Verwahrlosung schafft Verwahrlosung
"Verwahrlosung" ist das Wort des Wahlkampf-Sommers 2005. Der Begriff meint das Verhalten und den Zustand von Individuen, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Raster der bürgerlichen Normen heraus gefallen sind.
Da fällt wohl jedem gleich das Unterschichtenmilieu ein und die dort vorherrschende Formlosigkeit in der persönlichen Lebensgestaltung: die verschmierten Hausflure, die tätowierten Dicken, die in den Badelatschen und Trainingshosen vor dem "Unterschichtenfernsehen", die Langzeitarbeitslosen mit der Alkoholfahne, mordende Mütter, prügelnde Väter, vernachlässigte Kinder. Rund zehn Prozent der Bevölkerung, Tendenz: steigend, und damit langfristig die so genannten bürgerlichen Normen der Mehrheit untergrabend.
Es gibt auch eine andere, unspektakuläre Form der Verwahrlosung, die sich sozusagen auf leisen Socken eingeschlichen hat in unsere Gesellschaft: Der achtlose, unzivilisierte, lieblose Umgang miteinander, mit sich selbst und mit der Umgebung. Altmodisch und somit provozierend gesagt: der Verfall von Anstand und guten Sitten.
Rollstuhlfahrer, die an der Kasse grob abgedrängt werden. Plastiktüten und Dosen neben statt in den öffentlichen Papierkörben. Kinder, die im Bus nicht den Platz für die Alten freimachen. Lehrer, die sich nicht trauen, den Schülern Grenzen zu setzen. Role-Models wie der Talkmeister Stefan Raab mit seiner Vulgärsprache. Nachmittägliche Fernsehshows, die mit der Vermarktung von Psycho-Problemen ihr Geld machen, verzweifelte, sich anbrüllende Menschen, die sich dort vorführen lassen wie Tiere im Zirkus.
Diese Art der Verwahrlosung findet in allen Schichten und Altersgruppen statt. Sie entzieht sich der sozialen Kontrolle, weil sie nicht, wie die Problematik der Unterschichten, in Sozialbudgets und Statistiken erfassbar ist. Individuelle Katastrophen, die sich hinter Begriffen wie Wohlstandsverwahrlosung, Verwöhnverwahrlosung, Erziehungsverwahrlosung verbergen, werden selten in Schlagzeilen gespiegelt.
Der Begriff "Verwahrlosung" wird zunehmend als Erklärungsmuster für alle möglichen Missstände, Übel, Ärgernisse und Peinlichkeiten herangezogen. Er bleibt schwammig, wenn er nicht durch ein Adjektiv ergänzt wird; wie zum Beispiel die ästhetische, gesundheitliche, ökonomische, geistige, hygienische, moralische, die soziale Verwahrlosung. Das allgemein spürbare Unbehagen an den deutschen Zuständen verschafft sich Luft in einer pharisäerhaften Empörung über vielerlei Formen der Verwahrlosung, geradeso, als wären diese unverdient über uns hereingebrochen wie ein Unwetter.
Auch wenn es schon ein Allgemeinplatz geworden ist, es muss an dieser Stelle gesagt werden: Der ethische Konsens ist zerfallen, es gibt nicht mehr eine verbindliche Übereinkunft über das Zusammenleben in der Gesellschaft, das ist der Kern der gesellschaftlichen Verwahrlosung. Normen, Formen, Grenzsetzungen sind in Auflösung begriffen, was danach kommt, will vielleicht der Papst wissen wollen, indem er gestalterisch einzugreifen versucht, aber wissen kann auch er es nicht.
Die Kirchen, die Politik, die Wissenschaft oder soziale Institutionen sehen die gewaltige Herausforderung, aber sie haben die Aufgabe bisher nicht gelöst, sie haben ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Die gesellschaftliche Verwahrlosung bleibt leider kein Papiertiger. Sie befördert, ja schafft geradezu die individuelle Verwahrlosung.
Wo Verantwortung nicht mehr klar zuzuordnen ist, wächst die Verantwortungslosigkeit im persönlichen Verhalten. Wo niemand Verantwortung für sich und andere übernimmt, beschleunigt sich der soziale Abstieg, der mit der individuellen Verwahrlosung in der Regel einhergeht. Das wird besonders deutlich an Verwahrlosungserscheinungen im öffentlichen Raum, etwa in den so genannten sozialen Brennpunkten.
Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt, der Unterschicht, aus deren Mitte eine mordende Mutter den Fokus auf die Verwahrlosung lenkte. Wer ist nun schuld? Ach ja, die Globalisierung. Die Arbeitslosigkeit. Die Medien.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass nicht Armut und Geldmangel den Weg in die Verwahrlosung weisen, wohl aber Arbeitslosigkeit. Die österreichische Sozialforscherin Marie Jahoda kam schon 1933 in ihrer Studie über "Die Arbeitslosen von Marienthal" zu dem Schluss, dass lange Arbeitslosigkeit zu Apathie und Selbstvernachlässigung führt und damit zielgerade in ein Unterschichtendasein.
In einem solchen verwahrlosten Milieu lässt es sich heute – und das ist nicht zynisch gemeint – einigermaßen materiell abgesichert leben. Ein fataler Nebeneffekt des Sozialstaats. Sozialwissenschaftler sprechen in dem Zusammenhang von "fürsorglicher Vernachlässigung", was bedeutet: Die Gesellschaft kauft sich mit Geld frei. Dabei käme es darauf an, auch der Unterschicht die Verantwortung für die eigene Existenz zu übertragen und ihr damit einen Weg aus der Verwahrlosung zu weisen.
Marianne Theil, Journalistin, langjährige Korrespondentin für verschiedene Medien in Bonn, Wechsel in die Wirtschaftsredaktion des WDR Köln (Hörfunk), für WDR /ARD Korrespondentin in Brüssel, Washington D.C. und Berlin, jetzt freie Journalistin in Berlin.
Es gibt auch eine andere, unspektakuläre Form der Verwahrlosung, die sich sozusagen auf leisen Socken eingeschlichen hat in unsere Gesellschaft: Der achtlose, unzivilisierte, lieblose Umgang miteinander, mit sich selbst und mit der Umgebung. Altmodisch und somit provozierend gesagt: der Verfall von Anstand und guten Sitten.
Rollstuhlfahrer, die an der Kasse grob abgedrängt werden. Plastiktüten und Dosen neben statt in den öffentlichen Papierkörben. Kinder, die im Bus nicht den Platz für die Alten freimachen. Lehrer, die sich nicht trauen, den Schülern Grenzen zu setzen. Role-Models wie der Talkmeister Stefan Raab mit seiner Vulgärsprache. Nachmittägliche Fernsehshows, die mit der Vermarktung von Psycho-Problemen ihr Geld machen, verzweifelte, sich anbrüllende Menschen, die sich dort vorführen lassen wie Tiere im Zirkus.
Diese Art der Verwahrlosung findet in allen Schichten und Altersgruppen statt. Sie entzieht sich der sozialen Kontrolle, weil sie nicht, wie die Problematik der Unterschichten, in Sozialbudgets und Statistiken erfassbar ist. Individuelle Katastrophen, die sich hinter Begriffen wie Wohlstandsverwahrlosung, Verwöhnverwahrlosung, Erziehungsverwahrlosung verbergen, werden selten in Schlagzeilen gespiegelt.
Der Begriff "Verwahrlosung" wird zunehmend als Erklärungsmuster für alle möglichen Missstände, Übel, Ärgernisse und Peinlichkeiten herangezogen. Er bleibt schwammig, wenn er nicht durch ein Adjektiv ergänzt wird; wie zum Beispiel die ästhetische, gesundheitliche, ökonomische, geistige, hygienische, moralische, die soziale Verwahrlosung. Das allgemein spürbare Unbehagen an den deutschen Zuständen verschafft sich Luft in einer pharisäerhaften Empörung über vielerlei Formen der Verwahrlosung, geradeso, als wären diese unverdient über uns hereingebrochen wie ein Unwetter.
Auch wenn es schon ein Allgemeinplatz geworden ist, es muss an dieser Stelle gesagt werden: Der ethische Konsens ist zerfallen, es gibt nicht mehr eine verbindliche Übereinkunft über das Zusammenleben in der Gesellschaft, das ist der Kern der gesellschaftlichen Verwahrlosung. Normen, Formen, Grenzsetzungen sind in Auflösung begriffen, was danach kommt, will vielleicht der Papst wissen wollen, indem er gestalterisch einzugreifen versucht, aber wissen kann auch er es nicht.
Die Kirchen, die Politik, die Wissenschaft oder soziale Institutionen sehen die gewaltige Herausforderung, aber sie haben die Aufgabe bisher nicht gelöst, sie haben ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Die gesellschaftliche Verwahrlosung bleibt leider kein Papiertiger. Sie befördert, ja schafft geradezu die individuelle Verwahrlosung.
Wo Verantwortung nicht mehr klar zuzuordnen ist, wächst die Verantwortungslosigkeit im persönlichen Verhalten. Wo niemand Verantwortung für sich und andere übernimmt, beschleunigt sich der soziale Abstieg, der mit der individuellen Verwahrlosung in der Regel einhergeht. Das wird besonders deutlich an Verwahrlosungserscheinungen im öffentlichen Raum, etwa in den so genannten sozialen Brennpunkten.
Kommen wir zurück zum Ausgangspunkt, der Unterschicht, aus deren Mitte eine mordende Mutter den Fokus auf die Verwahrlosung lenkte. Wer ist nun schuld? Ach ja, die Globalisierung. Die Arbeitslosigkeit. Die Medien.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass nicht Armut und Geldmangel den Weg in die Verwahrlosung weisen, wohl aber Arbeitslosigkeit. Die österreichische Sozialforscherin Marie Jahoda kam schon 1933 in ihrer Studie über "Die Arbeitslosen von Marienthal" zu dem Schluss, dass lange Arbeitslosigkeit zu Apathie und Selbstvernachlässigung führt und damit zielgerade in ein Unterschichtendasein.
In einem solchen verwahrlosten Milieu lässt es sich heute – und das ist nicht zynisch gemeint – einigermaßen materiell abgesichert leben. Ein fataler Nebeneffekt des Sozialstaats. Sozialwissenschaftler sprechen in dem Zusammenhang von "fürsorglicher Vernachlässigung", was bedeutet: Die Gesellschaft kauft sich mit Geld frei. Dabei käme es darauf an, auch der Unterschicht die Verantwortung für die eigene Existenz zu übertragen und ihr damit einen Weg aus der Verwahrlosung zu weisen.
Marianne Theil, Journalistin, langjährige Korrespondentin für verschiedene Medien in Bonn, Wechsel in die Wirtschaftsredaktion des WDR Köln (Hörfunk), für WDR /ARD Korrespondentin in Brüssel, Washington D.C. und Berlin, jetzt freie Journalistin in Berlin.