Victoria de Grazia: "Der perfekte Faschist"

Die große Oper des Faschismus

19:52 Minuten
Buchcover zu "Der perfekte Faschist" von Victoria de Grazia
© Verlag Klaus Wagenbach

Victoria de Grazia

Aus dem Englischen von Michael Bischoff

Der perfekte Faschist. Eine Geschichte von Liebe, Macht und GewaltWagenbach, 2024

512 Seiten

38,00 Euro

Von Carsten Hueck · 19.05.2024
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Der italienische Faschismus gab das Modell ab für viele andere rechtsextreme Diktaturen. Wie er die Mittelmässigkeit großmachte, zeigt die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia am Beispiel von Mussolinis Kampfgefährten Attilio Teruzzi.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Oper als Kunstform genauso aus Italien kommt wie der Faschismus. Beide leben von der Inszenierung, den Helden, Kämpfen und Konflikten, dem großen Gefühl. Beide handeln von Verehrung, Macht und Gewalt. Kraftwerk der Gefühle nannte einst Alexander Kluge die Oper. Einen faschistischen Staat könnte man auch als eben dieses „Kraftwerk der Gefühle“ bezeichnen.
Schon im Untertitel ihres Buches macht die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia deutlich, dass es ihr beim Blick auf den Faschismus um solche Gefühlszustände geht: Begehren, Rausch. Ehrgeiz und Versagen, die wohl selten so eng sich miteinander verbinden wie in ihrer Hauptfigur Attilio Teruzzi. Indem sie den Lebensweg dieses 1882 geborenen Mailänders folgt, macht sie deutlich, welche Charaktere das System des Faschismus in Italien implementiert und gestützt haben, was für Charaktere es für seinen Bestand benötigte und welche es hervorbrachte.

Unscharfe Grenze zwischen Persönlichem und Politischem

„Menschen werden nicht als Faschisten geboren, sie werden dazu gemacht. Dass Attilio Teruzzi in gewisser Weise der archetypisch tugendhafte Krieger des imperialistischen Westens wurde, veranlasst uns zu der Frage, wie einzelne Menschen mit ihren Begierden und Sehnsüchten, ihren Träumen, Vorurteilen und kleinlichen Streitereien vom Lauf der Geschichte erfasst und umgemodelt werden. In diesem Sinne handelt es sich nicht um eine Biografie, sondern um die Sozialgeschichte eines Mannes, die uns anhand seines Weges durch das vertrackte Geflecht der politischen und zwischenmenschlichen Beziehungen, und das oft aus der Perspektive seiner Frau betrachtet, zeigt, wie der italienische Faschismus tatsächlich funktionierte.“

Victoria de Grazia liest Teruzzi als jenen sozialen Charakter, der nach ihrem Dafürhalten in mehr oder weniger allen totalitären politischen Systemen den Hauptakteur darstellt. Einer, der eine unscharfe Grenze zieht zwischen Persönlichem und Politischem, den eigenen Neigungen und den Befehlen seines Führers. Der die Werte der Familie achtet und sich dem Konstrukt der Nation verpflichtet fühlt. Die Heirat Attilio Teruzzis nimmt de Grazia als Ausgangspunkt zur Erkundung des moralischen Lebens unter der faschistischen Herrschaft. Die Moral ist ihr wichtig. Im englischen Originaltitel kommt sie vor, in der deutschen Übersetzung ist sie unerklärlicherweise durch „Gewalt“ ersetzt.

Faschismus als Melodram

Während in liberalen Demokratien Konflikte unverdeckt und in offener Debatte ausgetragen werden, und eine Unterscheidung zwischen religiösen, persönlichen und staatlichen Belangen stattfindet, vermischten sich im faschistischen Staat Konflikte, Gefühle und Ansprüche. Atillio Teruzzi verkörpert diese Vermischung.
Das macht dieses Buch interessant: Der Faschismus wird als Melodram gezeigt, gar nicht so modern, dann wäre er großes Kino. Er ereignet sich stattdessen in traditioneller Form, auf der Opernbühne.
Denn Mussolinis Vorstellung vom „Neuen Menschen“ speiste sich vor allem aus seiner Verachtung für dessen Vorgänger. Und so hatte Attilio Teruzzi im faschistischen System Italiens alle Chancen – eben ohne dass er tatsächlich Neues vorweisen konnte.

Unscheinbare Figur als Antiheld

Victoria de Grazia versteht es, die Zeit der ihr Protagonist erwächst und die Zeiten, in die hinein er wächst, plastisch darzustellen. Zwölf Jahre hat sie an ihrem Buch gearbeitet, viele Recherchen und Fachwissen aus vorrausgegangenen Publikationen sind darin eingegangen. Ein „Wörterbuch des Faschismus“ hat sie herausgebracht und ihr Werk über faschistische Vorstellungen von Weiblichkeit wurde mehrmals ausgezeichnet.
Vor allem das Erzählerische der Autorin macht eine erst einmal unscheinbare Figur wie Atillio Teruzzi interessant. Sie schafft ihm durch die anschaulichen Beschreibungen sozialer und politischer Verhältnisse ein Bühnenbild der Extraklasse. Und entwickelt eine Dramaturgie, die ihn zum Helden macht – gleichwohl er von seiner Qualifikation eher ein Antiheld ist.
General Attilio Teruzzi (rechts) mit den Marschällen Pietro Badoglio und Itali Balbo, im Jahr 1936 in Irpinia
Mussolinis Kampfgefährte Attilio Teruzzi (rechts) nahm schon beim Marsch auf Rom teil. Bei Kriegsende wurde er verhaftet, 1950 amnestiert und starb drei Wochen nach seiner Freilassung.© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Uncredited
Er bringt Disziplin in die Reihen der Faschisten, wird Verbindungsmann zwischen Partei und paramilitärischen Schwarzhemden und Mitorganisator des Staatsstreichs, Mussolinis Marsch auf Rom, der ihm einen Platz im Schattenkabinett des Duce einbringt. 1924 lässt sich Teruzzi als Mitglied der faschistischen Parteiführung - bei den letzten freien Wahlen für mehr als 20 Jahre - ins italienische Parlament wählen. Zwar ist Mussolini der Ansicht, eine hohe Funktion in der Partei sei unvereinbar mit sonstigen politischen Ämtern, aber Teruzzi ist auf dieser Ebene kein Idealist.

Detailreich und unterhaltsam

Victoria de Grazias Buch ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie Geschichte erzählt werden kann, wenn man Geschichten erzählt. Ihr Antiheld Teruzzi steigt im faschistischen Italien weiter auf. Aber man ahnt, dass die Geschichte nicht gut ausgeht.
Victoria de Grazia führt in ihrem Buch äußerst detailreich und auch unterhaltsam einen Typus vor, den es immer noch gibt. Sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse ihm Aufstiegsmöglichkeiten gestatten, wird er seine Chance ergreifen und das „Kraftwerk der Gefühle“ befeuern.
Unausgesprochen warnt dieses erzählende Sachbuch davor. Es zeigt das Kleine im scheinbar Großen, die absichtsvolle Inszenierung der Gefühle, ihren Missbrauch, den ideologisch verbrämten Kitsch. Und verschweigt auch nicht den unheilvollen Einfluss von Mitläufern, die in den Dunstkreis autoritärer Macht gelangen. Sie sind Brennholz für das Feuer, das diese entzündet.
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