Victor Jestin: "Hitze"

Das ist mehr als Urlaubshorror

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Das Cover zeigt eine flirrende Aufnahme der Sonne.
Als Tiefe getarnte Oberfläche: Victor Jestins Debüt "Hitze". © Kein & Aber Verlag
Von André Hatting |
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Ein Junge stirbt. Ein anderer schaut nur zu und vergräbt anschließend die Leiche. Auf einem sommerlichen Campingplatz werden Jugendliche von ihren Abgründen gequält. In seinem Debütroman lässt Victor Jestin jedoch viele Fragen offen.
Wen schon früher eine Grundskepsis befiel beim Gedanken an Campingplätze, an Gruppendusche und Tütensuppe, dem verleiden Victor Jestins Beschreibungen von kollektiven Sonnenbränden in der Dauerhitze, Zeittotschlagen ohne Intimsphäre und beglückt schwitzenden Leibern unter wohlfeilen Anfeuerungen eines Animateurs im Kaninchenkostüm endgültig jeden Gedanken, jemals seinen Sommerurlaub in diesem Purgatorium verbringen zu wollen. Jestin will aber in seinem Romandebüt "Hitze" mehr, als Urlaubshorror zu verbreiten. Das ist das Problem.

Ein spätpubertierender Außenseiter

"Oscar ist tot, weil ich ihm beim Sterben zugesehen habe, ohne mich zu rühren." So lautet der erste Satz des Romans, und schon sollen wir in seelische Abgründe schauen. In die des 17-jährigen Léonard, der die letzten Tage seines Campingurlaubs mit Eltern und Geschwistern erlebt.
Wir Leser erleben die nächsten 150 Seiten, wie es ist, mit dieser Schuld durch unterlassene Hilfeleistung umzugehen - und wie das die Gefühle eines spätpubertierenden Außenseiters, den schon das halbstarke Gepose seiner Altersgenossen arg befremdet, noch einmal zusätzlich aufs Schrecklichste verwirrrt. "In siebzehn Jahren kaum Dummheiten. Keine wirklich große Dummheit. Ich hatte nie betrogen, geklaut, geschlagen. Nur selten beleidigt. Hass und Wut hatte ich brav in mir angesammelt."

Sein quälendes Geheimnis

In dieser einen Nacht aber überlässt der brave Léo nicht nur einen Jungen dessen Verzweiflung. Er vergräbt dann auch noch dessen Leiche am Strand. Lesern und Hauptfigur bleibt bis zum Schluss völlig unklar, warum. Vielleicht ist es eine Übersprungshandlung, eine perverse Form der Solidarität mit Oscar, weil der schüchterne Léo ebenfalls mit sexuellen Leistungsdruck kämpft: "Man musste mindestens ein Mal gefickt haben, auch wenn es trostlos war. Nur ein Mal, damit die Ferien nicht verloren waren, um beruhigt abfahren zu können."
Ausgerechnet mit Luce, dem Mädchen das zuvor etwas mit Oscar gehabt hat, kommt es dann zur Urlaubsaffäre. Neben Luce ist Louis der einzige, mit dem Léonard etwas anfangen kann. Sein quälendes Geheimnis aber vertraut er auch ihnen nicht an. Während den feinsinnigen Léonard seine moralische Verfehlung quält, erscheint Louis als tumber Hallodri, vollständig auf Sex mit Mädchen fixiert.

Keine seelischen Abgründe

Aber wie in billigen Krimis der Gärtner immer der Mörder ist, so muss der Junge, der am lautesten und häufigsten "Ficken" brüllt, sich am Ende als schwul entpuppen. Diese Wendung ist so unoriginell wie die Konstruktion des gesamten Romans und dessen Ende so banal, dass es sich nicht einmal lohnt, es zu verraten. Unfreiwillig komisch wird es, wenn der 17-Jährige Léonard spricht, als sei er sein eigener Opa: "Die Jugendlichen, dachte ich, tun es heute immer früher."
Die Suche dieser Jugendlichen nach Liebe, Moral, Glück ist kein neues Thema in der Literatur. Das wäre egal, wenn es wenigstens neu erzählt würde. Schuldgefühle wegen einer verbuddelten Leiche am Strand eines Campingplatzes reichen nicht. Das sind keine seelischen Abgründe. Das ist als Tiefe getarnte Oberfläche.

Victor Jestin: "Hitze"
Kein & Aber, Zürich 2020
160 Seiten, 20 Euro

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