Nils Markwardt ist leitender Redakteur des "Philosophie Magazins". Als Autor schreibt er daneben unter anderen auch für "Zeit Online", "FAZ" und das Schweizer Online-Magazin "Republik".
Lob der Bürokratie
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Alle schimpfen angesichts der schleppenden Impfkampagne auf überbordende Bürokratie und unfähige Verwaltung. Aber in der Bürokratie liegt immer eine Spannung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit, kommentiert Nils Markwardt.
Die Pandemie hat viele vermeintliche Gewissheiten erschüttert. Dazu gehört hierzulande auch das eifrig gepflegte Selbstbild als teutonischer Organisationsweltmeister. Denn plötzlich, so scheint es, versagt die deutsche Verwaltung. Ob bei Kontaktnachverfolgungen, beim Testen oder Impfen: Die Behörden hängen buchstäblich hinterher.
Volkssport Bürokratiekritik
Ist dieser Tage deshalb viel von Staats- und Bürokratieversagen die Rede, erscheint das einerseits nachvollziehbar. Andererseits offenbart sich die öffentliche Klage über das bürokratische Corona-Management aber bisweilen auch eigentümlich undifferenziert, ja ungerecht.
Nun kann Letzteres nicht völlig überraschen, weil die Bürokratie im kollektiven Bewusstsein von je her ein schlechtes Image hat. Denn so sehr man sich in Deutschland gerne der mentalitätskitschigen Vorstellung hingibt, man könne einfach besser planen und ablochen als der Rest der Welt, fungierte die geteilte Empörung über komplizierte Vorschriften und langsame Bearbeitungsvorgänge gleichzeitig immer auch als alltagskommunikatives Schmiermittel der bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Dichtung oder Wahrheit? - Goethe über langsame Beamte
Zumal man sich dabei ja auf die ganz Großen berufen konnte. Hatte doch schon Goethe in Dichtung und Wahrheit das Bild von lethargischen Beamten gezeichnet, Kafka die Bürokratie als dadaistische Dauergängelung beschrieben oder Adorno vor der "verwalteten Welt" gewarnt.
Was bei der eingeübten Bürokratiekritik jedoch oft aus dem Blick gerät: Verwaltungen sind per definitionem mit einem organisationssoziologischen Dilemma konfrontiert, das sich nie ganz auflösen lässt.
Sollen sie doch, mit Max Weber gesprochen, einerseits ein "stahlhartes Gehäuse" der Rationalität sein, das Gesellschaft erst ermöglicht, indem es alles, was der Fall ist, effizient und schnell in zu bearbeitende Bahnen lenkt. Andererseits sollen sie dabei aber auch Gerechtigkeit herstellen, also korrekt und vor allem ohne Ansehen der Person handeln.
Spannung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit
Gerade deshalb sind viele Vorschriften ja auch so kompliziert und kleinteilig: So lässt sich die Gefahr von Willkür oder Diskriminierung minimieren. Dass Effizienz und Gerechtigkeit dabei in Spannung geraten können, bisweilen sogar müssen, liegt nicht nur auf der Hand, sondern zeigt sich momentan auch in den USA, wo zwar erstaunlich schnell geimpft wird, aber Schwarze und Latinos viel langsamer zum Zuge kommen als Weiße.
Um nun nicht missverstanden zu werden: Natürlich kann und muss dysfunktionales Verwaltungshandeln kritisiert werden, zumal wenn es wie in der Pandemie um Leben oder Tod geht. Doch sollte das erstens im Bewusstsein ihrer spannungsreichen Funktionslogik passieren. Zweitens sollte man sich klarmachen, dass es sich dabei auch um eine Folge des seit Jahrzehnten hochgehaltenen Mantras vom "Bürokratieabbau" handelt.
Nicht weniger Bürokratie, sondern bessere Verwaltung
Denn was sich gut anhört und nach kurzen Bearbeitungszeiten klingt, bedeutet in der Praxis ja meist das Gegenteil, nämlich eine chronische Unterfinanzierung von Gesundheitsämtern oder Schulbehörden. Sind funktionierende Verwaltungen jedoch das Rückgrat jeder Demokratie, brauchen wir keinen Bürokratieabbau, sondern vielmehr einen Bürokratieausbau. Freilich nicht im Sinne unnötiger Regeln, sondern in Form von durchdigitalisierten und personell wie finanziell gut aufgestellten Behörden.
Aus demokratietheoretischer Sicht müssen Verwaltungen nämlich nicht möglichst schlank, sondern möglichst gut, also effizient und gerecht sein. Oder wie Max Weber es formulierte: "Eine Verwaltung ist entweder bürokratisch oder dilettantisch."