Die "Unabsteigbaren" sind wieder da
23:51 Minuten
Erst biss sich Bochum in der Liga fest, dann wurde der VfL, was er nie sein wollte: ein Fahrstuhlverein. Und dann steckte er lange in Liga 2. Jetzt das Comeback – und Hoffnung für Fans mit einer schweren Liebe zu einem Verein ohne Titel, aber mit Herz.
Das erste Mal vergisst man nie. Bei mir war’s mit acht, an einem lauen Maiabend: mein erstes Fußballspiel. Es war das Pokalhalbfinale 1968, Bochum gegen Bayern – und dann ging Bochum in Führung:
Dass der VfL Bochum im Pokalhalbfinale stand, war im Jahr 1968 eine noch größere Sensation, als es heute wäre. Bochum war Regionalligist, das war bis zur Einführung der zweiten Bundesliga 1974 die zweithöchste deutsche Spielklasse. Diese war unterteilt in fünf Staffeln. Im Pokal hatte Bochum nacheinander die Erstligisten Karlsruhe, Stuttgart und Mönchengladbach ausgeschaltet.
Fußball zum Anfassen
Nun also die Bayern. Mein Vater hatte Karten besorgt. Die Bayern waren in den Sechzigern noch nicht so übermächtig wie heute – aber sie hatten Maier, Beckenbauer und Müller. Dann das 2:0, diesmal Balte.
Es waren andere Zeiten: Die Trainer ließen sich während des Spiel interviewen und mein Vater und ich standen im Innenraum, direkt hinter dem Tor, auf das der VfL in der zweiten Hälfte spielte, hinter Sepp Maier.
Nicht nur wir waren nah dran. Das Stadion an der Castroper Straße, wie es damals noch hieß, war eine Mehrzweckanlage, mit Tartanbahn, einer Grube für den Weitsprung und einem Ring für die Diskuswerfer. Die Zuschauer drängten sich bis an die Seitenlinien: Fußball zum Anfassen.
Bayern-Trainer Zlatko Čajkovski gab im Halbzeit-Interview die Hoffnung zwar noch nicht auf. Doch es änderte nichts mehr. Mit 2:1 – Anschlusstreffer Ohlhauser – kam Bochum ins Endspiel. Dort unterlag die Mannschaft dem FC Köln mit 1:4. Doch die Bochum-Fans feierten ihre Mannschaft, als hätte sie gewonnen.
Ab 1968 ging es aufwärts
Das Pokalhalbfinale gegen die Bayern war der Beginn einer großen Liebe. Einer Liebe, die bis heute anhält, auch wenn sie merklich abgekühlt ist, wie bei einem alten Ehepaar, das weiß, was es aneinander hat – und was nicht. Eine Liebe aber auch, die mir in ihrer heißen Phase alles abverlangt hat, die turbulent, aber auch toxisch war.
Im Frühjahr 1968 herrscht Aufbruchstimmung in Bochum. Das Zeitalter des Bergbaus neigt sich dem Ende entgegen, auch wenn die letzte Zeche im Stadtgebiet erst im Jahr 1973 schließen sollte. Autos sind das neue Grubengold: In drei Werken in Bochum sichert Opel 20.000 Arbeitsplätze.
Vier Jahre später wird der Regisseur Peter Zadek die Intendanz am Bochumer Schauspielhaus übernehmen und es in die erste Liga der deutschsprachigen Theater führen. Im Juni 1965 hat die Ruhr-Universität ihren Betrieb aufgenommen, als erste Hochschule im Revier. Die Entscheidung über den Standort war im Düsseldorfer Landtag gefallen – per Kampfabstimmung.
Auch für den VfL geht es bergauf. Die Mannschaft wird verstärkt, mit dem ehemaligen Nationalspieler Werner alias "Eia" Krämer fürs Mittelfeld und vor allem mit Hans Walitza für den Sturm.
Walitza ist Torgarant, ein spielender Stürmer und mit seinen schwarzen langen Haaren ein Frauenschwarm. Er schießt den VfL in der Saison 69/70 in die Aufstiegsrunde und im Jahr darauf in die Bundesliga.
Und dann ist da auch Michael Lameck, den alle nur Ata nennen. Lameck ist im Jahr 1972 von Schwarz-Weiß Essen zum VfL gewechselt und wird seine Karriere 16 Jahre später in Bochum beenden. Seinen Spitznamen bekam Lameck schon als Kind, weil er auf vor Ruß schwarzen Plätzen gekickt hatte und seine Mutter ihn danach mit dem Haushaltsreiniger Ata sauber schrubben lassen musste – so jedenfalls die Legende.
In Bochum wurde Fußball malocht
Ata Lameck ist Rekordspieler des VfL Bochum. Als solcher hat er es bis in Wissensspiele wie "Trivial Pursuit" geschafft. Mit der Frage: "Wer absolvierte 518 Bundesligaspiele für seinen Verein, ohne je in die Nationalelf berufen zu werden?"
Eine Frage, die das Dilemma des VfL Bochum umreißt: Von Titeln, Nationalspielern, internationalen Stars oder gar schönem Fußball durften wir zwar träumen, in der Realität aber befanden wir uns in einer kafkaesken Endlosschleife: Jahr für Jahr ging es gegen den Abstieg, erfolgreich zwar, oft aber dramatisch.
Fußball wurde in Bochum malocht, nicht gespielt. Jahr für Jahr mussten die besten Spieler verkauft werden. Den Anfang machte Hans Walitza. Im Jahr nach dem Aufstieg wollte Real Madrid ihn angeblich verpflichten, als Ersatz für Mittelstürmer Santillana, dem das Karriereende drohte. Große finanzielle Polster hatte der VfL Bochum nie.
Andere hatten Erfolg, aber Bochum hatte den Biss
"Ich bin hier groß geworden in Bochum", erzählt Hermann Gerland. "Hinterher zeigen die Leute mit dem Finger auf mich: 'Guck mal, der Absteiger.' Ich glaube, es geht los."
Vor drei Monaten hat Gerland bei Bayern München seinen Hut genommen, nach zwanzig Jahren als Trainer der zweiten Mannschaft und als Co-Trainer der Profis.
In seiner aktiven Zeit hat Gerland nur für einen Verein gespielt: den VfL Bochum, als zum Verteidiger umgeschulter Stürmer. In Bochum haben die Fans ihm den Spitznamen Tiger verpasst, weil er sich immer mit einem Katzenbuckel auf seinen Gegenspieler gestürzt hat.
"Wir hatten welche, die wollten immer gewinnen und die Klasse sichern. Und wir haben es immer geschafft."
Tiger Gerland und Ata Lameck waren unsere Idole: weniger talentiert als andere, aber mit Leidenschaft und Biss. Mit Tugenden, die es für den Abstiegskampf brauchte.
Große Spiele waren rar, aber episch
Der erfolgreich bestandene Abstiegskampf, der war für uns wie die Meisterschaft für Bayern München, besonders in der Saison 1975/76. Weil das Ruhrstadion renoviert wurde, musste wir in der Rückrunde nach Herne ausweichen, ins Stadion am Schloss Strünkede.
Vier Spieltage vor Saisonende sind wir auf dem 16. Platz, damals ein direkter Abstiegsplatz. Der Gegner ist Eintracht Frankfurt, ein Kandidat für den UEFA-Cup mit den Weltmeistern Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein, und der wird in einem epischen Duell mit 5:3 niedergerungen.
"Da waren wir zur Halbzeit, glaube ich, schon abgestiegen", erinnert sich Jupp Kaczor, der Nachfolger von Hans Walitza auf der Mittelstürmer-Position. "Der Trainer wusste auch nicht mehr, was er sagen sollte. Jupp Tenhagen, Köttel Versen und ich haben das Heft in die Hand genommen und gesagt: Jetzt raus, auf alles treten, was sich bewegt, wir müssen Gas geben, sonst steigen wir ab."
Große Spiele? Habe ich nur wenige gesehen. Das 6:0 auf Schalke im Mai 1982 – aber da waren die schon so gut wie abgestiegen. Ein 3:0 gegen Bayern an einem verregneten Abend im Herbst 1985. Stefan Kunz, der heute die U21-Nationalmannschaft trainiert, trifft dreifach – unter tätiger Mithilfe von Jean-Marie Pfaff, dem Torwart der Bayern.
Natürlich das andere Bundesligaspiel gegen die Bayern. Unser Jahrhundertspiel im Herbst 1976. Von dieser Partie gibt es keine Fernsehbilder, weil damals in der Sportschau nur Ausschnitte von drei Spielen gezeigt werden durften – beim DFB befürchtete man, mehr Fernsehfußball würde die Stadien leerfegen.
Ein absurder Gedanke, wie man heute weiß. Aber ein gnädiger. denn dieses Spiel ist... typisch VfL: Kaum scheint sich ein Traum zu erfüllen, schlägt das Schicksal umso härter zu. Die einzigen bewegten Bilder dieses Spiels hat ein Amateurfilmer aufgenommen, auf Super-8, einem längst vergessenen Format. Sie sollten schnellstmöglich entsorgt werden - meine Meinung.
Kaczor trifft, Harry Ellbracht – später in Saarbrücken verspottet man ihn als Stolper-Harry – schießt zwei seiner insgesamt vier Tore für den VfL. Und nach der Pause trifft sogar Sammy Pochstein, der vielleicht größte Chancentod der Bochumer Fußballgeschichte.
4:0. Gegen Bayern München. Doch dabei sollte es nicht bleiben.
"Wir waren übermütig", erzählt Jupp Kaczor. "Wir haben 4:0 geführt und da hat der Verteidiger, der Vorstopper gesagt: Ich will auch mal ein Tor schießen gegen die Bayern. Nur: Die hatten Gerd Müller, Franz Beckenbauer, Breitner, Hoeneß. Das war eine Weltklasse-Mannschaft, Maier im Tor. Die Fans haben elf Tore gesehen, natürlich mit dem schlimmsten Ausgang für uns: 5:6 verloren. 5:4 für Bayern München, 5:5. Und irgendwie haben die uns dann doch noch einen reingehauen. Dann war’s leider 6:5 für Bayern."
Ein Abseits, das keins war
Und klar: das Pokalfinale 1988, unser zweites und letztes. 1968 habe ich das 1:4 gegen den 1.FC Köln im Fernsehen verfolgt, weinend. Jetzt bin ich live dabei, in Berlin gegen Eintracht Frankfurt.
Uwe Leifeld schießt das 1:0 für Bochum. Doch der Linienrichter senkt die Fahne – Abseits!
Eben nicht, wie die Zeitlupe offenbart. Aber damals gab es weder den Fernsehbeweis noch den Video-Assistenten. Ich habe das Spiel aufgezeichnet und mir die Szene wieder und wieder angesehen: Der letzte Frankfurt Abwehrspieler klebt mit einem Fuß auf der Strafraumlinie. Leifeld nimmt den Ball mit, halb rechts – einen Meter vorm Strafraum.
Kein Abseits, klare Sache, auch ohne die Vereinsbrille. Das Spiel haben wir verloren. 0:1 durch ein Freistoßtor von Lajos Detari. Neun Minuten vor Schluss.
Abstieg für die "Unabsteigbaren" nach 22 Jahren
Die Relegation gegen Saarbrücken im Jahr 1990: Ein spätes Tor von Uwe Leifeld sichert uns den Klassenerhalt. Doch drei Jahre später ist es dann doch passiert: Wir sind abgestiegen. Weil wir keine Haudegen der alten Schule mehr hatten. Weil der Fußball sich geändert hatte und unbändiger Kampf allein nicht mehr genügte.
Aber auch, weil wir das Schicksal herausgefordert hatten. Statt demütig und dankbar zu sein für 22 Jahre Bundesliga, haben wir den Klassenerhalt als selbstverständlich betrachtet – und in unserer Hybris ein neues Wort für den VfL kreiert: unabsteigbar.
Titel haben wir keine gewonnen, und auch international sind wir nie weit gekommen. Aber wenigstens waren wir keine Fahrstuhlmannschaft. Bis zu diesem Abstieg: Nach dem Wiederaufstieg im folgenden Jahr ging es gleich wieder runter.
Eine bittere Niederlage gegen den "Tiger"
Bochum gegen Nürnberg im Herbst 1995, in der zweiten Liga. Zur Halbzeit steht es 4:0. Und die Ostkurve feiert den Trainer: "Hermann Gerland, der beste Mann der Welt."
Der "Tiger" aber trainiert die Nürnberger. Unser Trainer heißt Klaus Toppmöller, der die Mannschaft noch in der Bundesliga übernommen hatte. Aber auch er konnte den Abstieg nicht mehr verhindern.
"Zunächst mal sind wir weg vom Kampf gegangen und haben meine Philosophie umgesetzt", erzählt Toppmüller in einem historischen Interview. "Ich habe da vom Präsidenten und vom Manager freie Hand gehabt, eine neue Mannschaft aufzubauen. Spielkultur, Raumdeckungsverhalten, nach vorne zu spielen, offensiv zu spielen, Tore zu machen."
Mit Toppmüller kommen die guten Jahre
Unter Toppmöller spielt Bochum mit Viererkette, ein 4-2-4, das je nach Situation zu einem 4-3-3 wird. Vorbild ist Ajax Amsterdam, das unter Trainer Louis van Gaal die Champions League gewonnen hat.
Im Jahr 1995 ist diese Spielweise in Deutschland eine Revolution, mit der nicht nur die Fans des VfL fremdeln: Der Libero ist sakrosankt, gern wird ein alternder Mittelfeldspieler auf diese Position beordert – frag nach bei Lothar Matthäus.
"Das ist schon einmalig gewesen, wie wir teilweise die Mannschaften vorgeführt haben", erzählt Darius Wosz, genannt: die Zaubermaus, im Dokumentarfilm "Die 11 des VfL" von Ben Redelings.
Der 1,69 Meter große Spielmacher ist 1992 aus Halle nach Bochum gekommen und bis 2007 geblieben, unterbrochen von einem dreijährigen Intermezzo bei Hertha BSC. "Aufgestiegen und dann sofort in den UEFA-Cup. Und dann noch diesen Spaß zu haben in der Kabine, im Spiel, das war schon sehr, sehr schön."
Die Jahre unter Toppmöller sind die besten, die ich mit dem VfL erleben durfte. Weil mein Verein den Fußball spielt, den ich liebe, und weil die Mannschaft cool ist. Gespickt mit Talenten, die viel versprechen: Uwe Gospodarek, ein auch am Ball starker Torwart, Thomas Reis, der den VfL jetzt als Trainer zurück in die Bundesliga geführt hat.
Mit Eigengewächsen wie Kai Michalke und Paul Freier, später auch Sebastian Schindzielorz, der heute Geschäftsführer Sport beim VfL ist. Und mit guten Typen: Der Stürmer Peter Közle trägt Rastalocken, Rechtsverteidiger Thomas Stickroth liest Nietzsche oder tut zumindest so: Für ein Foto-Shooting posiert er vertieft in "Also sprach Zarathustra".
Stickroth ist der Star jener Jahre. Weil er wie ein Brasilianer spielt, wird er Stickinho genannt. Seine Spezialität: der Übersteiger.
"In 30 Sekunden hat der bestimmt 20 Übersteiger gemacht", erinnert sich Wosz. Die Fans liebten das, "auch wenn’s teilweise übertrieben war. Der hat den Ball kaum gekriegt, da haben die Zuseher schon gerufen. Damit haben sie Sticki verleitet: Mach das mal. Aber manchmal darf man das hinten nicht machen. Wenn das vorne gewesen wäre, klar. Aber wenn die Flanke gleichzeitig kommen muss und der macht noch zwei Übersteiger, da ist er fast im Aus. Da fragt man sich: Flankt der jetzt oder macht er seine Übersteiger für die Fans da drüben?"
Auf das UEFA-Abenteuer folgt das Tal der Tränen
Im September 1997 spielen wir zum ersten Mal in einem internationalen Wettbewerb, im UEFA-Pokal, dem Vorläufer der heutigen Europa League.
Gegen den türkischen Erstligisten Trabzonspor geht das Hinspiel 0:1 verloren. Zu Hause spielt sich die Mannschaft in einen Rausch, führt Mitte der zweiten Halbzeit 5:1, kassiert dann aber kurz hintereinander zwei Gegentore.
Jetzt wird gezittert, denn ein weiteres Gegentor bedeutet das Aus. Aber am Ende wird es beim 5:3 bleiben – Bochum steht in der nächsten Runde.
Auch das Heimspiel gegen den FC Brügge in der zweiten Runde begeistert alle VfL-Fans: Wir gewinnen 4:1. Dann geht es nach Amsterdam. Nach 25 Minuten führen wir 2:0, verlieren aber 2:4. Im Rückspiel steht es lange 1:1 – bis Zoran Mamić das 2:1 für Bochum schießt. Noch einmal kommt Hoffnung aus: Sollten wir?
Wir sollten nicht. Ajax gleicht aus und das Abenteuer UEFA-Cup ist für uns Bochumer zu Ende. In der Bundesliga läuft es nicht rund. Erst am letzten Spieltag sichert der VfL den Klassenerhalt. Der Kräfteverschleiß, denken wir.
Doch auch in der nächsten Saison steckt Bochum im Tabellenkeller fest. Fünf Spieltage vor Schluss kommt Nürnberg. Ein Sieg bedeutet die Rettung. Doch der VfL verliert 0:3. Und fünf Tage später 0:2 gegen den MSV Duisburg.
Ich bin mit dem Rad hoch zum Stadion gefahren, in strömendem Regen. Obwohl ich mir nach Nürnberg geschworen hatte, nie wieder ins Ruhrstadion zu gehen. Dieser Abstieg war der schlimmste. Weil er einen Traum beendete: dass der VfL Bochum mit modernem offensivem Fußball vorne mitmischen könnte.
Natürlich sind wir gleich wieder aufgestiegen. Aber nur, um als abgeschlagener Letzter den erneuten Gang ins Unterhaus anzutreten.
Jetzt war der VfL, was er nie sein wollte: ein Fahrstuhlverein.
Ungeschlagen aus dem UEFA-Cup ausgeschieden
Dann kam Peter Neururer.
"Das war eine Mannschaft, bei der Wertigkeit und Respekt großgeschrieben wurde, losgelöst von Positionen. Es war wirklich so: Derjenige, der eingewechselt wurde, derjenige, der gar nicht im Kader war, hat die gleiche Wertigkeit genossen wie derjenige, der die Kapitänsbinde trug, oder derjenige, der die Tore schoss, oder derjenige, wie Rein van Duijnhoven, der die Bälle hielt."
In Bochum hat Neururer Erfolg. Er führt den VfL zurück in die Bundesliga, dort zum souveränen Klassenerhalt und im Jahr darauf in den UEFA-Cup.
Der Gegner in der ersten Runde ist Standard Lüttich. Das Hinspiel endet 0:0. Im Rückspiel in Bochum brauchen wir nur ein Tor. Und das schießen wir auch – durch einen Kopfball von Abwehrspieler Marcel Maltritz in der Nachspielzeit der ersten Hälfte.
Es ist ein hitziges, ja: nickliges Spiel. Ich sitze in der Westkurve, auf die Lüttich nach dem Seitenwechsel anrennt. Kurz vor Schluss lenkt Torwart Rein van Duijnhoven einen Schuss mit den Fingerspitzen an den linken Innenpfosten. Von dort trudelt der Ball auf der Torlinie an den rechten Innenpfosten. Das war’s denke ich: Wenn dieser Schuss nicht reingeht, kassieren wir heute kein Tor mehr.
Ich sollte mich irren.
Und dieses Tor beschreibt niemand so schön wie der großartige Autor, Kabarettist und VfL-Fan Frank Goosen in seinem Bühnenprogramm:
"Es kam die 93. Minute und ich werde leider nie vergessen, wie der Ball durch den Bochumer Strafraum: kullerte. Ein etwas zu hoch geratener Halm hätte ihn aufhalten können. Ich selbst wäre in der Lage gewesen, ihn mit der schlappen Eichel aus der Gefahrenzone zu befördern. Und da sehe ich auch schon einen blau gekleideten Spieler auf den Ball zulaufen und ich dachte, der pöhlt den jetzt über die Südtribüne auf die Castroper Straße. Sekundenbruchteile später sehe ich den Fuß dieses Spielers durch die Luft fliegen, aber an diesem Fuß ist kein Ball. Der Ball war dann an einem belgischen Fuß und im völlig falschen Tor und wir waren ungeschlagen aus dem UEFA-Cup ausgeschieden."
Der Spieler ist Edu, ein brasilianischer Stürmer, der unter Peter Neururer Linksverteidiger spielt.
"Und das ist auch wieder eine Qualität des VfL Bochum: Brasilien hat glaube ich 180 Millionen Einwohner, die alle fantastisch Fußball spielen können. Sogar das brasilianische Au-Pair-Mädchen unser Nachbarn kann fantastisch Fußball spielen. Und wir finden den einen! Der nicht mal einen Scheiß-Befreiungsschlag hinkriegt! Früher war vielleicht nicht alles besser. Aber das schon: Hermann Gerland hätte diesen Ball gegessen – und im gegnerischen Tor wieder ausgeschissen!"
Die Jahre der Entfremdung
Nach diesem Tor ist nichts mehr wie es war. Nicht für die Mannschaft, die matt und kraftlos dem fünften Abstieg entgegen taumelt – und nicht für mich.
Dass sich der VfL wie gewohnt als wiederaufsteigbar erweist und unter Marcel Koller noch einmal für vier Jahre in die Bundesliga zurückkehrt, nehme ich erfreut aber beiläufig zur Kenntnis. Ich wohne längst nicht mehr in Bochum und in der Ferne gelingt es mir, dem masochistischen Reiz zu widerstehen, auch nach den schlimmsten Pleiten beim nächsten Heimspiel wieder im Ruhrstadion zu sein.
Die folgenden zehn Jahre in der zweiten Liga habe ich nur noch am Rande wahrgenommen.
In der letzten Saison aber habe ich jedes Spiel gesehen. Nicht im Stadion natürlich, das war pandemiebedingt nicht möglich, sondern im Fernsehen.
Jetzt freue ich mich auf den Abstiegskampf, der scheint ja das Schicksal des VfL Bochum zu sein. "Das weiß ich nicht, das Schicksal", wägt zwar Sebastian Schindzielorz, der Manager des VfL Bochum, ab. "Wenn man sich die Historie ansieht, dann muss man sagen: Es war oft so, dass man gegen den Abstieg gespielt hat."
Der alte Geist ist wieder da
Gemeinsam mit Trainer Thomas Reis und dem Vorstandsvorsitzenden Ilja Kaenzig hat Schindzielorz den VfL Bochum wieder aufgebaut. Die Mannschaft besteht aus erfahrenen Haudegen und jungen, hungrigen Spielern.
Mich erinnert das an 1971, den ersten Aufstieg. Wenn’s wieder 23 Jahre in der Bundesliga würden - ich hätte nichts dagegen.
"Wir sind eine gute Gemeinschaft, das haben wir in der letzten Saison bewiesen. Wir waren stabil auf dem Platz und wir waren stabil im Umfeld. Wir haben das Vertrauen in uns, dass wir die Herausforderung meistern können."