Was hinter der irrationalen Angst vor Astrazeneca steckt
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1:100.000 - angesichts eines so niedrigen Thromboserisikos müsste man den Impfstoff Astrazeneca eigentlich nicht fürchten. Doch mehrere psychologische Mechanismen sorgen dafür, dass das Gehirn uns bei der Bewertung von Risiken ein Schnippchen schlägt.
Die Infektionszahlen steigen seit Wochen, aber die Menschen reduzieren ihre Kontakte nicht mehr so strikt wie noch in der ersten Welle. Offenbar zweifeln viele am Sinn der Einschränkungen.
"Wenn ich jetzt sehe, dass ich etwas tue oder schon über lange Zeit getan habe - also mich zu schützen oder meine Familie zu schützen oder beizutragen, dass andere sich nicht anstecken - und sehe: Das ändert sich nicht, es bleibt so, wie es ist. Dann kann das natürlich in Resignation umkippen und in die Überlegung, das bringt ja alles nichts", sagt der Psychologe Peter Wiedemann.
Medienberichterstattung prägt die Risikowahrnehmung
Jahrelang hat Wiedemann erforscht, auf welche Weise wir Risiken einschätzen. Zunächst orientieren wir uns an eigenen Erfahrungen, erklärt er. Das Gripperisiko etwa bewerten wir deshalb im Winter höher als im Sommer. Wenn uns aber die persönlichen Eindrücke fehlen, müssen wir auf Informationen zurückgreifen.
"Da die meisten Risiken, die wir als Laien einschätzen, medial vermittelt sind - also informationsbasiert und nicht erfahrungsbasiert sind, überschätzen wir die eher. Und wir überschätzen sie umso häufiger, je mehr über diese Risiken berichtet wird. Es gibt eine sogenannte Verfügbarkeitsheuristik: Das, was ich häufiger gehört habe, erinnere ich eher und schätze es in der Wahrscheinlichkeit auch höher ein."
Einen Flugzeugabsturz etwa haben die meisten Menschen nie erlebt – aber Medien berichten breit über solche Katastrophen. Von den täglich tausenden Unfällen im Straßenverkehr dagegen schaffen es nur die schwersten in die Nachrichten. Entsprechend ist Flugangst stärker verbreitet als die Furcht vor einer Autofahrt. Obwohl statistisch gesehen mehr Menschen auf der Straße sterben als in der Luft.
Zahlen wirken weniger als Schicksale
"Dann kommt dazu, dass eine Information über Zahlen nicht sehr eindrücklich ist. Das heißt, sie beeindruckt mich nicht emotional. Wenn ich Bilder habe und noch Storys dazu, also Einzelschicksale, dann hat das eine ganz andere Wirksamkeit. Damit wird sozusagen das Risiko präsenter. Und wenn es präsenter ist, ist es etwas, was dann auch als schlimmer bzw. auch als wahrscheinlicher eingeschätzt wird."
Siehe Berichte über Flugzeugabstürze. Oder über Betroffene, die unter schweren Nebenwirkungen von Medikamenten leiden.
Eine große Rolle spielt für jeden Einzelnen auch die persönliche Einstellung, wenn er ein Risiko bewerten muss:
"Wenn ich ein Impfgegner bin, suche ich bevorzugt nach Informationen, die genau das wieder bestätigen. Das nennt man den Bestätigungsfehler. Ich bevorzuge genau die Informationen, die meinem Vorurteil entsprechen. Das zu knacken ist sehr, sehr schwierig. Weil ich natürlich dann immer sagen kann: Na gut, ich glaube denen nicht. Das ist getürkt oder das ist zu einseitig."
Auch die Psychologien Simone Dohle von der Uni Köln beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Risikokommunikation, unter anderem in der Medizin:
"Wenn wir zum Beispiel die Befürchtung haben, dass bestimmte Nebenwirkungen eintreten könnten, dann würden wir auch sehr selektiv suchen. Wir würden jetzt im Internet wahrscheinlich eher nach Begriffen suchen, die dann unserer Meinung entsprechen. Und nicht unbedingt nach Gegenevidenz suchen, was man aber eigentlich vielleicht auch tun sollte."
"Könnte ich vielleicht die eine Person sein, die erkrankt?"
Die Angst vor Sinusvenentrombosen nach einer Astrazeneca-Immunisierung bremst die Impfkampagne. Damit die Coronapandemie aber effektiv bekämpft werden kann, weisen Wissenschaftler darauf hin, dass dieses Risiko für ein Blutgerinsel im Gehirn äußerst gering ist – zumal für Über-Sechzig-Jährige. Das Paul-Ehrlich-Institut gibt die Wahrscheinlichkeit derzeit mit 1:100.000 an. Das heißt: Von 100.000 Geimpften erkrankt rechnerisch eine Person.
"Ja, wer ist denn diese Person? Könnte ich vielleicht diese Person sein? In der psychologischen Forschung nennt man das die Vernachlässigung des Nenners. Also wir fokussieren uns vor allen Dingen auf den Zähler in diesen Berechnungen und nicht so sehr auf den Nenner. Wir sehen eher die Möglichkeit, dass man erkrankt. Aber die Wahrscheinlichkeit wird nicht so sehr in Betracht gezogen."
Lottogesellschaften nutzen das aus: Zwar tippt rein rechnerisch unter 15 Millionen Spielern nur einer sechs Richtige – aber dieser eine könnte ja ich sein.
Handeln erscheint riskanter als Unterlassen
Die Impfentscheidung ist kein Glücksspiel, sondern beeinflusst unser Wohlbefinden. Simone Dohle weist darauf hin, dass man gesund zur Immunisierung geht:
"Das macht psychologisch einen großen Unterschied. Menschen geht es gut und sie lassen sich sozusagen medizinisch behandeln. Und dann werden natürlich solche Nebenwirkungen viel höher gewichtet als in einem Fall, wo man krank ist und ein Medikament nimmt."
Psychologen wissen außerdem, dass wir aktive Handlungen als riskanter empfinden als passive Unterlassungen. Ohnehin schätzt jeder Mensch Gefahren unterschiedlich ein, zum Beispiel je nach kultureller Prägung. Amerikaner gelten als risikofreudiger als Deutsche, Frauen sind zurückhaltender als Männer. Für alle aber gilt:
"Was neu ist, wird erst mal als riskanter eingeschätzt als das, was schon bekannt ist. Bei Bekanntem ist man bereit, auch gewisse Risiken einzugehen. Und das ist natürlich bei den Covid-19-Impfungen so, dass es die erst seit kurzer Zeit gibt."