Vibracion

Von Ulrike Gondorf |
Wenn es nicht gerade um Goldschätze aus indianischen Kulturen oder Frida Kahlo geht, ist Kunst aus Lateinamerika in Deutschland ziemlich unbekannt. Dem will die Bundeskunsthalle in Bonn Abhilfe schaffen: Mit einer Ausstellung zur klassischen Moderne Lateinamerikas von den 30er bis in die 70er-Jahre.
Ein Weltstar der Kunst ist auch vertreten: Eine golden schimmernde und in strudelnder Bewegung durchbohrte Leinwand von Lucio Fontana nimmt einen prominenten Platz in der Bundeskunsthalle ein. Lucio Fontana, geboren 1899 in Argentinien, aber natürlich gilt er nach familiärer Herkunft und Wirkungskreis als italienischer Künstler. In den vierziger Jahren hat er wieder in seinem Geburtsland gelebt und gearbeitet und dort auch großen Einfluss ausgeübt. In Bonn sind einige Arbeiten zu sehen, die sich auseinandersetzen mit seinen Versuchen, auch dem flachen Bild einen dreidimensionalen Raum zu eröffnen. Und irgendwie ist der Fall symptomatisch für den "blinden Fleck", in dem die Kunstgeschichte Lateinamerikas hierzulande für die allermeisten verschwindet: Der bekannteste Name der Künstlerliste ist ein europäischer, den anderen, die in Bonn auf den Schildchen neben den Werken stehen, begegnet ein deutscher Museumsbesucher kaum je. Die Ausstellungsmacherin Agnieszka Lulinska wird natürlich jetzt oft nach den Gründen dafür gefragt.

"Ich glaube, dass wir immer noch sehr eurozentrisch denken, und der Partner, den man seit den 50er-Jahren akzeptiert, ist die USA, und die Lateinamerikaner haben sich sehr geschmeidig eingefügt, ohne ganz besonders auf ihre Traditionen zu pochen."

Wie man sich diese Synthese von Moderne und indigener Kultur vorstellen kann, zeigen gleich am Beginn der Ausstellung einige Arbeiten von Joaquin Torres-Garcia. Er ist 1874 geboren und gehört noch einer Generation an, die sich fast ausschließlich an der europäischen Kunst orientiert. Den größten Teil seines Lebens verbringt er in Paris und schließt sich dort in den Zwanziger Jahren verschiedenen Gruppen an, die eine neue Weltsprache der Kunst in abstrakten geometrischen Formen suchen.

"Torres-Garcia hat diese Erfahrungen in den 30er-Jahren nach Montevideo mitgenommen und eine sehr eigene Lesart des Konstruktivismus geschaffen, indem er die Waagrechte und Senkrechte als Raster nahm und diese strenge Struktur mit Zeichen der Indiokultur belebte, etwas schuf, was er kosmischen Universalismus nannte, und von dort kann man sagen, dass das die Initialzündung war."

Monochrome Rechtecke und Quadrate in blau, gelb und rot und prägnante Linien, wie man sie aus den Werken Piet Mondrians kennt, verbinden sich auf seinen Bildern mit Piktogrammen, in zarten Linien und scheinbar ganz naiv hingesetzten Formen: Häusern, Booten, kosmischen Symbolen. Solche Anspielungen finden sich immer wieder in den Werken nachfolgender Künstler, verrätselte Zeichen oder Schriftzüge erinnern von fern an eine magische Bedeutung, die die Kunst in den alten Hochkulturen Lateinamerikas hatte. Dominierend aber wird bei den Künstlern der nächsten beiden Generationen die reine geometrische Abstraktion, das Spiel mit Flächen und Linien, das wie in Europa und den USA auch zur Op Art und zur kinetischen Kunst führt.

Wie in einer kleinen Werkstatt klingt es in einem Kabinett kinetischer Objekte aus den 60er-Jahren. Julio Le Parc hat in einem schwarzen Kasten weiße Holzstäbchen montiert. Auf Knopfdruck kann der Besucher sie in Bewegung setzen, sie klappen fächerartig auf und bilden immer neue zufällige Muster.

Klare Linien, geometrische Formen, Bewegung – diese Aspekte behalten lange ihre Faszination für die Künstler Lateinamerikas. Sicher nicht zuletzt deshalb, weil sie mit der dynamischen Entwicklung der Lebensverhältnisse korrespondieren.

"Dieser Kontinent hat im 20. Jahrhundert einen rasanten Wandel vollzogen, aus fast feudalen Strukturen sind Megametropolen entstanden, und das hat für die Künstler Signalwirkung gehabt. Sie haben sich an der Stadt gerieben, indem sie versucht haben, sie mit ihren Kunstwerken zu besetzen, sehr viele Künstler haben Aufträge für den öffentlichen Raum gehabt, die Fotografen betrachten die Stadt als Formenreservoir für die abstrakte Weltsprache. So kam man zusammen zu einer ganz neuen Wahrnehmung der Stadt."

Dieses spannungsvolle Wechselspiel hat der Ausstellung nicht nur den Titel gegeben: Vibracion. Es bestimmt auch die Gestaltung: Durchgängig sind den Bildern und Objekten Fotografien gegenübergestellt, auf denen in verschiedenen Graden der Abstraktion die neue Architektur dargestellt ist. Strenge Geometrie dominiert, nicht nur beim legendären Bauprojekt Brasilia. Die Traditionen der Bauhaus-Moderne und der osteuropäischen Avantgarde lassen uns diese Kunst vertraut erscheinen. In den dreißiger und vierziger Jahren kamen viele ihrer Protagonisten aus Deutschland und den im Krieg von den Deutschen besetzen Gebieten. Buenos Aires und viele andere Metropolen Lateinamerikas wurden Zufluchtsorte für verfolgte Künstler, die den Einfluss der europäischen Avantgarde auf die Kunst Lateinamerikas stärkten und Impulse aufnahmen aus dem optimistischen Aufbruchsgeist ihrer neuen Heimat. Drei von ihnen würdigt die Ausstellung in eigenen Kabinetten, die die Präsentation der Sammlung Cisneros ergänzen: die Fotografin Grete Stern, die Objektkünstlerin Geko und die Malerin Mira Schendel.