Zum Weiterlesen:
Bärbel Frischmann: "Das Virus und die Angst"
In: Information Philosophie, 2/2020, Lörrach, S. 8-15.
Borwin Bandelow: "Das Angstbuch. Woher Ängste kommen und wie man sie bekämpfen kann"
Rowohlt-Verlag 2004, 379 Seiten, 12 Euro.
Was Ängste mit uns machen
47:55 Minuten
Angst zu haben, ist zutiefst menschlich. Sie ist Ausdruck unserer Freiheit und kann uns sogar zu Höchstleistungen antreiben. Wenn sie aber überhand nimmt, lähmt und blendet sie uns. Wie also umgehen mit Ängsten, gerade in Krisenzeiten wie diesen?
Ansteckungsgefahr, Arbeitslosigkeit, Einsamkeit – im beginnenden Coronawinter gibt es viele Gründe, sich zu ängstigen. Und ein bisschen Angst vor dem Virus ist auch ratsam, solange sie uns dazu bringt, Maske zu tragen, Abstand zu halten, uns und andere zu schützen.
Wenn Angst aber zu einem anhaltenden Leiden wird, uns lähmt oder kopflos macht, ist sie ein Problem. Wie können wir also, einen gesunden Umgang mit unseren Ängsten finden, als einzelne wie als Gesellschaft?
Angst ist ein Ausdruck menschlicher Freiheit
"Die Möglichkeit der Freiheit verkündigt sich in der Angst", schrieb der dänische Philosoph Søren Kierkegaard. An diese existenzphilosophische Perspektive schließt die Erfurter Philosophin Bärbel Frischmann an: Angst und Freiheit seien untrennbar miteinander verbunden, Angst sei wesentlicher Bestandteil des Menschseins. Denn in der Angst drücke sich aus, dass wir eine offene Zukunft vor uns haben, "dass wir als Menschen über so etwas wie eine Möglichkeitsstruktur verfügen, formbar sind, unser Leben gestalten".
Neben dieser "existenziellen" Dimension von Angst, unterscheidet Frischmann zwischen Ängsten und Furcht. Bei den Ängsten gehe es um das "psychische, reflexive Verarbeiten von Unsicherheit, der Erwartung, dass mir etwas Schwieriges passieren könnte.
Die Furcht dagegen richte sich auf ganze konkrete Gefahren, auf die wir körperlich reagieren, etwa durch Flucht oder Kampf. Der Göttinger Psychiater und Angstforscher Borwin Bandelow verortet sie im "Angst-Gehirn", als stammesgeschichtlich ältestem Teil unseres Denkapparates. Dieser übernehme in Gefahrensituationen die Führung und befähige uns im Idealfall zu körperlichen Höchstleistungen.
Als Massenhysterie wird Angst zum Problem
Im Prinzip sei die richtige Portion Angst also etwas Positives, sind sich Frischmann und Bandelow einig. Leider funktioniere sie allerdings als Orientierungsgröße nicht immer zuverlässig, sondern könne unsere Fähigkeit zu überlegtem Handeln – zur freien Entscheidung – auch unterlaufen.
Nicht immer stehe die Angst in einem angemessenen Verhältnis zu den tatsächlichen Risiken: Manchmal gaukele sie uns gar eine Gefahr vor, "wo gar keine ist", wie Frischmann betont. Diese Ambivalenz finde sich nicht nur auf individueller, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene: Begründete Ängste könnten hier einerseits "eine Sensibilisierung für Risiken, für Gefahren in einem sehr produktiven Sinne" befördern, wie sie es etwa mit BLick auf den Klimawandel erkennt.
Manipulation von Ängsten
"Auf der anderen Seite haben wir in Gesellschaften aber auch ein Überschießen dieser Ängste, die zum Teil auch manipulativ geschürt werden können", sagt Frischmann. "Denken Sie an die Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit, wo gesellschaftliche Hysterien entstanden sind, weil man auf bestimmte Anforderungen oder Orientierungsnöte oder bestimmte ideologische Gegebenheiten reagiert hat, weil man Sündenböcke gebraucht hat für bestimmte Geschehnisse."
Das Horten von Klopapier, wie zu Beginn der Pandemie, das Bandelow als Beispiel für solche irrationalen Ängste anführt, mag noch eher harmlos erscheinen. Ernstere Folgen habe es, wenn beträchtliche Teile der deutschen Bevölkerung sich nicht impfen lassen möchten: "Wenn das so wäre", so Bandelow, "würden wir jetzt noch zwei, drei Jahre lang Corona haben, weil es zu viele Impfgegner gibt, die mehr Angst vor dem Impfstoff haben, als vor Corona selber."
Das könne zu mehr als 160.000 Corona-Toten in Deutschland führen, bevor eine Herdenimmunität eintrete, schätzt der Angstforscher. Auch in Verschwörungstheorien erkennt er eine Form irrationaler Ängste, etwa vor sogenannten "Chemtrails" oder "5G" – "wahnhafte" Überzeugungen, die ihn an seine Erfahrungen mit Schizophrenie-Patienten erinnerten, "wo man lange mit den Betroffenen diskutieren kann, ohne sie überzeugen zu können."
Kulturtechniken gegen die Angst
Was aber lässt sich gegen Ängste tun, wenn sie überhandzunehmen drohen? Neben therapeutischen Maßnahmen, wie Konfrontations- oder Verhaltenstherapien verweist Frischmann auf ein breites Spektrum überlieferter Kultur- und Selbsttechniken: "Denken wir an die Stoiker – also sich einüben in Seelenruhe –, Yoga, Kontemplation, Beten, es gibt ganz viele Kulturtechniken, die dazu beitragen, Angst zu bewältigen."
Darüber hinaus könnten wir etwa versuchen, bewusst auf die Ausformung unserer Angstgefühle Einfluss zu nehmen: "Gefühle sind nicht einfach da, sondern wir befüllen sie, aus Gesprächen, aus Medien, aus unserem ganzen Lebenskontext." Und könnten entsprechend Einfluss auf sie und unsere Haltung zu ihnen nehmen.
Perspektiven und richtige Einstellung
Bei Ängsten auf gesellschaftlicher Ebene, etwa bei der Wirtschafts- oder Klimakrise, müsse es hingegen vor allem darum gehen, gemeinsam Perspektiven zu entwickeln: "Dort müssen wir miteinander sprechen und ausloten, was gibt es für Möglichkeiten."
Darüber hinaus kann die richtige Einstellung den Umgang mit der Krise erleichtern, wie Bandelow empfiehlt: "Es gibt vier Kamele, mit denen wir durch jede Wüste kommen, auch jetzt durch die Corona-Wüste". Das seien "Ehrfurcht", "gesunder Fatalismus", "Geduld" und "Humor". Denn nicht zuletzt das Witzemachen über Corona sei einerseits "ein Zeichen, dass die Menschen wirklich viel Angst haben", aber auch ein wirksames Mittel gegen die Angst.
(ch)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
Räumung eines Pariser Geflüchteten-Camps: Das schmale Band unserer Zivilität
Die gewaltsame Räumung eines Geflüchteten-Camps in Paris sorgt für Empörung. Selbst Innenminister Darmanin nannte die Bilder "schockierend". Dabei ist dieses Vorgehen Teil einer menschenverachtenden Einwanderungspolitik Europas, kommentiert Robin Celikates.