Politische Ordnungen und die Vorstellungen von Verwandtschaft hängen ganz deutlich zusammen. Sie werden neu verhandelt, und in diesem Zuge verändern sich Gesellschaften.
Wahlverwandtschaft und Familienrecht
Gehört eine Betreuungskraft zur Familie? An dieser Frage sind schon Familien zerbrochen. © Getty Images / Catherine Falls Commercial
Was lässt uns füreinander einstehen?
26:52 Minuten
Wer gehört zu mir? Mit welchem Recht? Neben Ehe und Abstammungsrecht will die Regierung sogenannte Verantwortungsgemeinschaften einführen. Ideen von Verwandtschaft seien im Wandel, sagt die Anthropologin Tatjana Thelen. Und manchmal auch umstritten.
Alte Freunde, die in einer Senioren-WG zusammenziehen, zwei alleinerziehende Mütter, die sich Wohnung und Kinderbetreuung teilen. Solche Wahlverwandtschaften gewinnen an Bedeutung in einer Gesellschaft, wo die Menschen immer älter werden und immer weniger Beziehungen für ein ganzes Leben halten. Die Entscheidung, füreinander einzustehen, stößt jedoch an Grenzen, etwa wenn es um das Auskunftsrecht beim Arzt geht oder um die Möglichkeit, die andere Person in einem Notfall juristisch zu vertreten.
Verantwortung füreinander stärken
Die Ampelkoalition will solche Verbindungen von Menschen, die keine klassische Liebesbeziehung und keine Abstammungslinie verbindet, deshalb rechtlich stärken: mit der "Verantwortungsgemeinschaft" als neuem Rahmen. Von konservativer Seite wird bereits Kritik laut: Die persönliche Verbindung von mehr als zwei Menschen durch einen Vertrag widerspreche unserer Kultur. Vergleiche mit der Vielehe eines Mannes mit mehreren Frauen werden ins Feld geführt.
Konzepte von Verwandtschaft unterlägen dem historischen Wandel und seien dementsprechend zu verschiedenen Zeiten an ganz unterschiedliche Kriterien geknüpft worden, erklärt Tatjana Thelen, Professorin für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Die Überzeugung, dass Verwandtschaft entweder auf Abstammung beruhe oder durch einen Ehevertrag gestiftet werde, gehe auf das 17. bis 19. Jahrhundert zurück.
Politisches Ideal der Liebesheirat
Mit dem Aufkommen des Kapitalismus und der Entstehung einer bürgerlichen, demokratisch organisierten Gesellschaft habe sich auch das Konzept von Verwandtschaft herausgebildet, das unsere Gesellschaft bis heute präge.
Die neue bürgerliche Sicht auf Verwandtschaftsverhältnisse wurde auch als Abgrenzung gegenüber älteren Gesellschaftsordnungen aufgefasst, erklärt Thelen. So habe Hegel die freiwillige Liebesheirat idealisiert als Gegenmodell zu strategischen Eheschließungen, die adligen Großfamilien in früheren Zeiten Macht, Besitz und Einfluss sichern sollten.
Jenseits von Abstammung und Ehe
Anders, als es solche normativen Erzählungen von der Modernisierung der Gesellschaft nahelegten, habe das aufstrebende Bürgertum in der Praxis die Heiratsstrategien der Feudalgesellschaft vielfach übernommen, sagt Thelen. Daher sei etwa die offiziell geächtete "Cousinenehe" seit dem 17. Jahrhundert nicht etwa allmählich verschwunden, sondern habe in ganz Europa stark zugenommen, bis diese Entwicklung Anfang des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte und seither zurückgeht.
Nichtsdestotrotz seien Verwandtenehe und Vielehe mit Vorliebe anderen Zeiten oder, insbesondere in der Kolonialzeit, anderen Volksgruppen zugeschrieben worden, um sich von diesen abzugrenzen, so Thelen. Die Anthropologie kenne durchaus Konzepte von Verwandtschaft, die sich nicht auf Abstammung oder Eheschließung stützten. Eine besondere Verbundenheit zwischen Menschen könne durch körperliche Beziehungen, emotionale Nähe oder rituelle Handlungen begründet werden. Die amerikanische Wissenschaftshistorikerin und Feministin Donna Haraway dehnt das Konzept "Making Kin" sogar auf andere Spezies aus und betont besonders unsere Verwandtschaft mit anderen Lebewesen.
Wer gehört zur Familie?
Heute werfen Freundschaften und Wahlverwandtschaften ganz neue Fragen und Konflikte auf. Die bürgerliche Vorstellung von der Kernfamilie als elementarem Baustein der Gesellschaft steht infrage, weil Familien vielfältiger werden. Die Sorge für hilfsbedürftige Angehörige wird häufig von Dritten als Dienstleistung erbracht. Thelen erinnert dabei an Fälle, in denen ältere Menschen ihren 24-Stunden-Pflegekräften etwas vererben wollen: "Das sieht die Familie häufig nicht gern, obwohl sie ein enges emotionales Verhältnis zwischen der betreuten Person und der Betreuerin gern sieht."
Würde eine Regelung von "Verantwortungsgemeinschaften" per Gesetz unsere Gesellschaft verändern, oder wäre sie eine überfällige Anerkennung von Veränderungen, die längst in Gange sind? Tatjana Thelen gibt zu bedenken, dass es der Regierung durchaus entgegenkäme, wenn "staatliche Versorgungsstrukturen vielleicht entlastet werden können, dadurch, dass man andere Versorgungsgemeinschaften fördert". Wen wir als verwandt anerkennen und weshalb – und was wir auf dieser Grundlage voneinander erwarten –, das dürfte in den nächsten Jahren noch für einigen Diskussionsstoff sorgen.
(fka)