Längst haben die Bilder auch das Radio erreicht: In den Online-Redaktionen von Deutschlandfunk, Deutschlandradio Kultur und DRadio Wissen gehen wir täglich mit ihnen um. Welche Regeln wir dabei beherzigen, erläutert DLF-Nachrichtenchef Marco Bertolaso im Video.
Über Bilder-Macht und Bilder-Macher
Ein Streifzug durch die Bilderwelt des 21. Jahrhunderts: Wie man zum Beispiel Krieg fotografiert, wie Bilder auf uns wirken, wieso wir immer misstrauischer ihnen gegenüber werden - und wie wir beim Deutschlandradio mit Bildern umgehen.
"Meine Mutter sagt immer… da bin ich mal zu einem Erdbeben gefahren nach Pakistan, und sie sagt: Ach, das ist gut. Wenigstens ist da kein Krieg! Aber die sagt auch: Kannst du nicht mal was Schönes fotografieren?
Das ist gar nicht so einfach, was Schönes zu fotografieren. Mir fehlt auch oft so ein bisschen die Bedeutung. Ich will eben Dinge fotografieren, die eine gewisse Relevanz haben, eine Relevanz für die Leute, für die ich da hinfahre, für die ich berichte, aber auch eine Relevanz für mich selbst."
"Noch während dem Studium habe ich einen Austausch gemacht mit einer Fotoschule in Jerusalem, ich war also drei Wochen in Jerusalem, habe bei einer israelischen Familie gelebt und war aber tagsüber immer im Gaza-Streifen unterwegs und im Westjordanland, was meine Gastmutter überhaupt nicht lustig fand, die hat schrecklich Angst um mich gehabt, aber das war total spannend. Und das hat vielleicht auch den Grundstein gelegt für dieses Interesse an politischen Ereignissen, aber auch des Selbst-Erlebens, dass ich selbst dabei sein darf und es selbst fotografieren, dokumentieren kann. Das ist natürlich was ganz Besonderes."
Christoph Bangert, 38 Jahre alt Kriegsfotograf. Er war in vielen Kriegs- und Krisengebieten und hat dort für Zeitungen und Magazine fotografiert: in Afghanistan etwa, im Irak, in Darfur und in Fukushima.
"Wir laufen eigentlich immer in die falsche Richtung. Die meisten Leute laufen weg, und meine Kollegen und ich, die laufen dann hin."
Die Zeiten, als es ein exklusiver Job war, aus Kriegs- und Krisengebieten zu berichten, sind vorbei. Inzwischen kann jeder, der ein Smartphone besitzt, seine Sicht der Dinge in die Welt hinaussenden: vom Katzenvideo bis zum Foto verwundeter Kinder aus Syrien. Wie viele Millionen Bilder täglich im Internet und den sozialen Netzwerken hochgeladen, geteilt und kommentiert werden, weiß niemand genau. Doch klar ist, wir sind einem regelrechten Bildertsunami ausgesetzt. Welche Auswirkungen hat das: für den Bildjournalismus, die politische Kommunikation, aber auch für unser Bild vom Bild? Was machen wir mit Bildern – und was machen sie mit uns?
1. Kapitel: ICH POSTE, ALSO BIN ICH
(Mädchen:)"Megakrass, wie die Frau filmt, wie ihr Mann dort verblutet eigentlich, oder? Dass die das auch öffentlich zeigt. Weiß nicht, kann ich nicht nachvollziehen, bin gerade ein bisschen geschockt. In so ner Situation Facebook. Im Leben nicht. Würde mir nie einfallen."
(Marion Müller:) "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das dann auf Facebook geteilt hätte. Aber das ist natürlich… ich will nicht sagen, die Waffe der kleinen Frau, des kleinen Mannes, aber das Dokumentarische, das potenziell jedem Bild innewohnt – das kann ich schon verstehen."
(Mädchen:)"Vielleicht ist die ganze Technik- und Medienwelt in Amerika noch weiter fortgeschritten als hier. Ich weiß nicht, ob die Suchtpotenziale noch erhöhter sind als bei uns. Aber das muss ja ein derartiger Schockmoment dieser Frau sein, dass sie den eigentlichen Fakt, dass sie handeln muss, weil ihr Mann da hinten fast stirbt, dass sie den ausblendet und jetzt erstmal diesen Moment festhalten und mit anderen teilen muss, damit sie eine Reaktion darauf bekommt. Mitleid – oh Gott, du arme Frau, was ist euch Krasses passiert oder so?"
Falcon Heights im US-Bundesstaat Minnesota, 6. Juli 2016. Bei einer Fahrzeugkontrolle schießt ein Polizist auf den 32-jährigen Afroamerikaner Philando Castile, weil dieser zur Waffe gegriffen haben soll.
Castile wird von mehreren Kugeln getroffen, sein weißes T-Shirt färbt sich allmählich rot. Immer noch steht der Polizist mit gezückter Waffe am Wagenfenster. Castiles Lebensgefährtin Diamond Reynolds, die neben ihm im Auto sitzt, greift zum Smartphone und postet die Szene als Live-Stream bei Facebook.
Philando Castile erliegt seinen Schussverletzungen wenig später im Krankenhaus. Das Video von Diamond Reynolds sehen mehrere Millionen Menschen. Vor Ort formieren sich spontane Proteste gegen diesen weiteren Fall von Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Der Vorfall erregt großes nationales und internationales Aufsehen – weil er auf Video dokumentiert ist. Diamond Reynolds wird gefeiert, weil sie in dieser kritischen Situation Geistesgegenwart und Nervenstärke bewiesen hat. Selbst der Gouverneur von Minnesota nennt ihr Verhalten "heroisch".
Das Leben als Facebook-Livestream
Im September 2016 besucht ein Reporter der "Washington Post" Diamond Reynolds. Das Porträt, das er anschließend über sie schreibt, macht vor allem eines deutlich: Es war für die junge Frau vollkommen normal, ihr Leben gleichsam als Facebook-Livestream zu leben. Häufig griff sie zur Smartphone-Kamera und wandte sich – "hey, everybody" - an ihr Publikum. Und als ihr Anwalt ihr nach den Vorfällen vom Juli riet, erst einmal nichts mehr in den Sozialen Medien zu posten, um ihre Privatsphäre zu schützen, nutzte sie eben den Account eines Freundes.
"Es ist wieder mal eine Generationenfrage", sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Marion Müller von der Jacobs-Universität Bremen. "Das ist dann der Griff zum Handy, der einfach da ist. In allen 30-Jährigen und jünger, die 2004 – 2006 mit dieser digitalen Revolution groß geworden sind, da ist der Griff zum Handy, ob man da anruft oder ob man ein Foto oder einen Film macht, eine normale Reaktion."
Ob es nun das Nudelgericht zum Abendessen ist oder der Unfall, dessen Zeuge man zufällig wird – alles wird gefilmt, gepostet und geteilt. In der Wahrnehmung vieler Menschen ist etwas, von dem es kein Bild gibt, gar nicht passiert ist, meint Marion Müller. Und manchmal führt diese "Sharing Culture" auch zu befremdlichen Reaktionen:
"Es gibt kaum noch was, was nicht beobachtet wird. Das ist wirklich eine kulturelle Praxis, die sich geändert hat – in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern. Bei uns hat es eben solche zivilisatorischen Auswüchse, anstatt Erste Hilfe zu leisten, filme ich das und versuche damit entweder Geld zu machen oder meinen Freundeskreis zu beeindrucken."
2. Kapitel: WARUM DIE REVOLUTION DES BILDJOURNALISMUS – BISHER – AUSGEBLIEBEN IST
(Christoph Bangert:) "Bei uns Fotografen war das eigentlich schon immer so, dass Milliarden von Menschen fotografiert haben, Hobbyfotografen waren und auch schöne Bilder gemacht haben, aber nicht jeder, der einen Stift besitzt, ist auch ein Autor. Nicht jeder, der eine Kamera hat und fotografiert, ist auch ein Fotojournalist."
(Marion Müller:) "Der Konkurrenzdruck ist enorm, wobei ich sagen würde, dass vor zwei, drei Jahren, als das Phänomen aufkam, war das ein riesiger Wildwuchs."
(Christoph Bangert:) "Die meisten Handyfotografen arbeiten in Einzelbildern, und das ist mehr so ein bisschen ein Zufall. Dass man zufällig irgendwo ist und ein sehr aussagekräftiges Bild macht und das wird dann veröffentlicht, aber das hat mit meiner Arbeit eigentlich sehr wenig zu tun."
(Marion Müller:) "Mein Eindruck ist, dass sich gerade in der Profifotografie da einiges zu sortieren beginnt, weil eben es so viele Bildangebote gibt, dass man doch sehr viel stärker auf Qualität achtet und auf Nachweislichkeit; und das hat mit einem ganz anderen Grund zu tun und auch mal wieder mit einem kommerziellen, und das ist eben die Verletzung von Bildrechten."
Ob Hurrikan, Terror oder Zugunglück – wenn irgendwo auf der Welt etwas Dramatisches geschieht, ist der erste, der ein Foto davon schießt, in der Regel ein Amateur mit seinem Smartphone. Schon früh witterten kommerzielle Bildagenturen in diesen "Bürgerjournalisten" eine Chance: Portale wie "You Witness News" von Yahoo und Reuters ermöglichten Nutzern, ihre Fotos kostenlos dort zu posten, sicherten sich aber im Gegenzug die Verwertungsrechte gegen kein oder wenig Geld.
Vom Fotografieren bis zum Kunden in drei bis vier Minuten
(Kay Nietfeld:) "Was dadurch gekommen ist, ist, dass einfach viel mehr Leute sich berufen fühlen, fotografieren zu können und durch diese Bildschwemme, die es jetzt überall gibt, der Preiskampf ein anderer geworden ist. Das Bild an sich hat im Alltag vielleicht nicht mehr den Wert, also auch monetär, den es früher mal hatte."
Der Fotograf Kay Nietfeld - im riesigen Newsroom von dpa, der größten deutschen Nachrichtenagentur. Hier arbeitet Kay Nietfeld seit 1994. Lange Gänge, dazwischen Arbeitsinseln aus weißen Tischen, viele Monitore. Inzwischen ist man hier fast so schnell wie Facebook.
"Unsere Fotografen sind in der Regel so ausgerüstet, dass sie ihre Bilder nicht nur übers Laptop, sondern auch direkt aus der Kamera in die Bildzentrale senden können, dann werden die Bilder hier bearbeitet und ausgesandt. Das geht dann in einer Zeitabfolge vom Auslösen bis das Bild beim Kunden ist, von – sagen wir mal – drei bis vier Minuten."
Aber es ist eben nicht immer ein professioneller Fotograf vor Ort, wenn etwas Unerwartetes geschieht, und dann hätte natürlich auch dpa gern Amateuraufnahmen. Zum Beispiel das Foto des gefesselten Terrorverdächtigen Jaber Al-Bakr auf dem Sofa in der Leipziger Wohnung:
"Das hat dann eine Tageszeitung schneller als wir bekommen. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Wir versuchen an diese Bilder heranzukommen, aber man hat halt dann auch nur eingeschränkt Zugriff darauf. Da geht’s ja auch um Geld, in dem Fall weiß ich es jetzt nicht, ob da irgendwelche Gelder gezahlt wurden… Bei anderen wichtigen Fotos weiß ich auch, dass hohe Preise aufgerufen werden für so ein Bild, und das kann dpa auch nicht ins Unbegrenzte mitgehen."
Wenn Bilder leicht gefälscht werden können, kommt es auf Vertrauen an
Zumal bei solchen Amateuraufnahmen aus dem Netz immer auch die Echtheit geklärt werden muss. Seit Bilder nur noch aus Pixeln bestehen, ist es relativ leicht geworden, sie zu manipulieren. Bilder können technisch gefälscht sein, indem Dinge hinzugefügt oder wegretuschiert werden. Sie können gestellt sein. Sie können an einem ganz anderen Ort aufgenommen worden sein als angegeben wird.
Und nachdem immer wieder manipulierte Bilder in der Öffentlichkeit aufgetaucht sind, ist die Euphorie ob der neuen Möglichkeiten der Smartphonefotografie inzwischen weitgehend verflogen. Zwar finden Handybilder von spektakulären Ereignissen nach wie vor Eingang in die traditionellen Medien – die große Revolution im Bildjournalismus ist jedoch ausgefallen.
"Letztlich ist es gerade als Nachrichtenagentur wichtig, dass man einen Kreis von Fotografen beschäftigt, zu denen man volles Vertrauen haben kann, die Wahrheit abbilden und so ein bisschen weggehen aus dieser stilisierten Welt. Das bringen die sozialen Netzwerke ja auch mit sich, dass alles auch ein Stück weit stilisiert wird."
Denn spurlos ist die Smartphonefotografie eben doch nicht am professionellen Bildjournalismus vorbeigegangen. Auch die Bildästhetik hat sich durch die Amateurfotografie verändert:
"Da wird ja jetzt wenig der ganz normale Alltag gezeigt, sondern erstmal spielen die Leute für sich eine größere Rolle: die zeigen SICH in diesem Alltag, vor sechs Jahren wurde noch nicht so viel über Selfies gesprochen und heute ist Selfie einer der gängigsten Begriffe in der Fotowelt. Und diese Stilisierung, dieses Ich-Zeigen, glaube ich schon, gepaart mit einem gewissen Glamour, hat, glaube ich, das Foto noch mal neu geprägt."
3. Kapitel: WIE BILDER AUF UNS WIRKEN
Am 2. September 2015 kentert ein überfülltes Flüchtlingsboot vor der türkischen Küste. Fünfzehn Menschen sterben, darunter der dreijährige Aylan Kurdi. Das Bild des toten Jungen am Strand von Bodrum geht um die Welt.
"Das hat sicherlich zu dem Impetus und der Schlagkraft dieses Merkelschen Satzes beigetragen. Das hat noch mal die Botschaft, jetzt müssen wir endlich was tun, verstärkt. Also, das hat sehr viel ausgelöst."
Marion Müller, Professorin für Massenkommunikation an der Jacobs-Universität Bremen. Das Bild des toten Flüchtlingsjungen wurde zur Ikone: zum Sinnbild für das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik, aber auch zum Symbol für die Macht des Bildes.
Die Wucht, mit der Bilder auf uns wirken, liegt an der Art, wie unser Gehirn Bilder verarbeitet, meint Marion Müller. Denn die Verarbeitung von Texten folgt einer argumentativen Logik, die von Bildern nicht.
"Jetzt muss man sich die textuelle Kommunikation vorstellen, das ist sehr sequentiell. Da gibt es eine Grammatik mit bestimmten Regeln. Da gibt es ein Vokabular, das zur Verfügung steht. Eine gewisse Pragmatik der Sprachnutzung, und es gibt ganz viele Regeln, an die sich Personen halten, um gut verständlich zu sein. Diese Regeln gibt es nicht bei der Bildkommunikation. Aus der Semiotik und Sprachwissenschaft kommt da häufig: wir müssen verstehen, wie Bilder gelesen werden. Nein! Das hat nichts mit Lesen zu tun, sondern Bilder werden geschaut, und die werden im Gehirn anders verarbeitet als Textinformation.
Bilder werden im Kopf mit Vor-Bildern abgeglichen
Bildverarbeitung funktioniert assoziativ: Wir alle laufen mit einem Bilderbuch im Kopf herum, meint Marion Müller.
"Das sind automatisch Vorbilder, auf deren Hintergrund Sie die Bilder interpretieren. Das können Sie gar nicht beeinflussen willentlich, das passiert einfach. Das heißt, auch der Erfahrungsschatz, den die jeweilige Person mitbringt und die Erwartungshaltung, die beeinflusst auch, wie ich die Bilder interpretiere und verarbeite."
Wir reagieren viel emotionaler auf Bilder als auf Text. Dennoch hält Marion Müller es für falsch, Bilder als grundsätzlich dem Text in ihrer Wirkung überlegen zu betrachten, wie einige Wissenschaftler meinen.
"Die andere wissenschaftliche Meinung geht dahin – und ich tendiere eher zu der – dass Bilder grundsätzlich viele Bedeutungen haben. Ganz unterschiedliche, auch gegensätzliche und dass es eigentlich der Text bzw. im Film eben auch Ton und Musik sind, die die beabsichtigte Bedeutung festlegen."
Das hat Marion Müller einmal gemeinsam mit zwei Psychologinnen im Experiment getestet. Die Wissenschaftler nahmen ein Foto aus dem Kaukasuskrieg 2008 und versahen es mit unterschiedlichen Bildunterschriften.
"Das ist also ein Mann, ein älterer Mann, der am Straßenrand steht und die Hände ringt, also beide Hände zusammenpresst und in die Höhe reckt und dann fahren irgendwelche Panzer vorbei, das ist das einzige, was man dort sehen kann, und der eine Untertitel war: Ein Mann aus Ossetien freut sich darüber, dass die russischen Truppen kommen. Und das andere Mal hieß es: Ein Mann aus Ossetien bedauert, dass die russischen Truppen abziehen, also es ist einmal ein freudiger Gestus, das andere Mal ein verzweifelter Gestus."
Wir glauben immer noch, was wir sehen
Nach einer Interpretation des Bildes gefragt, wählten die meisten Versuchsteilnehmer die Bedeutung, die der Bildunterschrift entsprach, sagt Marion Müller.
"Das heißt, der Text ist eben doch das stärkere Schwert – nur das Bild ist eben omnipotent und kann für ganz viele unterschiedliche Bedeutungen eingesetzt oder eben auch missbraucht werden."
Vielleicht die größte Macht, die Bilder über uns haben, ist jedoch: Fotos suggerieren Augenzeugenschaft. Dass auch Bilder einen Autor haben, vergessen wir nur allzu oft.
"Bei Texten, da steht dann der Name der Journalistin, des Journalisten drunter, und dieses 'gemacht', dass das an eine Person gebunden ist, das wird tatsächlich ganz, ganz häufig in unserer Alltagswahrnehmung ausgeblendet bei Fotografien."
4. Kapitel: BILD UND WIRKLICHKEIT
Ein kleines, schwarzes Mädchen kauert auf einem verdorrten Steppenboden. Es ist abgemagert bis auf die Knochen und bis auf eine Halskette nackt. Im Hintergrund lauert ein Geier. Das Bild ist eines der bekanntesten und umstrittensten in der Geschichte der Fotografie. Geschossen wurde es 1993 während der Hungersnot im Sudan vom südafrikanischen Fotografen Kevin Carter, der dafür 1994 den Pulitzer-Preis bekam. Wenige Wochen danach beging Carter Selbstmord.
(Christoph Bangert): "Es wurde später oft gesagt, dass es das nicht ausgehalten hat, das Bild zu machen, er wurde auch sehr stark kritisiert für dieses Bild, weil es war eben auch nur ein Ausschnitt. Man weiß eben, dass dieses Bild ganz in der Nähe von einer Krankenstation gemacht wurde, wo den Leuten auch geholfen wurde, und er wurde dann gefragt, hast du denn das Kind aufgehoben und da hingetragen? Und er hat gesagt: nee, das hab ich nicht gemacht. Und ich glaube, er hat da sehr mit gekämpft, dass er das nicht gemacht hat. Er hätte das wahrscheinlich machen sollen."
Der Fotograf Christoph Bangert. Später äußerte sich auch Kevin Carters Kollege und Begleiter Joao Silva zu den Rahmenbedingungen, unter denen das Bild entstanden sein soll. So waren Carter und Silva mit einem UN-Flug im Sudan, der Nahrungsmittel für die hungernde Bevölkerung brachte. Und laut Silva haben die Eltern das Kind nur kurz allein gelassen, um sich am Flugzeug Lebensmittel zu holen.
"Das ist natürlich ein Riesenproblem. Es ist immer nur ein Ausschnitt, was wir machen. Wir manipulieren im Grunde immer. Es ist immer ein technischer Trick. Fotografie stellt nicht die Wahrheit dar. Wir interpretieren die Realität, es ist nie objektiv."
Wenn Bilder uns "moralisch den Arm umdrehen", sind sie zu einfach
Und möglicherweise ist die Interpretation in diesem Fall zu einfach und eindimensional geraten, meint Christoph Bangert.
"Wir suchen allerdings auch nach solchen Bildern. Vielleicht sind wir als Betrachter da auch irgendwie mit schuld. Wir wollen es einfach haben: sterbendes Kind und Geier, ja klar, verstehen wir, Hungersnot – das ist zu einfach! Wir müssen kompliziertere Bilder drucken, wir müssen vielleicht Bilder drucken, die vielschichtiger sind, die uns als Betrachter vielleicht noch mehr herausfordern, und dann haben wir vielleicht auch nicht so das Gefühl wie bei diesem Bild, dass uns so moralisch der Arm umgedreht wird. Dass wir also gar keine Chance haben, das irgendwie anders zu sehen. Dass wir nur sehen müssen: armes Kind, böser Geier, das ist ganz schrecklich da, die Kinder verhungern. Obwohl es in der Realität vielleicht doch etwas komplizierter ist."
5. Kapitel: AUCH DIE MANIPULATION FÜR EINEN GUTEN ZWECK IST EINE MANIPULATION
Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Zu keiner anderen Zeit im Jahr geben die Deutschen mehr Geld für wohltätige Zwecke aus. Insgesamt waren es 2015 etwa sieben Milliarden Euro. Um dieses Geld konkurriert eine Vielzahl von gemeinnützigen und karitativen Organisationen, vom kleinen Sportverein aus der Nachbarschaft bis zum multinationalen Hilfskonzern. Um Spender zu gewinnen, veranstalten sie Plakatkampagnen, veröffentlichen Videos oder schreiben die Menschen direkt an. Dann schlägt wieder die Stunde der Kinderbilder, gerade bei Spendenwerbung im Internet.
"Da gibt es nach wie vor die Problematik, dass mit extrem gefühlsbetonten Bildern gearbeitet wird, dass eben Organisationen auf den kurzfristigen Erfolg setzen, gerade auch solche, die im Grunde keinen guten Namen zu verlieren haben, mit sehr emotionalen Bildern, häufig Kindern in extremen Notsituationen, stark abgemagert, und diese sehr aufrüttelnden Bilder werden häufig dann noch unterlegt mit weiteren Druckelementen: dass also der Angeschriebene direkt angesprochen wird. Sehr geehrter Herr Wilke, bitte lassen Sie unsere Kinder nicht im Stich! Wenn Sie nicht spenden, dann sterben diese Kinder, manchmal gibt es sogar ultimativ noch Fristen, die gesetzt werden: bitte spenden Sie innerhalb von 14 Tagen…",
...sagt Burkhard Wilke, Leiter des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin.
Hier beobachtet man sehr genau, welche Bilder in der Spendenwerbung eingesetzt werden, denn das Institut vergibt das DZI-Spendensiegel, eine Art Unbedenklichkeitsbescheinigung, die potenziellen Spendern vermittelt: mit dieser Organisation ist alles in Ordnung. Und dazu gehört neben einer transparenten, seriösen Verwendung der Spendengelder auch, dass eindeutig, wahr und sachlich um Spenden geworben wird. Das heißt nicht, dass keine Kinder abgebildet werden dürften:
"Wo es aus unserer Sicht eine rote Linie geben muss, ist, wo die Bilder zu sehr drängend werden, zu Drastisches abbilden, sodass sie über eine begrenzte Emotion und ein Gewinnen der Spender hinausgehen und die Menschen in die Ecke drängen, sie zum Spenden nötigen, das ist abzulehnen, nicht aber der Bildeinsatz an sich, der vollkommen nicht nur üblich, sondern auch sinnvoll ist, um die Menschen über die Verwendung und die Notlagen zu informieren."
Bilder dürfen die Menschenwürde nicht verletzen...
Während gerade im Internet mit immer drastischeren Bildern um Spenden geworben wird, haben sich die großen seriösen Hilfsorganisationen längst von einer rein auf Schlüsselreize setzenden Werbung verabschiedet. Manchmal ist hier sogar eine regelrechte Bilderscheu zu beobachten, wenn etwa "Brot für die Welt" in der aktuellen Plakatkampagne ganz auf Fotos verzichtet, sondern mit schlichten Piktogrammen wirbt und kurzen Texten wie "Satt ist gut. Saatgut ist besser".
Solche Zurückhaltung hat zum einen mit ethischen Überlegungen zu tun: damit, dass es die Menschenwürde verletzt, die Not anderer zu instrumentalisieren, auch wenn es noch so sehr für den guten Zweck ist.
"Hier würde ich ganz klar sagen, der Zweck heiligt nicht jedes Mittel, weil wenn das Mittel bedeutet, extrem mitleidsbezogene Bilder einzusetzen, dann verkürzt das die Realität, dann setzt das die Spenderinnen und Spender in eine vollkommen defensive Entscheidungssituation, wo sie im Grunde mehr zum Spenden genötigt als überzeugt werden und in der Situation haben dann gerade Organisationen, die mit Fakten und Wirkung nichts wirklich vorzuweisen haben, einen Wettbewerbsvorteil."
...auch nicht die Würde der Betrachter
Aber wer auf drastische Bilder setzt, muss von Mal zu Mal heftigeres Material präsentieren, um überhaupt noch Aufmerksamkeit erzielen zu können, da bei den Betrachtern ein Abstumpfungsprozess einsetzt.
"Das ist eine Endlosspirale, und genau aus dem Grund gibt es auch bei den seriösen Organisationen eine Überzeugung, eher zurückhaltend zu werben, um langfristig die Spendenbereitschaft zu erhalten."
Offen ist allerdings, ob das angesichts der immer krasseren Bilder, die in den Sozialen Medien kursieren, auf Dauer so bleiben wird.
Burkhard Wilke ist optimistisch und setzt auf die kritische Öffentlichkeit. Denn mit der Bilderflut im Internet ist auf der anderen Seite auch die Zahl derer gewachsen, die dadurch sensibiliert worden sind für die Macht und das manipulative Potenzial der Bilder.
"Ich bin auch davon überzeugt, dass der Großteil der Spenderinnen und Spender das nicht gutheißen würde, das zeigen die sehr kritischen Reaktionen, die selbst in den sozialen Netzwerken weitergereichte Videos von leidenden, sterbenden Menschen bei Anschlägen auch erzeugen."
6. Kapitel: UND IMMER WIEDER KRIEG
(Christoph Bangert:) "Die meiste Zeit ist unsere Berichterstattung irgendwo in der Mitte, wir zeigen also dramatische Bilder, Bilder, die man vielleicht erwartet. Wir zeigen Krieg so, wie wir Krieg kennen und erwarten, aber Krieg ist noch viel mehr."
Christoph Bangert kam 2005 in den Irak, als der Feldzug gegen Saddam Hussein zwar beendet war, aber die Auseinandersetzung in eine Art Guerillakrieg gegen die Besatzungsmacht überging, der viele Todesopfer forderte. Diesen Krieg hat Christoph Bangert als Gleichzeitigkeit von zwei Extremen erlebt: den Horror der Bomben und Toten auf der einen Seite, auf der anderen ein im Vergleich dazu banaler, fast absurd wirkender Alltag.
"Die Leute gehen zur Arbeit und in die Universität – und zwei Straßen weiter sterben die Leute wie die Fliegen bei Bombenattentaten auf irgendwelche Märkte, die so völlig sinnlos sind, die sich absolut gegen die Zivilbevölkerung richten."
Leid zeigen, ohne es auszuschlachten - geht das?
Diese Extreme – die Grausamkeit und der Alltag – kommen in der üblichen Kriegsberichterstattung kaum vor, meint Christoph Bangert. Er hat sie fotografiert: die Toten, Verwundeten und Verstümmelten. Der Mann, der mit durchgeschnittener Kehle auf eine Müllkippe liegt. Der Alte auf der Krankenhausliege mit Verbrennungen am ganzen Körper. Es sind Bilder, die Zeitungsredakteure ihren Lesern normalerweise nicht zumuten wollen. Also hat Christoph Bangert vor zwei Jahren ein Buch daraus gemacht. "War Porn" hat er es genannt: Kriegpornografie.
"Wir müssen uns das ansehen, wir müssen auch genau hingucken, was ist da passiert, wie schlimm das eigentlich war. Dass es eine totale Katastrophe für die irakische Zivilbevölkerung war, das müssen wir irgendwie anerkennen, damit müssen wir uns beschäftigen."
Auch die absurde Seite gehört zum Krieg
In diesem Sommer ist ein zweites Kriegsbuch von Christoph Bangert erscheinen, "Hello Camel". Es versammelt absurde und skurrile Momentaufnahmen: den schwerbewaffneten Wachsoldaten, der auf einem wackligen Stuhl balanciert, um über die Mauer sehen zu können. Ein Wärterhäuschen im Niemandsland zwischen Stacheldraht und Mauern. Und immer wieder Kamele…
"...weil das Kamel so ein bisschen zum Symbol des Fremden wurde, was die Soldaten, junge Leute, Deutsche in Afghanistan, Amerikaner und Briten im Irak erlebt haben. Das hatte fast so was Touristisches. Die sind also immer mit ihren Jeeps da rumgefahren und jedes Mal, wenn sie Kamele gesehen haben, haben sie laut ausgerufen: Kamele! Was natürlich total absurd ist. Das wäre so, als würde ein irakischer Soldat durch Deutschland fahren und immer "Kühe!" rufen."
"Man muss natürlich auch suchen nach diesen Momenten. Ich war selbst überrascht, wie absurd diese Ereignisse sind, wie komisch, wie eigenartig, wie skurril so ein Krieg eigentlich ist. Wie wenig Sinn das überhaupt macht. Und ich war überrascht, dass man das tatsächlich auch fotografieren kann. Und meine Hoffnung ist, dass diese Bilder aus dem "War Porn"-Buch, aber auch aus dem "Hello Camel"-Buch authentisch sind. Authentisch in dem Sinne, dass es zu dem passt, was diese Menschen, also die Soldaten, aber auch die Zivilisten vor Ort erlebt haben."