Victor Sebestyen über das Jahr 1946

Schwieriger Neubeginn

Sogenannte Displaced Persons auf dem US-Transporter "Marine Flasher" winken beim Auslaufen des Schiffs am 10. Mai 1946 in Bremerhaven zum Abschied. Sie konnten im Rahmen des US-Einwanderungsprogramms in die Vereinigten Staaten auswandern.
Sogenannte Displaced Persons auf dem US-Transporter "Marine Flasher" beim Auslaufen des Schiffs im Mai 1946 in Bremerhaven. Sie konnten im Rahmen des US-Einwanderungsprogramms in die Vereinigten Staaten auswandern und ein neues Leben beginnen © picture alliance / dpa / UPI
Von Wolfgang Schneider |
1945 endete der Zweite Weltkrieg, die internationale Ordnung löste sich auf. 1946 fing etwas Neues an. Der Historiker Victor Sebestyen hat dieses Jahr in den Blick genommen - und ein mitreißendes Buch geschrieben.
Seit einigen Jahren werden Jahreszahlen zu Erzählmustern. Geschichtsbücher verschreiben sich dem historischen Querschnitt. So werden vielfältige Ereignisse und Perspektiven, Parallelaktionen und lokale Differenzen deutlich. Dabei kommen immer mehr Umbruchsjahre in den Blick: 1917, 1938, 1815 oder – wie nun in Victor Sebestyens mitreißender Darstellung – 1946.
Während 1945 ein Jahr des Endes ist – das Ende des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus vor allem – lässt sich 1946 als Jahr des unerhört schwierigen Neubeginns definieren, in dem sich bereits globale Entwicklungen der folgenden Jahrzehnte abzeichnen, allen voran der Kalte Krieg. Daher ist es ein frustrierendes Jahr: Noch sind die Folgen des Zweiten Weltkriegs nicht in Ansätzen bewältigt, da scheint bereits der dritte nah.
Hunger, Kälte, ethnische Säuberungen: der Krieg hatte fürchterliche Nachspiele
In Griechenland ging der Weltkrieg in den Bürgerkrieg über. Da das Land zur mit Churchill vereinbarten englischen Einflusszone gehörte, hielt sich Stalin zunächst zurück. Dass aber stattdessen Tito, der sich durch zahlreiche Rache-Massaker in Jugoslawien profilierte, die griechischen Kommunisten mit Geld und Waffen unterstützte, vertiefte die Spaltung zwischen den beiden sozialistischen Ländern. Andere Schauplätze des beginnenden Kalten Krieges sind die Türkei und das damals wichtigste Ölförderland Iran.
Tod durch Hunger und Kälte, ethnische Säuberungen und Vertreibungen – der Krieg hatte fürchterliche Nachspiele. Zu bewältigen war die größte Flüchtlingskatastrophe, die die Welt bis dahin gesehen hatte. Eindringliche Kapitel widmet Sebestyen den Displaced Persons, die durch Europa irrten, den befreiten Juden, die in ihren osteuropäischen Herkunftsländern oft unwillkommene Rückkehrer waren und Opfer neuer Pogrome wurden, den Russen, Ukrainern und Weißrussen, die als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Deutschland gelitten hatten und nach der "Zwangsrepatriierung" durch die westlichen Alliierten den Gulag oder das Erschießungskommando erwarteten.
Victor Sebestyen blickt auch nach Russland, Indien und China
Schwere, gewalttätige Unruhen zwischen Muslimen und Hindus gab es unterdessen in Indien, das kurz vor der Teilung stand. Auch hier: 15 Millionen Flüchtlinge und Umgesiedelte. In China tobte der Bürgerkrieg. England war pleite, das britische Imperium am Ende. In Palästina bombte die jüdische Untergrundbewegung Irgun die britische Mandatsregierung aus dem Land – Vorspiel zu den israelisch-arabischen Kriegen.
Auch dann, wenn Sebestyen über wohlbekannte Ereignisse und Zusammenhänge berichtet, fügt er ihnen ungewohnte Aspekte und Details hinzu. Selten wurden die Ambitionen, Probleme, Tücken und Widerstände bei der Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland so knapp und überzeugend dargestellt wie im Kapitel "Die Stunde Null".
Anschauliches Erzählen, fesselnde Porträts zentraler oder randständiger Akteure, pointierte Vermittlung der jeweiligen historischen Hintergründe – dies ist keine Studie, die die Forschung um neue Thesen bereichert, aber ein fabelhaftes Lesebuch für historisch Interessierte.

Victor Sebestyen: "1946 - Das Jahr, in dem die Welt neu entstand"
Rowohlt Verlag, Berlin 2015
480 Seiten, 24,95 Euro

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