Victor Klemperer: "Licht und Schatten. Kinotagebuch 1929 -1945"
Herausgegeben von Nele Holdack und Christian Löser
Aufbau Verlag, Berlin 2020
363 Seiten, 24 Euro
"Ich bin so sehr gern im Kino, es entrückt mich"
07:29 Minuten
Das seit Ende der 1920er-Jahre geführte "Kinotagebuch" zeigt Victor Klemperer als begeisterten Cineasten. Es reflektiert nicht nur kritisch das Zeitgeschehen, sondern zeigt auch, was Filmkunst gerade in kulturfeindlichen Zeiten bedeuten kann.
"Ich bin so sehr gern im Kino, es entrückt mich", notiert Victor Klemperer in sein "Kinotagebuch", das er seit Ende der 1920er-Jahre akribisch führte. Ab der ersten Seite ist es eine Überraschung. Dass dieser wichtige Zeitzeuge der Nazizeit, einer der großen Philologen des 20. Jahrhunderts, der mit "Lingua Tertii Imperii" eine prägnante Sprachanalyse des Dritten Reichs vorlegte, auch ein begeisterter Kinogänger war, ist vielen nicht bekannt. Denn in seinen Tagebuchaufzeichnungen, die in den 90er-Jahren ein Bestseller wurden, mussten diese Kinoperlen aus puren Platzgründen weichen.
Nun erleben wir seine persönliche Kinogeschichte als Zeitreise: Wie der konvertierte Jude in der Zeit des Nationalsozialismus Filme erlebte, wie sich die Schrauben der Schikanen weiterdrehten, wie sich der Alltag immer mehr verdüstert und das Kino, wenigstens eine Zeitlang, ein kleiner Schutzraum wurde.
Feiner, pointierter Cineastenblick
Im "Kinotagebuch", das Nele Holdack und Christian Löser unter dem Titel "Licht und Schatten" herausgegeben haben, entpuppt sich Klemperer als Fan. Einer, der oft mehrmals in der Woche ein Lichtspielhaus besuchte. Dass es für ihn mehr als eine Filmleidenschaft ist, zeigt der feine, pointierte Cineastenblick, den er im Laufe der Jahre entwickelt. Ein Augenmensch, der in sehr direkten Beschreibungen von Schauspielern die Geschichte, die Stimmung und Färbung festhält. Zu "Herrin der Liebe" mit Greta Garbo notiert er im Sommer 1929: "völlig wirr, sinnlos, kitschig, aber die Garbo sehr schön und ausdrucksvoll". Oft bringt er es gleich im ersten Satz auf den Punkt: "Heut war ich bei Frida", ein "erotischer Irrungsschwank französischer Machart, aber ein allerlustiger und hervorragend gespielter". Seine kurzweiligen, klaren Notizen langweilen an keiner Stelle.
Wettern gegen den Tonfilm
Victor Klemperer sieht alles, was damals in Dresden gezeigt wurde: die großen Meisterwerke, weniger bekannte Filme und das ganz normale, operettenhafte Unterhaltungskino. Das Kinotagebuch beginnt 1929, da geht der Professor der Technischen Universität noch unbefangen in die Lichtspielhäuser. Der Fritz Lang-Film "Frau im Mond" aus dem Jahr 1929 begeistert ihn ("technisch ungemein packend dargestellt"), zugleich wettert er gegen den Tonfilm, für Klemperer ein Graus, hier gibt er den ästhetisch Konservativen gegen "die Künstlichkeit, das Tote, den Ersatz".
Gemeinsam mit seiner Frau Eva beschließt er gar einen Tonfilm-Boykott. Das ändert sich, als sie 1932 die Tragikomödie "Der blaue Engel" auf der Leinwand sehen, der Inhalt zwar "melodramatischer Kitsch – claro", aber "die Marlene Dietrich, fast noch besser als Emil Jannings". Natürlich kann der Akademiker auch ordentlich austeilen: "Erotisch, pervers aufgepeitscht, bei Sinnlosigkeit", kommentiert er einen Hans Heinz Ewers-Film, zu Chaplins "Großstadtlichter" sinniert er: "ich glaube auch nicht, dass es bei Chaplin noch eine Weiterentwicklung gibt". Frei und direkt wagt Klemperer hier Urteile, gesteht sich auch Irrtümer ein, oft herrlich verblüffend und kurios.
Hysterische Wochenschauen
Der Ton der Notizen ändert sich, als sich Anfang der 30er-Jahre die politische Lage zunehmend verdüstert, Klemperer die Lehrbefugnis entzogen wird, sich alte Freunde vom "Juden-Klemperer" abwenden. Scharf und detailgenau reflektiert er das Zeitgeschehen. Etwa wie die Wochenschauen immer hysterischer werden: "Heilgebrüll am Brandenburger Tor, ausgestreckte Faschistenarme", kommentiert er den "qualvollen politischen Teil" eines Kinoabends. Ein politischer und wacher Zeitgenosse, der all die Zeichen richtig zu deuten vermag. Auch in den Filmproduktionen liest er den propagandistischen Untertext mit. "Der deutsche Lustspielfilm marschiert", notiert er im Herbst 1936. Im Kinosessel sitzend, geht ihm nach einer Hitlerrede in der Wochenschau das Grundprinzip der Sprache des Dritten Reiches auf: "Das böse Gewissen, sein Dreiklang: sich verteidigen, sich rühmen, anklagen – niemals ein Moment des ruhigen Aussagens".
Als Klemperer 1938 sogar der Gang ins Kino untersagt wird, das ihm "doch ein Stückchen Freiheit und Leben bedeutete", vermag auch diese Schikane seine Kinoleidenschaft nicht zu schmälern. In feinster Gedankenarbeit zoomt er sich vertraute Filmszenen vor sein geistiges Auge. Und das ist das Eindrückliche an Victor Klemperers "Kinotagebuch": Dass es nicht nur seine wichtige Chronistenrolle unterstreicht, sondern berührend offenlegt, wie einen die Filmkunst in kulturfeindlichen Zeiten buchstäblich retten kann.