Viele Identitäten

Rezensiert von Gregor Sander |
Bei der Europameisterschaft 1996, dem letzten Turnier, das die deutsche Nationalmannschaft gewinnen konnte, hießen die Spieler Oliver Kahn, Steffen Freund oder Jürgen Klinsmann. Von 23 jungen Männern hatten nur Fredi Bobić und Mehmet Scholl einen Migrationshintergrund. Doch bei beiden dachte man eher an Stuttgart und München, als an Kroatien und die Türkei, wo ihre Vorfahren herkamen.
Das hat sich komplett geändert. Heute spielt Jérôme Boateng, dessen Vater aus Ghana stammt, neben Per Mertesacker in der Abwehr. Und im Sturm hat der Bundestrainer die Wahl zwischen Miroslav Klose, geboren in Polen, Mario Gomez, Sohn einer deutschen Mutter und eines spanischen Vaters, oder Claudemir Jeronimo Barreto, genannt Cacau, einem gebürtigen Brasilianer, der inzwischen eingebürgert wurde. Und es gibt noch viele andere.

"Ich glaube, dass der Fußball eine sehr große Rolle in der Gesellschaft spielt. Der hohe Unterhaltungswert, die große Medienaufmerksamkeit, die vielen Zuschauer - all das führt automatisch zu einer besseren Integration."

… sagt Mesut Özil in einem der vielen Interviews im Sammelband "Der Ball ist bunt". Einen technisch so begabten Ballzauberer hat es im deutschen Mittelfeld schon lange nicht mehr gegeben, und bei der WM ruhen große Hoffnungen auf dem jungen Deutschtürken. Oder sollte man besser Türkendeutscher sagen? Oder nur Deutscher? Alles nicht so wichtig, wie wir im Interview mit dem in Gelsenkirchen geborenen türkischen Nationalspieler Halil Altintop lesen:

"Ich hab schon in den Jugendmannschaften mit Deutschen, Italienern, Griechen, Arabern oder Bosniern gespielt, ich habe gesehen, wie sie leben, wie sie zu Hause aufwachsen, was sie essen. Deswegen finde ich es nicht wichtig, jemandem einen Stempel aufzudrücken. Du bist deutsch! Du bist türkisch! Warum muss man sich da so streng festlegen, klüger macht uns das auch nicht."

Die Macher des Buches "Der Ball ist bunt" versuchen, den Klischees auszuweichen, und das ist nicht einfach. So kritisiert ein Artikel von Herausgeber Gerd Dembowski, Historiker und Sportwissenschaftler an der Universität Freiburg, einerseits die Vorurteile, mit denen Fußballer aus anderen Kulturkreisen von der deutschen Berichterstattung betrachtet werden:
"Jedes gelungene Dribbling ist mentalitätsbedingt, jede Reklamation erklärt sich aus dem arabischen Temperament, jedes nicht erfolgte Abspiel wie jeder geniale Hackentrick, alles liegt in ihren Genen."

Andererseits antwortet Halil Altintop auf die Frage, was an ihm türkisch sei und was deutsch, wie folgt:
" In manchen Situationen fällt mir auf, dass ich sehr türkisch bin. Das kann an türkischer Musik liegen, an ausgelassenem Feiern oder an Kleinigkeiten, wo ich mich plötzlich sehr wohl fühle. Das ist dann eine spezielle Emotionslage. Auf der anderen Seite ist die deutsche Zielstrebigkeit für mich wichtig, die Hartnäckigkeit, die fleißige Arbeit."

Und Mesut Özil ergänzt:

"Die deutsche Disziplin in der Verbindung mit den positiven südländischen Charakterzügen ergibt meiner Meinung nach eine ideale Mischung."

Deutsch wird hier von beiden Spielern also mit Disziplin und Fleiß verbunden, so als hätte es nicht auch schlampige Genies wie Mario Basler oder Sepp Maier gegeben. Klischees also auf beiden Seiten.

Unterteilt ist dieser Sammelband in vier Rubriken: den Profifußball, die Amateure, die Vergangenheit und die Zukunft. Das Buch ist ein buntes Durcheinander von Themen, Schreibstilen und Sichtweisen. Es gibt unter 37 Beiträgen einiges zu entdecken, wie beispielsweise einen Artikel über kickende ausländische Vertragsarbeiter in der DDR:

"So findet sich ein Zeugnis über einen Afrikaner, der aus Guinea in die DDR kam, um dort eine Berufsausbildung zu absolvieren. Sulaimane Sheriff lernte in Neustrelitz und wurde 1962 vom damaligen Trainer zum SC Neubrandenburg geholt. Als Ausländer durfte er nicht in der Oberliga um die DDR-Meisterschaft spielen. (...) Nach Beendigung seiner Ausbildung ging er nach Guinea zurück, wo er zwei Jahre nacheinander ‚Afrikanischer Fußballer des Jahres’ wurde."

Gäbe es heute weniger Rassismus in ostdeutschen Stadien, wenn man Sulaimane Sheriff hätte spielen lassen, und wenn man im Arbeiter- und Bauernstaat die wenigen Ausländer in das gesellschaftliche Leben integriert hätte?

Bis heute am Ball geblieben sind die nun im wiedervereinigten Deutschland lebenden Vietnamesen. Wenn auch mit ganz eigenen Problemen:

"Da viele Vietnamesen selbstständig sind, müssen die Spiele sonntags, an ihrem einzigen freien Tag stattfinden. In Leipzig treten dann die Fußballer der einzelnen Händlergemeinschaften gegeneinander an, und die Mannschaft Obst und Gemüse spielt gegen die Textilhändler."

Das Buch berichtet über Antisemitismus im Fußballalltag, stellt Frauen-Fußballvereine vor und betont immer wieder das Verbindende am Fußball, etwa wenn Aussiedler und Asylsuchende in der deutschen Provinz kicken. Oft liegt es an der Initiative Einzelner, dass etwas passiert. So erfahren wir von der deutschen Fußballerin Ines Österle, die für den AC Mailand spielt und ein Trainingsprojekt für Roma-Kinder leitet.

"Die Väter hatten nichts dagegen, dass die Trainerin weiblich ist; sie waren froh, dass ihre Kinder die Möglichkeit bekamen, mit einem ‚Profi’ trainieren zu können. Die patriarchalische Rollenverteilung schimmerte erst durch, als es um die Frage ging, ob auch Mädchen am Training teilnehmen dürften. Da die Töchter schon als Kinder für die Erziehung ihrer jüngeren Geschwister mitverantwortlich sind und viele häusliche Tätigkeiten verrichten müssen, haben sie zum Spielen oft keine Zeit - und überhaupt: Ein Mädchen spielt nicht Fußball."

Solche Kritik gibt es in "Der Ball ist bunt" sehr selten. Die Probleme der Migranten mit der deutschen Gesellschaft werden in den Vordergrund gestellt. Inzwischen haben sie sogar eine eigene Stimme beim Deutschen Fußball-Bund. Gül Keskinler, in Istanbul geboren, ist Integrationsbeauftragte des DFB und gehört dem Vorstand mit beratender Stimme an. Trotz aller Probleme, das Fazit der CDU-Politikerin Keskinler im Buch fällt positiv aus:

"Als ich vor zweieinhalb Jahren zum Beispiel so ein scheinbar banales Thema der DFB-Spitze vortrug, dass es muslimische Väter gibt, die es nicht gut finden, wenn ihre Söhne ohne Unterhose duschen sollen oder dass es türkische Väter gibt, die nicht möchten, dass Trainer oder andere Erwachsene mit ihren Söhnen nackt duschen, dann gab es dafür wenig Verständnis. Dass der DFB inzwischen seine Verbände, die Trainer und Betreuer zur Rücksicht in explizit diesen Beispielen anhält (...) ist eine riesige Entwicklung."


Diethelm Blecking / Gerd Dembowski (Hrsg.): Der Ball ist bunt - Fußball, Migration und die Vielfalt der Identitäten in Deutschland
Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt am Main 2010