Die Verlogenheit der Kritiker
Die Gamescom in Köln ist die größte Videospiel-Messe der Welt. Games sind hier nicht nur großartig, sondern auch Kulturgut. Doch außerhalb der Messehallen müssen Spieler mit Vorurteilen kämpfen, kritisiert die Schriftstellerin Pieke Biermann.
"Gewalt ist widerwärtig und aufregend, die verfemteste und verklärteste aller menschlichen Handlungsweisen", hat der US-amerikanische Soziologe Randall Collins in seiner Studie über "Die Dynamik der Gewalt" formuliert. Und: Die meisten Menschen seien "nicht gut in Gewalt". Trotzdem - oder deswegen - scheint sie zum globalen Problem Nummer eins mutiert zu sein.
Seit der digitalen Revolution werden wir überflutet mit mehr oder weniger eindrücklicher Information über Gewalt: Nachrichtenmedien berichten rund um die Uhr über Gewalttaten aus aller Welt, die Wissenschaft erforscht sie. Fiction in Buch- und Filmform füttert uns mit Gewaltdarstellung, und dann ist da noch der weltweite Boom der Computer-Games, jener Shooter, die zumindest von Politikern als "Killerspiele" gescholten werden.
Letztere werden pünktlich nach jedem Amoklauf, jedem verstörenden Gewaltexzess ins Visier genommen: als "Tötungstrainings-Software" und Sozialisationsinstanz Nummer eins für künftige IS-Halsabschneider. Grotesker als derlei Ursache-Wirkung-Kurzschlüsse ist vermutlich nur noch die Behauptung der National Rifle Association nach dem Amoklauf von Newton, Connecticut, 2012: "Nicht Waffen töten Menschen. Videospiele, die Medien und Obamas öffentlicher Haushalt töten Menschen."
Dabei weiß man eine Menge anderes, Differenziertes gerade über Amoklauf und andere exzessive Gewalt. Es gab sie lange vor der Entdeckung des Cyberspace, die Täter sind eine zum Glück winzige Minderheit, die Blaupausen für ihre Taten stammen von analogen "Vorbildern" und inzwischen auch aus Amok-Rankings im Netz, ihre Motive und die Umsetzung sind in individuellen Zusammenhängen zu finden - insbesondere in Männlichkeits- und Ohnmachtserfahrungen. Ein direkter Zusammenhang zwischen Shooter-Games und zunehmender Gewaltbereitschaft und Gewaltfähigkeit dagegen konnte selbst in heftigen politisch-medialen Druckwellen bisher nicht nachgewiesen werden.
Erinnerung an das Antiporno-Geschrei den 1980er-Jahren
Seltsamerweise wird aber nur Games eine mögliche Verführungskraft unterstellt. Warum eigentlich?
Auch in Krimi-Fanportalen gibt es Rankings: für "besonders blutrünstige, brutale Romane" - übrigens oft von Autorinnen. Und bei krimi-couch.de lief schon 2004 eine Diskussion, warum Krimis eigentlich immer mehr zu Schlachteplatten mit Überbietungszwang geraten.
Und was ist mit der frühkindlichen Sozialisation durch Grimms Märchen? Durch die Bibel? Ist Lektüre einfach nicht so eindrucksvoll, oder stehen Bücher per se unter Kulturschutz? Welche stete Tröpfcheninfektion bedeuten wohl gefühlte 20 Krimiserien pro Fernsehabend? An was für ein Weltbild wird man da hinterrücks gewöhnt - zumal wenn sexy Polizisten nonchalant über Leben und Tod entscheiden und Leichen prinzipiell nicht schmutzen? Schließlich: Wie gewöhnen uns Nachrichtensendungen unterschwellig an Gewalt, Terror, Krieg?
Solange all das nicht öffentlich diskutiert wird, wirkt der Zeigefinger Richtung Computerspiele wie ein Ablenkungsmanöver. Er erinnert fatal an das Antiporno-Geschrei in den 1980er-Jahren, in dem jede Pornodarstellerin als Ikone weiblicher Unterwerfung denunziert wurde, eine explizit auf Unterwerfung angelegte Figur wie Krystle Carrington vom Denver-Clan dagegen komplett "übersehen".
Pieke Biermann, Jahrgang 1950, lebt und arbeitet als freie Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin in Berlin.