen Verband möchte Jörg Mielke nicht bewerten. Das sei allein Sache der Religionsgemeinschaften. Aber leichter werde es nicht. Für die Politik nicht und auch nicht für die rund 250.000 Muslime in Niedersachsen: "Es gibt nicht die eine Gruppierung, die für alle sprechen kann. Dass das eine sehr bunte Landschaft ist, wird durch diese Gründung des neuen Verbandes deutlich. Bei weiteren Gesprächen, bei denen man alle einbeziehen will, säße jetzt ein weiterer Verhandlungspartner mit am Tisch. Das mag womöglich die Bandbreite derer vergrößern, die man erreicht. Aber umgekehrt macht es die Verhandlungen natürlich nicht einfacher."
Wie schwierig eine Einigung sein kann, zeigt aktuell das Tauziehen um das Kerncurriculum für den Islamunterricht an den Grundschulen. Die Vertreter von Ditib und Schura im Beirat stört, wie die Frage der Homosexualität dort behandelt wird. Ein Imam hatte die Annahme des Entwurfs empfohlen. Doch die Beiräte legen sich quer. Ein Zeichen, dass sich das Klima verschärft.
Zu viele Aufgaben für Ehrenamtliche
Darüber hinaus gibt es viele Fragen und Probleme, die dringend zu klären wären. Die Frauen in der Lindener Gemeinde kennen einige davon aus eigener Erfahrung. Denn auch die Gemeinden verändern sich. Der Anteil von Muslimen aus Afrika, Arabien und Asien wächst. Aufgaben der Integration und der Sozialarbeit kommen hinzu. All diese Arbeit wird ehrenamtlich geleistet. Auch in Hannover-Linden.
"Die Gemeinde ist ein starkes Teil unseres Lebens", erklärt Müneri, eine der sechs Musliminnen am Tisch der Moscheegemeinde. "Wir helfen uns ja auch gegenseitig. Das ist eine große Stütze für uns. Wir kennen uns alle seit der Kindheit und machen das auch seit der Kindheit ehrenamtlich. Wir haben nebenbei alle einen Beruf und arbeiten auch. Nach der Arbeit kommen wir und machen die Gemeindearbeit. Es wäre eine große Entlastung, wenn hauptberufliche Leute hier angestellt und auch fachmännisch dafür ausgebildet wären."
Gleiche Rechte und Pflichte gefordert
Lehrer und Helfer fehlten – und auch deutschsprachige Imame, die in Deutschland ausgebildet wurden. Auch der Imam dieser Gemeinde spricht kein Deutsch. Viele Muslime würden das gerne ändern, nicht nur diese Frauen dieser Gemeinde: "Wir fühlen uns als ein Teil der Gesellschaft: Wir arbeiten, wir zahlen Steuern, wir haben die gleichen Rechte und Pflichten. Und da würde ich gerne die gleichen Rechte und Pflichten haben wie die christlichen oder jüdischen Gemeinden auch."
Aber so einfach ist das nicht. Muslimische Gemeinden sind zum Beispiel nicht so organisiert, dass sie von deutschen Behörden als Körperschaften anerkannt werden könnten. Oder es gibt Hürden in der Satzung wie bei Ditib. Solche Details machen deutlich, dass nicht weniger, sondern mehr Dialog dringend notwendig ist. Auch wenn die Bedingungen dafür gerade nicht einfacher werden.