"Viele Ärzte haben das satt"
"Behandlung muss an den Patienten orientiert sein und nicht am Profit." Das sagt Peter Tinnemann, der an der Berliner Charité angehende Ärzte im Umgang mit Vertretern der Pharmaindustrie schult. Er rät jungen Medizinern, sich unabhängig über Medikamente zu informieren - anstatt sich von Lobbyisten beeinflussen zu lassen.
Britta Bürger: Schaut man sich auf dem Schreibtisch von Ärzten um, dann springen einem schnell alle großen Pharmakonzerne ins Auge. Ihr Logo findet sich auf Kugelschreibern und Notizblöcken, auf dem Kalender und dem Mousepad. Die Unternehmen finanzieren Auslandsreisen, Fortbildungen und vieles mehr. Bevor es dazu kommt, dass sich Ärzte unter Umständen sogar dafür bestechen lassen, ihren Patienten bestimmte Medikamente zu verabreichen, setzt die Berliner Charité auf Aufklärung. Und so wird es auch im jetzt beginnenden Sommersemester wieder einen Kurs geben, der die angehenden Mediziner im Umgang mit Pharmavertretern schult. Verantwortlich dafür ist Peter Tinnemann, er leitet den Projektbereich Internationale Gesundheitswissenschaften am Institut für Sozialmedizin der Charité und ist jetzt zu uns ins Studio gekommen. Ich grüße Sie, Herr Tinnemann!
Peter Tinnemann: Schönen guten Nachmittag!
Bürger: Sie wollen Medizinstudenten darüber aufklären, mit welchen Strategien die Pharmaindustrie versucht, auf sie einzuwirken. Erkennen die Studierenden überhaupt ihre Gefährdung?
Tinnemann: Also, weder die Studierenden, noch die Ärzte erkennen ihre Gefährdung. Die meisten glauben, wenn sie einen Kugelschreiber geschenkt bekommen haben oder einen Block, auf den Sie gerade schon mal hingewiesen haben, der dann zu Hause auf dem Schreibtisch liegt und wo ein Medikamentenname draufsteht, dass man dadurch nicht beeinflusst wird. Das kann man in der Hand haben, da glaubt jeder Arzt und jede Ärztin, das macht doch gar nichts mit mir. Aber das ist eigentlich falsch. Die Studien, die wir dazu haben, die vor allem aus dem angloamerikanischen Raum stammen, die zeigen, genau dieser Kuli wirkt, genau der Bleistift wirkt.
Bürger: Tatsächlich der Kugelschreiber, da fängt es an! Und wo endet es?
Tinnemann: Nach oben hin ist, glaube ich, nichts offen. Aber das Wichtige ist ja, dass man erst mal im Kleinen anfängt und sich darüber bewusst wird, dass auch der Kugelschreiber schon eine Wirkung hat und dass man sich darüber klar ist, dass es funktioniert damit, dass man es einsieht. Und wenn man einen Kugelschreiber annimmt, sich darüber ganz bewusst im Klaren ist und dass man ihn möglicherweise auch ablehnen kann.
Bürger: Sie haben verschiedene Rollenspiele entwickelt, die Sie mit den Studierenden proben. Geben Sie uns ein, zwei Beispiele? Was machen Sie da?
Tinnemann: Also, wir haben beispielsweise einmal eine Einführung, wo wir den Studierenden erklären, wie funktioniert das eigentlich mit dem Pharmavertreter, warum kommt der zu euch? Wir zeigen ihnen Auszüge, Fragen aus einem Lehrbuch für Pharmavertreter, und die Studierenden machen sich darüber Gedanken, was will er jetzt eigentlich damit bewirken, wieso erzählt der mir das eigentlich? Warum kommt der eigentlich und ist so nett zu mir und wie kann ich damit umgehen? Die meisten Ärzte und Ärztinnen erleben das entweder im Studium oder sonst, wenn sie fertige Medizinerinnen und Mediziner sind, im Krankenhaus, dass sie erstmals Kontakt haben. Und hier versuchen wir, den Studenten einen Raum zu bieten, wo sie das einfach mal untereinander ausprobieren können, wie rede ich mit so jemandem, der mich beeinflussen will?
Bürger: Und, wie redet man mit so jemandem?
Tinnemann: Na ja, am Anfang ist das immer viel Gelächter und Gegibbel dabei und die Studenten machen viele Sachen ein bisschen zynisch und es ist amüsant. Aber spannend finde ich schon, wie schnell sie dann auch wieder ernst werden bei der Sache, wie sie merken, Moment mal, da ist jetzt einer übertrieben höflich zu mir und das kann man ja schön mal machen mit Studierenden, aber wie man dann plötzlich darauf eingeht! Und das sind einfach diese Spiele, die wir da mal ausprobieren.
Bürger: Aber können sich Ärzte ohne solche Vertretergespräche denn überhaupt einen Überblick verschaffen über die Flut von Medikamenten, sind Sie nicht auch angewiesen auf diese Form der Beratung?
Tinnemann: Also, Beratung ist es ja nicht, das ist ein Verkaufsgespräch in der Regel. Es kommt niemand zu Ihnen, um Ihnen etwas anzupreisen und Ihnen sozusagen dann die Möglichkeit zu überlassen, dass Sie sich auch was anderes auswählen können, sondern man möchte sie dazu hinbringen, dass Sie das, was Ihnen angepriesen wird, auch dann benutzen, darum geht es. Natürlich, in der heutigen Zeit, wo dauernd neue Wirkstoffe auf den Markt kommen oder viele neue Wirkstoffe oder viele alte Wirkstoffe im neuen Kleid daherkommen, ist es schwierig häufig für Ärzte, überhaupt noch den Überblick zu behalten, aber ich denke, das ist genau die ärztliche Verantwortung. Und es ist sicherlich meiner Ansicht nach verantwortungslos, sich nicht unabhängig zu informieren. Ich denke, Ärzte haben durchaus die Möglichkeit, es gibt unabhängige Zeitschriften, die unabhängige Informationen über Wirkstoffe präsentieren, und da sollte jeder Arzt erst mal drüber Bescheid wissen, dass es die gibt, und zum anderen diese auch nutzen.
Bürger: Die Pharmaindustrie soll mehr als das Doppelte von dem, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt, in die Werbung stecken. Die "taz" schrieb gerade von 15.000 Pharmavertretern, die durch deutsche Krankenhäuser und Arztpraxen ziehen, mit dem Ziel, ihre Produkte zu platzieren. Was wissen Sie denn genau über deren Strategien der Manipulation?
Tinnemann: Man ist in der Regel jung, gut aussehend, freundlich, charmant und natürlich kein alter Brummbär, der einem was verkaufen will. Das sind Verkäufer mehr oder weniger. Dass die nicht einfach losziehen und mal denken, jetzt mache ich mal etwas, sondern angeleitet sind, die sind in der Regel sehr gut informiert über das, wie man umgeht mit anderen Menschen, und wissen über ihre Produkte, die sie an den Markt bringen sollen, auch sehr gut Bescheid, das ist ganz klar.
Aber das Problem ist ja darin heutzutage, dass die meisten unabhängigen Informationen schwer zugänglich sind für Medizinerinnen. Die unabhängigen Informationen sind zugänglich, aber nicht so präsent wie beeinflusste Informationen. Wenn Sie heute eine Fachzeitschrift lesen, einen Fachartikel, ist es oft so, dass Sie gar nicht wissen, welcher Ausschnitt der Zahlen, der gesamten Untersuchung wird mir da eigentlich präsentiert, wie wird mir der eigentlich präsentiert? Wer präsentiert ihn mir eigentlich, wer hat eigentlich den Artikel geschrieben, wer hat eigentlich diese Studie durchgeführt?
Und da sind sehr, sehr viele unterschiedliche Ansätze, wo bereits schon Beeinflussung stattfinden kann. Und das muss den Studenten mal klargemacht werden. Die Studierenden müssen wissen, wo schon beeinflusst wird, ob der Mediziner, der Universitätsgelehrte, der die Studie durchgeführt hat, vielleicht schon dafür bezahlt wird, das zu tun. Ob derjenige, der sie zusammengeschrieben hat, auf der Lohnliste der Pharmaindustrie steht beziehungsweise derjenige, der den Fachartikel dann an den Mann heranbringt, an den Mediziner in der Hausarztpraxis, ob der dann auch dafür bezahlt wird.
Bürger: Verdächtige Geschenke, Peter Tinnemann schult an der Berliner Charité angehende Ärzte im Umgang mit Pharmavertretern. Das ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur. Und neuerdings schulen Sie, Herr Tinnemann, nicht nur Studenten, sondern auch gestandene Mediziner. Die haben vermutlich schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Wie offen wird dort über Interessenkonflikte gesprochen?
Tinnemann: Also, wir haben das erste Mal ein Seminar durchgeführt ein ganzes Wochenende. Was beeindruckend war, dass wirklich interessierte Ärzte, über 30 Ärztinnen und Ärzte hatten wir da, sich neben ihrer Arbeitszeit ein ganzes Wochenende Zeit genommen haben, um das Thema zu diskutieren. Und man hat gemerkt, wie es den Kolleginnen und Kollegen unter den Fingern brennt, und wir haben die gleichen Inhalte, die wir an die Studenten vermitteln in diesem Seminar, noch mal weitervermittelt. Und es war beeindruckend, mit welcher Leidenschaft auch über das Problem diskutiert wurde.
Viele Ärzte haben das satt, die wollen einfach nicht mehr beeinflusst werden. Es gibt Initiativen wie die Ärzteinitiative "Mein Essen zahle ich selber", wo sie sagen, ich will gar nichts mehr mit Pharmavertretern zu tun haben! Aber in unserem Seminar hat man auch gemerkt, dass untereinander einfach viele Fragen noch offen sind. Und es war natürlich auch hier ein, wie ich fand, eine schöne Plattform, ein schön geschützter Raum, wo man sich unter Kolleginnen und Kollegen einfach mal über das Thema austauschen kann: Wie oft kommt so jemand zu mir, was empfinde ich eigentlich dabei, wie wehre ich den eigentlich ab? Wie muss ich eigentlich mal so eine Studie lesen und wo um Gottes Willen kommt die unabhängige Information her?
Bürger: Es wäre für solche Seminare sicher auch interessant, mal Vertreter der Pharmakonzerne selbst einzuladen. Haben Sie das gemacht?
Tinnemann: Ja, wir haben das ein paar Mal versucht, für die Studierenden, die haben immer danach gefragt, warum ladet ihr nicht mal jemanden ein? Die haben meistens im letzten Moment abgesagt. Das war frustrierend. Letztendlich, muss ich sagen, sind wir dazu übergegangen zu sagen, wir wollen hier einen Raum haben, eine Plattform schaffen, wo sich die Studierenden untereinander austauschen können, miteinander reden können über das Thema, und wir brauchen da nicht mehr noch weichgekochte Information, die da reingespült wird, die wir dann ja auch nicht für besonders sachlich halten.
Bürger: Sie waren ja selbst einige Jahre für Ärzte ohne Grenzen in Afrika, Sie haben erlebt, wie Menschen gar keinen Zugang zu Medikamenten haben. Sie waren aber auch in Großbritannien tätig, wo es ganz andere gesetzliche Regelungen der Medikamentenvergabe gibt als hier bei uns in Deutschland. Inwieweit haben Sie diese Auslandserfahrungen dazu gebracht, die Situation in Deutschland so kritisch zu hinterfragen?
Tinnemann: Für mich war das prägend, mein erster Einsatz war mit einer kleinen Organisation in Haiti und ich habe dort in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet und wir hatten keine Medikamente, um unsere kleinen Patienten gegen HIV behandeln zu können. Und das hat mich schon ärgerlich gemacht. Also, wenn man die Kinder sterben gesehen hat, weil es keine Medikamente gab vor Ort, aber ich wusste, dass es diese Medikamente in Deutschland durchaus gibt.
Und da fängt man an, sich die Frage zu stellen, warum ist das eigentlich so, muss das eigentlich sein? Wie kommen die Medikamente an den Mann, warum können manche so billig sein, warum sind manche so teuer? Wie kommen die unterschiedlichen Preise zustande? Wie kann es sein, dass wir heute Medikamente in armen Ländern für 100 Euro verkaufen können, antiretrovirale Medikamente, die aber immerhin noch in Deutschland für eine Jahresbehandlung um die 10.000 Euro kosten? Und dann fangen Sie an, sich mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen und so kam ich letztendlich zu dem Thema, das auch an meine Studenten weiterzugeben.
Bürger: Die Charité ist ja wie vermutlich alle Universitätskliniken selbst auch mit der Pharmaindustrie verbandelt. Es gibt unter anderem Forschungsverträge mit Sanofi-Aventis, ist das nicht auch problematisch?
Tinnemann: Also, ich persönlich finde, wir sollten darüber nachdenken, ob wir nicht in der Zukunft uns unabhängige Wissenschaftler schaffen. Ich finde das schon ein Gebiet, das man zunehmend infrage stellen sollte, dass unabhängig finanzierte, staatlich finanzierte Forscher gleichzeitig noch Forschungsaufträge annehmen von der Privatindustrie. Ich denke, als Patient möchten Sie, dass Sie ein Medikament erhalten, das das richtige für Sie ist. Das wollen Sie in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt haben. Und Sie möchten nicht, dass Sie das bekommen, weil jemand damit Geschäfte macht. Das kann jetzt Ihr Hausarzt sein, das kann ein Unternehmen generell sein oder aber auch eine Uniklinik. Und ich finde, wir müssen dahin kommen, Gesundheit ist ein so hohes Allgemeingut, das ist uns allen so wichtig, tagtäglich, dass wir dahin kommen müssen, dass wir das auch als ein solches entsprechend behandeln. Das ist unabhängig, Behandlung muss unabhängig sein, Behandlung muss an den Patienten orientiert sein und nicht am Profit.
Bürger: Wie Mediziner lernen sollen, dem Einfluss der Pharmaindustrie zu entgehen, das hat uns Peter Tinnemann erläutert, der genau das an der Berliner Charité unterrichtet, wo am Montag das neue Semester beginnt. Danke Ihnen fürs Gespräch!
Tinnemann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Peter Tinnemann: Schönen guten Nachmittag!
Bürger: Sie wollen Medizinstudenten darüber aufklären, mit welchen Strategien die Pharmaindustrie versucht, auf sie einzuwirken. Erkennen die Studierenden überhaupt ihre Gefährdung?
Tinnemann: Also, weder die Studierenden, noch die Ärzte erkennen ihre Gefährdung. Die meisten glauben, wenn sie einen Kugelschreiber geschenkt bekommen haben oder einen Block, auf den Sie gerade schon mal hingewiesen haben, der dann zu Hause auf dem Schreibtisch liegt und wo ein Medikamentenname draufsteht, dass man dadurch nicht beeinflusst wird. Das kann man in der Hand haben, da glaubt jeder Arzt und jede Ärztin, das macht doch gar nichts mit mir. Aber das ist eigentlich falsch. Die Studien, die wir dazu haben, die vor allem aus dem angloamerikanischen Raum stammen, die zeigen, genau dieser Kuli wirkt, genau der Bleistift wirkt.
Bürger: Tatsächlich der Kugelschreiber, da fängt es an! Und wo endet es?
Tinnemann: Nach oben hin ist, glaube ich, nichts offen. Aber das Wichtige ist ja, dass man erst mal im Kleinen anfängt und sich darüber bewusst wird, dass auch der Kugelschreiber schon eine Wirkung hat und dass man sich darüber klar ist, dass es funktioniert damit, dass man es einsieht. Und wenn man einen Kugelschreiber annimmt, sich darüber ganz bewusst im Klaren ist und dass man ihn möglicherweise auch ablehnen kann.
Bürger: Sie haben verschiedene Rollenspiele entwickelt, die Sie mit den Studierenden proben. Geben Sie uns ein, zwei Beispiele? Was machen Sie da?
Tinnemann: Also, wir haben beispielsweise einmal eine Einführung, wo wir den Studierenden erklären, wie funktioniert das eigentlich mit dem Pharmavertreter, warum kommt der zu euch? Wir zeigen ihnen Auszüge, Fragen aus einem Lehrbuch für Pharmavertreter, und die Studierenden machen sich darüber Gedanken, was will er jetzt eigentlich damit bewirken, wieso erzählt der mir das eigentlich? Warum kommt der eigentlich und ist so nett zu mir und wie kann ich damit umgehen? Die meisten Ärzte und Ärztinnen erleben das entweder im Studium oder sonst, wenn sie fertige Medizinerinnen und Mediziner sind, im Krankenhaus, dass sie erstmals Kontakt haben. Und hier versuchen wir, den Studenten einen Raum zu bieten, wo sie das einfach mal untereinander ausprobieren können, wie rede ich mit so jemandem, der mich beeinflussen will?
Bürger: Und, wie redet man mit so jemandem?
Tinnemann: Na ja, am Anfang ist das immer viel Gelächter und Gegibbel dabei und die Studenten machen viele Sachen ein bisschen zynisch und es ist amüsant. Aber spannend finde ich schon, wie schnell sie dann auch wieder ernst werden bei der Sache, wie sie merken, Moment mal, da ist jetzt einer übertrieben höflich zu mir und das kann man ja schön mal machen mit Studierenden, aber wie man dann plötzlich darauf eingeht! Und das sind einfach diese Spiele, die wir da mal ausprobieren.
Bürger: Aber können sich Ärzte ohne solche Vertretergespräche denn überhaupt einen Überblick verschaffen über die Flut von Medikamenten, sind Sie nicht auch angewiesen auf diese Form der Beratung?
Tinnemann: Also, Beratung ist es ja nicht, das ist ein Verkaufsgespräch in der Regel. Es kommt niemand zu Ihnen, um Ihnen etwas anzupreisen und Ihnen sozusagen dann die Möglichkeit zu überlassen, dass Sie sich auch was anderes auswählen können, sondern man möchte sie dazu hinbringen, dass Sie das, was Ihnen angepriesen wird, auch dann benutzen, darum geht es. Natürlich, in der heutigen Zeit, wo dauernd neue Wirkstoffe auf den Markt kommen oder viele neue Wirkstoffe oder viele alte Wirkstoffe im neuen Kleid daherkommen, ist es schwierig häufig für Ärzte, überhaupt noch den Überblick zu behalten, aber ich denke, das ist genau die ärztliche Verantwortung. Und es ist sicherlich meiner Ansicht nach verantwortungslos, sich nicht unabhängig zu informieren. Ich denke, Ärzte haben durchaus die Möglichkeit, es gibt unabhängige Zeitschriften, die unabhängige Informationen über Wirkstoffe präsentieren, und da sollte jeder Arzt erst mal drüber Bescheid wissen, dass es die gibt, und zum anderen diese auch nutzen.
Bürger: Die Pharmaindustrie soll mehr als das Doppelte von dem, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt, in die Werbung stecken. Die "taz" schrieb gerade von 15.000 Pharmavertretern, die durch deutsche Krankenhäuser und Arztpraxen ziehen, mit dem Ziel, ihre Produkte zu platzieren. Was wissen Sie denn genau über deren Strategien der Manipulation?
Tinnemann: Man ist in der Regel jung, gut aussehend, freundlich, charmant und natürlich kein alter Brummbär, der einem was verkaufen will. Das sind Verkäufer mehr oder weniger. Dass die nicht einfach losziehen und mal denken, jetzt mache ich mal etwas, sondern angeleitet sind, die sind in der Regel sehr gut informiert über das, wie man umgeht mit anderen Menschen, und wissen über ihre Produkte, die sie an den Markt bringen sollen, auch sehr gut Bescheid, das ist ganz klar.
Aber das Problem ist ja darin heutzutage, dass die meisten unabhängigen Informationen schwer zugänglich sind für Medizinerinnen. Die unabhängigen Informationen sind zugänglich, aber nicht so präsent wie beeinflusste Informationen. Wenn Sie heute eine Fachzeitschrift lesen, einen Fachartikel, ist es oft so, dass Sie gar nicht wissen, welcher Ausschnitt der Zahlen, der gesamten Untersuchung wird mir da eigentlich präsentiert, wie wird mir der eigentlich präsentiert? Wer präsentiert ihn mir eigentlich, wer hat eigentlich den Artikel geschrieben, wer hat eigentlich diese Studie durchgeführt?
Und da sind sehr, sehr viele unterschiedliche Ansätze, wo bereits schon Beeinflussung stattfinden kann. Und das muss den Studenten mal klargemacht werden. Die Studierenden müssen wissen, wo schon beeinflusst wird, ob der Mediziner, der Universitätsgelehrte, der die Studie durchgeführt hat, vielleicht schon dafür bezahlt wird, das zu tun. Ob derjenige, der sie zusammengeschrieben hat, auf der Lohnliste der Pharmaindustrie steht beziehungsweise derjenige, der den Fachartikel dann an den Mann heranbringt, an den Mediziner in der Hausarztpraxis, ob der dann auch dafür bezahlt wird.
Bürger: Verdächtige Geschenke, Peter Tinnemann schult an der Berliner Charité angehende Ärzte im Umgang mit Pharmavertretern. Das ist unser Thema hier im Deutschlandradio Kultur. Und neuerdings schulen Sie, Herr Tinnemann, nicht nur Studenten, sondern auch gestandene Mediziner. Die haben vermutlich schon einschlägige Erfahrungen gemacht. Wie offen wird dort über Interessenkonflikte gesprochen?
Tinnemann: Also, wir haben das erste Mal ein Seminar durchgeführt ein ganzes Wochenende. Was beeindruckend war, dass wirklich interessierte Ärzte, über 30 Ärztinnen und Ärzte hatten wir da, sich neben ihrer Arbeitszeit ein ganzes Wochenende Zeit genommen haben, um das Thema zu diskutieren. Und man hat gemerkt, wie es den Kolleginnen und Kollegen unter den Fingern brennt, und wir haben die gleichen Inhalte, die wir an die Studenten vermitteln in diesem Seminar, noch mal weitervermittelt. Und es war beeindruckend, mit welcher Leidenschaft auch über das Problem diskutiert wurde.
Viele Ärzte haben das satt, die wollen einfach nicht mehr beeinflusst werden. Es gibt Initiativen wie die Ärzteinitiative "Mein Essen zahle ich selber", wo sie sagen, ich will gar nichts mehr mit Pharmavertretern zu tun haben! Aber in unserem Seminar hat man auch gemerkt, dass untereinander einfach viele Fragen noch offen sind. Und es war natürlich auch hier ein, wie ich fand, eine schöne Plattform, ein schön geschützter Raum, wo man sich unter Kolleginnen und Kollegen einfach mal über das Thema austauschen kann: Wie oft kommt so jemand zu mir, was empfinde ich eigentlich dabei, wie wehre ich den eigentlich ab? Wie muss ich eigentlich mal so eine Studie lesen und wo um Gottes Willen kommt die unabhängige Information her?
Bürger: Es wäre für solche Seminare sicher auch interessant, mal Vertreter der Pharmakonzerne selbst einzuladen. Haben Sie das gemacht?
Tinnemann: Ja, wir haben das ein paar Mal versucht, für die Studierenden, die haben immer danach gefragt, warum ladet ihr nicht mal jemanden ein? Die haben meistens im letzten Moment abgesagt. Das war frustrierend. Letztendlich, muss ich sagen, sind wir dazu übergegangen zu sagen, wir wollen hier einen Raum haben, eine Plattform schaffen, wo sich die Studierenden untereinander austauschen können, miteinander reden können über das Thema, und wir brauchen da nicht mehr noch weichgekochte Information, die da reingespült wird, die wir dann ja auch nicht für besonders sachlich halten.
Bürger: Sie waren ja selbst einige Jahre für Ärzte ohne Grenzen in Afrika, Sie haben erlebt, wie Menschen gar keinen Zugang zu Medikamenten haben. Sie waren aber auch in Großbritannien tätig, wo es ganz andere gesetzliche Regelungen der Medikamentenvergabe gibt als hier bei uns in Deutschland. Inwieweit haben Sie diese Auslandserfahrungen dazu gebracht, die Situation in Deutschland so kritisch zu hinterfragen?
Tinnemann: Für mich war das prägend, mein erster Einsatz war mit einer kleinen Organisation in Haiti und ich habe dort in einem Kinderkrankenhaus gearbeitet und wir hatten keine Medikamente, um unsere kleinen Patienten gegen HIV behandeln zu können. Und das hat mich schon ärgerlich gemacht. Also, wenn man die Kinder sterben gesehen hat, weil es keine Medikamente gab vor Ort, aber ich wusste, dass es diese Medikamente in Deutschland durchaus gibt.
Und da fängt man an, sich die Frage zu stellen, warum ist das eigentlich so, muss das eigentlich sein? Wie kommen die Medikamente an den Mann, warum können manche so billig sein, warum sind manche so teuer? Wie kommen die unterschiedlichen Preise zustande? Wie kann es sein, dass wir heute Medikamente in armen Ländern für 100 Euro verkaufen können, antiretrovirale Medikamente, die aber immerhin noch in Deutschland für eine Jahresbehandlung um die 10.000 Euro kosten? Und dann fangen Sie an, sich mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen und so kam ich letztendlich zu dem Thema, das auch an meine Studenten weiterzugeben.
Bürger: Die Charité ist ja wie vermutlich alle Universitätskliniken selbst auch mit der Pharmaindustrie verbandelt. Es gibt unter anderem Forschungsverträge mit Sanofi-Aventis, ist das nicht auch problematisch?
Tinnemann: Also, ich persönlich finde, wir sollten darüber nachdenken, ob wir nicht in der Zukunft uns unabhängige Wissenschaftler schaffen. Ich finde das schon ein Gebiet, das man zunehmend infrage stellen sollte, dass unabhängig finanzierte, staatlich finanzierte Forscher gleichzeitig noch Forschungsaufträge annehmen von der Privatindustrie. Ich denke, als Patient möchten Sie, dass Sie ein Medikament erhalten, das das richtige für Sie ist. Das wollen Sie in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt haben. Und Sie möchten nicht, dass Sie das bekommen, weil jemand damit Geschäfte macht. Das kann jetzt Ihr Hausarzt sein, das kann ein Unternehmen generell sein oder aber auch eine Uniklinik. Und ich finde, wir müssen dahin kommen, Gesundheit ist ein so hohes Allgemeingut, das ist uns allen so wichtig, tagtäglich, dass wir dahin kommen müssen, dass wir das auch als ein solches entsprechend behandeln. Das ist unabhängig, Behandlung muss unabhängig sein, Behandlung muss an den Patienten orientiert sein und nicht am Profit.
Bürger: Wie Mediziner lernen sollen, dem Einfluss der Pharmaindustrie zu entgehen, das hat uns Peter Tinnemann erläutert, der genau das an der Berliner Charité unterrichtet, wo am Montag das neue Semester beginnt. Danke Ihnen fürs Gespräch!
Tinnemann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.