Viele Tschernobyl-Folgeschäden werden erst jetzt sichtbar
Die Tschernobyl-Expertin der Ärzteorganisation IPPNW, Angelika Claußen, hat auf die Langzeitfolgen der radioaktiven Strahlung nach dem Atomunfall von Tschernobyl 1986 hingewiesen.
Katrin Heise: Majak 1957, Harrisburg 1979, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011. Auch ein Vierteljahrhundert nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl werden die Folgen verdrängt, vertuscht, verharmlost, bagatellisiert. Mit dieser Aufzählung lädt die Gesellschaft für Strahlenschutz zu einem heute beginnenden Kongress über die medizinischen Folgen Tschernobyls mit vielen russischsprachigen Experten. Am Freitag dieser Woche widmet sich der Kongress der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges ebenfalls den Folgen von Tschernobyl. Angelika Claußen, Tschernobyl-Expertin der Internationalen Ärzte, hat 2006 zusammen mit der Gesellschaft für Strahlenschutz eine Studie zu den gesundheitlichen Folgen herausgegeben und sie inzwischen überarbeitet und aktualisiert. Schönen guten Tag, Frau Claußen!
Angelika Claußen: Guten Morgen!
Heise: Werden tatsächlich Folgeschädigungen erst jetzt, 25 Jahre später, nach dem Unglück sichtbar?
Claußen: Ja, und einige Folgeschäden werden sogar noch später sichtbar. Das hat damit zu tun, dass Radioaktivität ja nicht nur akute Wirkung zeigt, sondern die Hauptwirkungen sind eher Langzeitwirkungen.
Heise: Das heißt, die Langzeitfolgen sind in ihrer ganzen Breite so überhaupt noch gar nicht abzusehen?
Claußen: In der Breite, in der Dimension schon, aber in der genauen Breite eben nicht.
Heise: Dann machen Sie uns mal ein Bild von der Breite und der Dimension.
Claußen: Es geht darum, dass ganz verschiedene Erkrankungen und Veränderungen durch radioaktive Strahlung ausgelöst werden. Das sind einmal die Krebserkrankungen, das ist ja schon bekannt, bisher wird aber hauptsächlich nur über die Schilddrüsenkrebserkrankung gesprochen, und alles andere wird nicht erwähnt. Es gibt natürlich auch Brustkrebserkrankungen, Hirntumore, bei Kindern vor allem. Die Liquidatoren, also die Aufräumarbeiter, haben ein sehr hohes Krebsrisiko, sind schon erkrankt, zum Beispiel an Prostatakrebs, Magenkrebs und eben auch an Leukämie. Weitere Veränderungen sind genetische Fehlbildungen. Die sind zum Teil schon zu sehen, aber weil bei den genetischen Fehlbildungen und genetischen Veränderungen in der ersten Generation oft nur zehn Prozent sichtbar sind, kommt da noch einiges auf uns zu.
Heise: Das heißt, gerade die genetischen Schädigungen werden jetzt in den nächsten Jahrzehnten erst auftauchen.
Claußen: Die werden weiter anhalten, sie sind ja schon aufgetaucht. Sie sind unmittelbar nach Tschernobyl, neun Monate nach Tschernobyl aufgetaucht, sowohl in den Tschernobyl-Ländern selber als auch eben hier in Europa. Es ist ja auch nicht zu unterschätzen, dass in Europa das meiste des radioaktiven Inventars aus Tschernobyl heruntergekommen ist, nämlich 53 Prozent, während 36 Prozent in den drei betroffenen Ländern heruntergegangen ist, allerdings dort in viel, viel höherer radioaktiver Belastung als hier bei uns.
Heise: Also in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland?
Claußen: Ja.
Heise: Sie haben eben von der Zunahme der Krebserkrankungen gesprochen.
Claußen: Ja.
Heise: Es geht ja aber gar nicht nur um Krebserkrankungen. Welche anderen Krankheiten treten eigentlich vermehrt auf?
Claußen: Es treten auch vermehrt Nicht-Krebserkrankungen auf und das ist eben das Neue, weil herausgefunden wurde, dass Radioaktivität den ganzen Körper beeinträchtigt und auch in anderen Organsystemen Erkrankungen hervorrufen kann. Das sind Störungen der Gehirnfunktion, auch Störung dieser Gehirnfunktionen bei Kindern, bei sehr jungen Menschen, beschleunigte Alterungsprozesse, psychische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt. Dies sind Erkrankungen, wo man bisher nicht genau weiß, wie der genaue Dosis-Wirkungs-Zusammenhang ist. Das ist noch eine große Schwierigkeit, das herauszufinden.
Heise: Und das sind Krankheiten, die jetzt erst auftauchen zum Teil, auch 25 Jahre später noch?
Claußen: Ja. Sie müssen sich vorstellen, es sind ja junge Leute betroffen worden von den Tschernobyl-Auswirkungen, und die sind jetzt im mittleren Lebensalter. Wenn es zum Beispiel damals Jugendliche waren, oder wenn sie vielleicht 20, 25 Jahre alt waren, wie die Aufräumarbeiter, die sind jetzt 25 Jahre später 50 und sehen aus wie Greise, haben auch so viele Erkrankungen verschiedener Organsysteme gleichzeitig, dass eben etwa 95 Prozent der Aufräumarbeiter invalide sind.
Heise: Im Deutschlandradio Kultur hören Sie Angelika Claußen, die sich mit den gesundheitlichen Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl befasst. Frau Claußen, in Ihrer Studie spielen ja auch die Folgen von Niedrig-Dosis-Strahlung und chronischer Bestrahlung eine Rolle, also Bestrahlung, der weit mehr Menschen ausgesetzt waren, als man das immer so im ersten Moment eigentlich wahrnimmt. Darüber hört man von der IAEA, der Internationalen Atomenergiebehörde, ja gar nichts. Wie schwer sind denn die Folgen von diesen Niedrig-Dosis-Strahlungen?
Claußen: Die betreffen vor allen Dingen die Kinder und die kommenden Generationen. Es gibt verschiedene Studien aus den drei betroffenen Ländern, dass die Hirnfunktion von Kindern, die im Uterus bestrahlt worden sind, dass die Hirnfunktionen deutlich, sagt man, nachgelassen haben. Die haben einfach eine verminderte geistige Fähigkeit und leichte Hirnschäden. Diese Phänomene sind aber nicht nur in den drei betroffenen Ländern festgestellt worden, sondern es gibt jetzt neuerdings auch eine Studie aus Schweden, die Gleiches bestätigt.
Heise: Von welchen Zunahme-Größenordnungen sprechen wir da eigentlich?
Claußen: Das ist eben unklar, weil die Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht genau festgelegt ist und auch noch nicht herausgefunden wurde. Das liegt daran, dass bei den Zellwirkungen, den Auswirkungen der Radioaktivität auf die lebende Zelle - da genügen ja schon sehr kleine Dosen im Millisievertbereich, eine Veränderung zu erzeugen - sowohl was genetische Information betrifft als auch, was die Funktion der Zelle betrifft. Und das liegt wiederum daran, dass die körpereigenen Abwehrfunktionen und auch die Mechanismen der Zelle, mit solchen Schäden umzugehen, eben erheblich geschwächt sind.
Heise: Sind diese Folgewirkungen eigentlich anerkannt, das heißt, bekommen die Opfer irgendwelche Ausgleichszahlungen, irgendwelche Hilfen?
Claußen: In den drei betroffenen Ländern schon, dort gibt es ja Liquidatoren-Organisationen, und die bekommen zum Teil zwar niedrigere Renten, aber sie sind anerkannt, und sie bekommen schon Ausgleichszahlungen.
Heise: Ich spreche aber jetzt gerade eben nicht von den Liquidatoren, sondern eben von beispielsweise Babys, die im Mutterleib noch bestrahlt worden sind, von denen Sie da sprachen, von diesen Niedrig-Dosis-Opfern.
Claußen: Nein, die bekommen natürlich keine Ausgleichszahlung. Das ist auch immer ein statistisches Problem, wenn ich - zum Beispiel wie bei dieser Untersuchung in Schweden - ich glaube, Schweden hat fünf Millionen Einwohner oder sieben Millionen, genau weiß ich es nicht - und es sind ja nur bestimmte Regionen bestrahlt worden, da handelt es sich ja dann um betroffene Kinder. Ich schätze es jetzt mal, ich gehe dabei von den Zahlen aus, die ich von Krebswerk bekomme, dass es vielleicht 1000 oder 2000 Kinder insgesamt waren. Es ist ja ganz schwer nachzuweisen, dass Kinder, die hirngeschädigt sind, nicht aus anderen Gründen hirngeschädigt sein können, und dass es jetzt grade bei dem einzelnen Kind die Strahlung war, das kann man gar nicht nachweisen, sondern man kann nur sagen, dass der Trend dann allgemein so ist. Aber für das Individuum lässt sich das so nicht nachweisen.
Heise: Frau Claußen, wie sind Sie eigentlich an die Ergebnisse für die Studie gekommen, wie frei konnten Sie beziehungsweise russische, ukrainische Biologen und Mediziner forschen?
Claußen: Wir haben in unserer Studie ja die Forschungsergebnisse von anderen Menschen, die direkt forschen, verarbeitet. Wir haben also Ergebnisse zusammengetragen, wir haben uns bemüht, eben die Forschungen gerade der russischsprachigen Mediziner und Physiker auszuwerten und die in unsere Studie einzubeziehen und da uns eben ein Bild zu machen. Und da waren wir frei und konnten jede Studie bewerten, die wir bewerten wollen, und das haben wir nach unserem medizinischen, physikalischen Sachverstand getan.
Heise: Und wie frei konnten die russischen, ukrainischen Biologen beispielsweise sich in dem Gebiet bewegen und forschen? Oder unterliegen da noch wesentliche Daten der Geheimhaltung beispielsweise?
Claußen: Die Ursprungsdaten, die Ausgangsdaten sind ja immer noch geheim. Es ist unklar, wie die radioaktive Verstrahlung der einzelnen Personen, die Betroffenen, tatsächlich war. Insbesondere bei den Aufräumarbeitern sind die Daten teilweise eben geheim gehalten worden. Es sind auch die Daten geheim gehalten worden von Menschen, die unmittelbar nach dem Unfall dann in den Krankenhäusern waren, stark verstrahlt sind, und deren Krankenakten sind immer noch unter Verschluss. Dann gibt es aber auch andere Phänomene: Viele Liquidatoren haben zum Beispiel ihr Dosimeter weggeschmissen und haben gesagt, das ist ja sowieso so viel radioaktive Strahlung hier, das Ding schmeiße ich weg, das stört mich nur und erinnert mich daran, wie stark ich eigentlich gefährdet bin.
Heise: Wenn Sie jetzt das Reaktorunglück in Fukushima beobachten, das natürlich anders verlaufen ist, haben Sie eine Vorstellung, von was für Folgeschäden da auszugehen ist?
Claußen: Das kann man jetzt nicht wirklich sagen, weil wir ja bisher ja noch gar keine Kartografie der Strahleneinflüsse haben. Wir haben keine Messwerte für verschiedene Gegenden rund um Fukushima, und da kann man keine wirkliche zuverlässige Aussage treffen. Das ist einfach zu früh, und die Strahlungen gehen ja weiter. Es gibt einige Leute, wie zum Beispiel Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz, die sagen, es dauert mindestens noch Monate, vielleicht noch ein bis zwei Jahre – auch das wissen wir nicht genau –, bis das Unglück unter Kontrolle ist.
Heise: Und erst dann wird man über die Folgen überhaupt zu sprechen haben.
Claußen: Genau.
Heise: Angelika Claußen, Tschernobyl-Expertin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung. Vielen Dank, Frau Claußen, für die Informationen!
Claußen: Ja, bitte!
Angelika Claußen: Guten Morgen!
Heise: Werden tatsächlich Folgeschädigungen erst jetzt, 25 Jahre später, nach dem Unglück sichtbar?
Claußen: Ja, und einige Folgeschäden werden sogar noch später sichtbar. Das hat damit zu tun, dass Radioaktivität ja nicht nur akute Wirkung zeigt, sondern die Hauptwirkungen sind eher Langzeitwirkungen.
Heise: Das heißt, die Langzeitfolgen sind in ihrer ganzen Breite so überhaupt noch gar nicht abzusehen?
Claußen: In der Breite, in der Dimension schon, aber in der genauen Breite eben nicht.
Heise: Dann machen Sie uns mal ein Bild von der Breite und der Dimension.
Claußen: Es geht darum, dass ganz verschiedene Erkrankungen und Veränderungen durch radioaktive Strahlung ausgelöst werden. Das sind einmal die Krebserkrankungen, das ist ja schon bekannt, bisher wird aber hauptsächlich nur über die Schilddrüsenkrebserkrankung gesprochen, und alles andere wird nicht erwähnt. Es gibt natürlich auch Brustkrebserkrankungen, Hirntumore, bei Kindern vor allem. Die Liquidatoren, also die Aufräumarbeiter, haben ein sehr hohes Krebsrisiko, sind schon erkrankt, zum Beispiel an Prostatakrebs, Magenkrebs und eben auch an Leukämie. Weitere Veränderungen sind genetische Fehlbildungen. Die sind zum Teil schon zu sehen, aber weil bei den genetischen Fehlbildungen und genetischen Veränderungen in der ersten Generation oft nur zehn Prozent sichtbar sind, kommt da noch einiges auf uns zu.
Heise: Das heißt, gerade die genetischen Schädigungen werden jetzt in den nächsten Jahrzehnten erst auftauchen.
Claußen: Die werden weiter anhalten, sie sind ja schon aufgetaucht. Sie sind unmittelbar nach Tschernobyl, neun Monate nach Tschernobyl aufgetaucht, sowohl in den Tschernobyl-Ländern selber als auch eben hier in Europa. Es ist ja auch nicht zu unterschätzen, dass in Europa das meiste des radioaktiven Inventars aus Tschernobyl heruntergekommen ist, nämlich 53 Prozent, während 36 Prozent in den drei betroffenen Ländern heruntergegangen ist, allerdings dort in viel, viel höherer radioaktiver Belastung als hier bei uns.
Heise: Also in der Ukraine, in Weißrussland und in Russland?
Claußen: Ja.
Heise: Sie haben eben von der Zunahme der Krebserkrankungen gesprochen.
Claußen: Ja.
Heise: Es geht ja aber gar nicht nur um Krebserkrankungen. Welche anderen Krankheiten treten eigentlich vermehrt auf?
Claußen: Es treten auch vermehrt Nicht-Krebserkrankungen auf und das ist eben das Neue, weil herausgefunden wurde, dass Radioaktivität den ganzen Körper beeinträchtigt und auch in anderen Organsystemen Erkrankungen hervorrufen kann. Das sind Störungen der Gehirnfunktion, auch Störung dieser Gehirnfunktionen bei Kindern, bei sehr jungen Menschen, beschleunigte Alterungsprozesse, psychische Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt. Dies sind Erkrankungen, wo man bisher nicht genau weiß, wie der genaue Dosis-Wirkungs-Zusammenhang ist. Das ist noch eine große Schwierigkeit, das herauszufinden.
Heise: Und das sind Krankheiten, die jetzt erst auftauchen zum Teil, auch 25 Jahre später noch?
Claußen: Ja. Sie müssen sich vorstellen, es sind ja junge Leute betroffen worden von den Tschernobyl-Auswirkungen, und die sind jetzt im mittleren Lebensalter. Wenn es zum Beispiel damals Jugendliche waren, oder wenn sie vielleicht 20, 25 Jahre alt waren, wie die Aufräumarbeiter, die sind jetzt 25 Jahre später 50 und sehen aus wie Greise, haben auch so viele Erkrankungen verschiedener Organsysteme gleichzeitig, dass eben etwa 95 Prozent der Aufräumarbeiter invalide sind.
Heise: Im Deutschlandradio Kultur hören Sie Angelika Claußen, die sich mit den gesundheitlichen Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl befasst. Frau Claußen, in Ihrer Studie spielen ja auch die Folgen von Niedrig-Dosis-Strahlung und chronischer Bestrahlung eine Rolle, also Bestrahlung, der weit mehr Menschen ausgesetzt waren, als man das immer so im ersten Moment eigentlich wahrnimmt. Darüber hört man von der IAEA, der Internationalen Atomenergiebehörde, ja gar nichts. Wie schwer sind denn die Folgen von diesen Niedrig-Dosis-Strahlungen?
Claußen: Die betreffen vor allen Dingen die Kinder und die kommenden Generationen. Es gibt verschiedene Studien aus den drei betroffenen Ländern, dass die Hirnfunktion von Kindern, die im Uterus bestrahlt worden sind, dass die Hirnfunktionen deutlich, sagt man, nachgelassen haben. Die haben einfach eine verminderte geistige Fähigkeit und leichte Hirnschäden. Diese Phänomene sind aber nicht nur in den drei betroffenen Ländern festgestellt worden, sondern es gibt jetzt neuerdings auch eine Studie aus Schweden, die Gleiches bestätigt.
Heise: Von welchen Zunahme-Größenordnungen sprechen wir da eigentlich?
Claußen: Das ist eben unklar, weil die Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht genau festgelegt ist und auch noch nicht herausgefunden wurde. Das liegt daran, dass bei den Zellwirkungen, den Auswirkungen der Radioaktivität auf die lebende Zelle - da genügen ja schon sehr kleine Dosen im Millisievertbereich, eine Veränderung zu erzeugen - sowohl was genetische Information betrifft als auch, was die Funktion der Zelle betrifft. Und das liegt wiederum daran, dass die körpereigenen Abwehrfunktionen und auch die Mechanismen der Zelle, mit solchen Schäden umzugehen, eben erheblich geschwächt sind.
Heise: Sind diese Folgewirkungen eigentlich anerkannt, das heißt, bekommen die Opfer irgendwelche Ausgleichszahlungen, irgendwelche Hilfen?
Claußen: In den drei betroffenen Ländern schon, dort gibt es ja Liquidatoren-Organisationen, und die bekommen zum Teil zwar niedrigere Renten, aber sie sind anerkannt, und sie bekommen schon Ausgleichszahlungen.
Heise: Ich spreche aber jetzt gerade eben nicht von den Liquidatoren, sondern eben von beispielsweise Babys, die im Mutterleib noch bestrahlt worden sind, von denen Sie da sprachen, von diesen Niedrig-Dosis-Opfern.
Claußen: Nein, die bekommen natürlich keine Ausgleichszahlung. Das ist auch immer ein statistisches Problem, wenn ich - zum Beispiel wie bei dieser Untersuchung in Schweden - ich glaube, Schweden hat fünf Millionen Einwohner oder sieben Millionen, genau weiß ich es nicht - und es sind ja nur bestimmte Regionen bestrahlt worden, da handelt es sich ja dann um betroffene Kinder. Ich schätze es jetzt mal, ich gehe dabei von den Zahlen aus, die ich von Krebswerk bekomme, dass es vielleicht 1000 oder 2000 Kinder insgesamt waren. Es ist ja ganz schwer nachzuweisen, dass Kinder, die hirngeschädigt sind, nicht aus anderen Gründen hirngeschädigt sein können, und dass es jetzt grade bei dem einzelnen Kind die Strahlung war, das kann man gar nicht nachweisen, sondern man kann nur sagen, dass der Trend dann allgemein so ist. Aber für das Individuum lässt sich das so nicht nachweisen.
Heise: Frau Claußen, wie sind Sie eigentlich an die Ergebnisse für die Studie gekommen, wie frei konnten Sie beziehungsweise russische, ukrainische Biologen und Mediziner forschen?
Claußen: Wir haben in unserer Studie ja die Forschungsergebnisse von anderen Menschen, die direkt forschen, verarbeitet. Wir haben also Ergebnisse zusammengetragen, wir haben uns bemüht, eben die Forschungen gerade der russischsprachigen Mediziner und Physiker auszuwerten und die in unsere Studie einzubeziehen und da uns eben ein Bild zu machen. Und da waren wir frei und konnten jede Studie bewerten, die wir bewerten wollen, und das haben wir nach unserem medizinischen, physikalischen Sachverstand getan.
Heise: Und wie frei konnten die russischen, ukrainischen Biologen beispielsweise sich in dem Gebiet bewegen und forschen? Oder unterliegen da noch wesentliche Daten der Geheimhaltung beispielsweise?
Claußen: Die Ursprungsdaten, die Ausgangsdaten sind ja immer noch geheim. Es ist unklar, wie die radioaktive Verstrahlung der einzelnen Personen, die Betroffenen, tatsächlich war. Insbesondere bei den Aufräumarbeitern sind die Daten teilweise eben geheim gehalten worden. Es sind auch die Daten geheim gehalten worden von Menschen, die unmittelbar nach dem Unfall dann in den Krankenhäusern waren, stark verstrahlt sind, und deren Krankenakten sind immer noch unter Verschluss. Dann gibt es aber auch andere Phänomene: Viele Liquidatoren haben zum Beispiel ihr Dosimeter weggeschmissen und haben gesagt, das ist ja sowieso so viel radioaktive Strahlung hier, das Ding schmeiße ich weg, das stört mich nur und erinnert mich daran, wie stark ich eigentlich gefährdet bin.
Heise: Wenn Sie jetzt das Reaktorunglück in Fukushima beobachten, das natürlich anders verlaufen ist, haben Sie eine Vorstellung, von was für Folgeschäden da auszugehen ist?
Claußen: Das kann man jetzt nicht wirklich sagen, weil wir ja bisher ja noch gar keine Kartografie der Strahleneinflüsse haben. Wir haben keine Messwerte für verschiedene Gegenden rund um Fukushima, und da kann man keine wirkliche zuverlässige Aussage treffen. Das ist einfach zu früh, und die Strahlungen gehen ja weiter. Es gibt einige Leute, wie zum Beispiel Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz, die sagen, es dauert mindestens noch Monate, vielleicht noch ein bis zwei Jahre – auch das wissen wir nicht genau –, bis das Unglück unter Kontrolle ist.
Heise: Und erst dann wird man über die Folgen überhaupt zu sprechen haben.
Claußen: Genau.
Heise: Angelika Claußen, Tschernobyl-Expertin der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung. Vielen Dank, Frau Claußen, für die Informationen!
Claußen: Ja, bitte!