Viel mehr als Klezmer

Von Ralf Bei der Kellen |
Wenn es um moderne jüdische Musik geht, dann fällt früher oder später der Name des Saxophonisten und Komponisten John Zorn. Das Jüdische Museum in Berlin präsentiert eine Sonderausstellung zur Geschichte dieser Musik.
"Zorn tat mit seinem Stück 'Kristallnacht' etwas sehr Radikales. Es ist eine großartige Komposition, aber sie ist sehr auf Konfrontation angelegt: Die Musik war extrem laut, sie sollte den Leuten eine Ahnung von dem Gefühl des Schreckens und der Intensität der Situation geben, die die Menschen damals durchlebten."

So erinnert sich der Bassist Greg Cohen an die Uraufführung jenes Stückes, mit dem alles begann. Im September 1992 fand in München das "Festival for radical new Jewish Music" statt. Dort erlebte das Publikum die Uraufführung des Stückes "Kristallnacht" von John Zorn unter der Leitung des Komponisten. Die Musiker trugen Judensterne; an einer Stelle war eine lange, ohrenbetäubende Klangcollage aus zersplitterndem Glas zu hören.

Anlässlich des Festivals veröffentlichte Zorn ein Manifest, in dem er die Geburtsstunde einer neuen jüdischen Musik, der Musik der "Radical Jewish Culture" postulierte. Was folgte, war eine Kontroverse, die bis heute nachwirkt. Kritiker warfen Zorn vor, mit dem Manifest andere innovative Musiker zu ignorieren – zum Beispiel die des Klezmer-Revivals, das seit Anfang der 80er-Jahre in den USA stattfand. Außerdem stellte sich bald heraus, dass die einzelnen Musiker der von Zorn ausgerufenen Bewegung mit dem Begriff "radical" völlig verschiedene Dinge assoziierten.

Matthias Dreyfuss: "Der Begriff 'radikal' ist vieldeutig: Für einige Musiker steht eine radikale Ästhetik im Vordergrund – zum Beispiel für John Zorn und Anthony Coleman. Andere interpretieren ihn als politische Radikalität, wie die Gitarristen Marc Ribot und Elliot Sharp. Und für wieder andere – wobei sich die Gruppen hier überschneiden – verweist 'radikal' auf die jüdischen Wurzeln."

Matthias Dreyfuss. Er war Kurator einer 2010 im Musée d’art et d’histoire du Judaisme in Paris zu sehenden Ausstellung zur Geschichte dieser musikalischen Bewegung. Bis zum Juli 2011 wird diese nun auch im Jüdischen Museum Berlin zu sehen sein.

Mit seinem Manifest brachte Zorn eine Entwicklung auf den Punkt, die sich bereits Ende der 80er-Jahre abzeichnete. Damals hatte sich in der avantgardistischen Musikszene im New Yorker Stadtteil Manhattan eine Gruppe von Musikern zusammengefunden, die sich immer stärker mit ihrer jüdischen Herkunft und dem damit verbundenen kulturellen Erbe auseinandersetzten.

Matthias Dreyfuss: "Diese Musiker sind zu circa 90 Prozent nicht religiös. Ihre Beziehung zum Judentum stammt aus der Kindheit, sie erinnern sich zum Beispiel an ihre Bar-Mitzvah nicht immer positiv, aber manchmal schon. Und es geht ihnen um die Beziehung zwischen Juden und Nicht-Juden in den Großstädten, vor allem in New York, und den Stellenwert jüdischer Kultur in New York, wo sie komplett mit der Alltagskultur der Stadt verschmolzen ist."

Diesen jüdischen Beitrag zur amerikanischen Kultur und besonders zur Musikkultur herauszustellen, ihn sichtbar zu machen, sieht Zorns als eine der wichtigsten Aufgaben der "Radical Jewish Culture"-Bewegung.

Bald nachdem er der Bewegung ihren Namen gegeben hatte, machte sich John Zorn daran, eine Reihe von Melodien zu komponieren, die eine Grundlage für wechselnde Gruppen von Musikern aus seinem Umfeld bilden sollten. So entstand das von ihm sogenannte "Masada Songbook". Und das war weit weniger radikal als "Kristallnacht":

1995 gründete Zorn das Plattenlabel Tzadik, benannt nach dem achtzehnten Buchstaben des hebräischen Alphabets. Darüber hinaus bedeutet "Tzadik" auch "Der Gerechte". Hier veröffentlicht Zorn auch eine Serie von CDs mit dem Titel "Radical Jewish Culture", in der bis heute um die 150 Titel erschienen sind. Der in Berlin lebende Trompete Paul Brody hat bereits drei CDs in dieser Serie veröffentlicht:
"Der hat eine Plattform für zeitgenossische jüdische Musik eigentlich und Kultur kreiert. Und das ist groß. Unglaublich groß. Dieser Begriff ist wie – wie Feuer. (lacht) Und Leute hören es gern und sie wollen es gern, aber ehrlich zu sagen: New Jewish Music – Neue Jüdische Musik ist ein besserer, nüchterner Begriff."
Paul Brody bringt es auf den Punkt: Zorns Postulat einer "Radical Jewish Culture" war in seiner Radikalität dazu angetan, auf die Bewegung aufmerksam zu machen, sorgte aber immer wieder für Irritationen und Missverständnisse. Und auch Zorns Rolle bei Tzadik hat ihm Kritik eingebracht – schließlich bestimmt er als "executive producer" allein, was auf seinem Label erscheint und was nicht. 2005 gab er dem amerikanischen National Public Radio eines seiner seltenen Interviews zu diesem Thema. Auf die Frage, was genau eine Musik "jüdisch" mache, antwortete er:

"Ich mache das Label jetzt schon seit einiger Zeit, aber ich glaube nicht, dass ich diese Frage exakt beantworten kann. Das können eine Menge Dinge sein. Es kann auch einfach die Intention sein, eine solche Musik machen zu wollen. Es kann eine bestimmte Tonleiter sein, ein dramatisches Thema oder ein Motiv; es kann etwas Historisches sein, es kann etwas rein Emotionales sein. Es kann alles und nichts sein. Ich weiß es nicht."

Brody: "Es ist einfach, zu kritisieren, aber – wozu? Ich meine, wir alle brauchten diese Plattform, wir alle brauchten ein Label, eine Institution, die sagt: okay, hier ist unsere Familie, eine Familie von Musikern, von Künstlern, die aus einer bestimmten Kultur oder deren Ideen aus einer bestimmten Kultur kommen. Und das hat er gemacht."

Ein wesentliches Anliegen Zorns war und ist es, zu zeigen, dass jüdische Musik nicht nur Klezmer ist, sondern noch vieles mehr sein kann.
Die verschiedenen Musiken, die in der "Radical Jewish Culture"-Serie erscheinen, könnten kaum disparater sein. Da ist zum Beispiel der Bassist David Gould, der mit seiner Band jüdische Melodien mit Reggae verband. Oder die Zusammenarbeit zwischen der Jazzgruppe Greg Wall’s Later Prophets und dem Rabbiner Itzchak Marmorstein.

Oft treffen sich in der "Radical Jewish Culture"-Serie musikalische Kulturen, die man vorher nicht unbedingt miteinander in Verbindung gebracht hätte. So zum Beispiel in der Musik des auf Kuba geborenen Perkussionisten Roberto Rodrigues, dessen Eltern, wie 15.000 andere kubanische Juden auch, nach der Revolution die Insel verließen und in die USA übersiedelten.
Hört man sich durch die verschiedenen CDs der Serie, stellt man allerdings schnell eine Dominanz von Projekten fest, die zum Jazz tendieren. Ein Beispiel ist die CD "I Believe" des Saxophonisten Daniel Zamir. Die Improvisationsgrundlage für das Titelstück ist ein Nigun, ein religiöser Gesang, der von Juden während der Shoah komponiert wurde.

Der an der Aufnahme beteiligte Bassist Greg Cohen sieht sogar eine direkte Verbindung zwischen der Improvisation im Jazz und dem Ausdruck von Glauben:

"Wenn jemand versucht, seinen Glauben durch ein Lied oder durch ein laut geäußertes Gebet auszudrücken, bedarf es immer eines improvisatorischen Elements, damit es ehrlich und aufrichtig sein kann. Man muss sich selbst darin ausdrücken. Daher war die Aufnahme dieses Stücks ein sehr natürlicher und sich schnell entwickelnder Prozess."

Und immer wieder geht es in dieser Musik um die Suche nach der eigenen jüdischen Identität der Musiker.
Auch der Tompeter Paul Brody entstammt einer jüdischen Familie. Seine Mutter floh Ende der 30er Jahre als Kind aus Wien nach England. Für sie schrieb er das Stück "Goodbye For Jetzt", das auf aktuellen CD auf Tzadik "For The Moment" erschien. Paul Brody erklärt den Titel:

"Vor einigen Jahren war meine Mutter sehr krank. Und sie wurde ein bisschen besser und dann hat sie uns besucht. In Berlin. Und dann als sie gegangen ist, ich wusste nicht, ob ich sie wiedersehe. Und das war sehr heavy für mich."

Für Musiker der "zweiten Generation" wie Paul Brody war die Pionierarbeit John Zorns und seiner frühen Mitstreiter wie Marc Ribot oder Anthony Coleman sehr wichtig.
Wie auch immer man die Rolle John Zorns beurteilen mag; eines hat die "Radical Jewish Culture"-Bewegung auf jeden Fall erreicht: Einen bewussten Umgang vieler jüdischstämmiger Musiker mit ihrem kulturellen Erbe. Und nicht zuletzt hat sie viele wunderbare Musik hervorgebracht.

Paul Brody: "Ich lächle, wenn ich daran denke, weil vorher die Idee, jüdische Musik auf der Bühne zu spielen, war mir ein bisschen (schnalzt), das war mir zu nah. Ich wollte das nicht auf der Buhne machen, ich wollte maybe das zu Hause machen. Und es ist soweit gegangen, dass ich sogar chassidische Geschichten auf der Bühne erzählt habe, zwischen Stücken. Das ist ein verrücktes Leben. (lacht)"

Informationen des Jüdischen Museums Berlin zur Ausstellung "Radical Jewish Culture"