Viele Ungarn sind von Orbán enttäuscht und "relativ deprimiert"
Ein Zeichen der Hoffnung und eines neuen Anfangs sieht Marco Schicker in den Protesten gegen die rechtsnationale Regierung von Viktor Orbán. Die Opposition müsse sich endlich "besinnen" und gemeinsam artikulieren, sagt der Chefredakteur einer ungarischen Onlinezeitung.
Joachim Scholl: Seit Mai 2010 wird Ungarn von Viktor Orbán und seiner rechtskonservativen Fidesz-Partei regiert. Und seither werden demokratische Prinzipien systematisch abgebaut. Höhepunkt dieser Entwicklung ist eine neue Verfassung, die jetzt am 1. Januar in Kraft getreten ist.
Stephan Ozsváth fasst die Änderungen und die Folgen zusammen.
Am Telefon in Wien ist jetzt Marco Schicker. Er ist Chefredakteur der deutschsprachigen Onlinezeitung "Pester Lloyd", eine Zeitung für Ungarn und Osteuropa. Guten Tag, Herr Schicker!
Marco Schicker: Guten Tag!
Scholl: Dieser Protest nun auf den Straßen – immerhin mehrere Zehntausend Demonstranten –, ist das ein Zeichen der Hoffnung für Sie?
Schicker: Es ist ein Zeichen der Hoffnung, aber es ist vor allem erst mal ein Zeichen eines Beginns, denn unter diesen 10.000 Demonstranten oder mehreren Zehntausend Demonstranten sind viele, viele kleine Gruppen, die sich in den letzten Monaten und Jahren erst gebildet haben: von Facebook-Bewegungen, Internet-Bewegungen über grün-alternative Gruppierungen, Parteien, linke Gruppen, aber auch gewerkschaftsübergreifende Organisationen, die sich zum Beispiel an der polnischen "Solidarnosc"-Idee orientieren.
Was wir jetzt sehen, ist, dass die Opposition überhaupt erst mal zur Besinnung kommen muss, denn wir dürfen ja nicht vergessen, dass die größte Oppositionspartei, die MSP – die sogenannte sozialistische Partei – ja völlig diskreditiert ist, und das eigentlich auch zu Recht. Denn zum einen hat sie ja durch ihre Misswirtschaft und durch ihren – sage ich mal – entfesselten globalisierten Raubkapitalismus, um das mal plakativ zu sagen, überhaupt erst für das Chaos in dem Land gesorgt und auch dafür gesorgt, dass Herr Orbán diese große Fülle überhaupt in die Hände bekam. Und diese MSP hat sich gespalten vor wenigen Wochen – und zwar hat der Ex-Premier Gyurcsány, also eines der Hauptfeindbilder der rechten Landeshälfte – hat sich mit einer demokratischen Koalition abgespalten und gibt sich jetzt als Mitte-Links-Alternative, und die MSP selber hat es bis heute noch nicht geschafft, sich zu ihrer Verantwortung in der Vergangenheit zu stellen und sich personell und strukturell und auch inhaltlich zu erneuern. Und deshalb … ja, Entschuldigung?
Scholl: Nein, nein, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Nun kann die Opposition im Parlament natürlich politisch eigentlich derzeit ja wohl überhaupt keine sozusagen maßgebliche Rolle spielen, dadurch, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit der Fidesz-Partei ja alles sozusagen überrollt. Glauben Sie denn, dass jetzt dieser Protest auf den Straßen, dass das jetzt auch so eine Art doch repräsentativer Protest ist von vielleicht auch Leuten, die Orbán gewählt haben, die jetzt aber sagen, also diese Weiterungen, die Verfassungsänderungen – wir müssen auch noch die Mediengesetze erwähnen, die ja verabschiedet worden sind und praktisch die Medien de facto unter die Kontrolle des Staates bringen –, ob denn hier dieser Protest eine Art Repräsentanz hat?
Schicker: Nein, das ist noch nicht repräsentativ. Das wäre schon der nächste Schritt, auf den müssen wir jetzt zuarbeiten in Ungarn. Was wir am Montag in Budapest auf der Straße gesehen haben, ist, sage ich mal zugespitzt, das großstädtische Bildungsbürgertum, ja? Die Umfragen sagen klipp und klar, dass die Menschen und auch die, die Fidesz gewählt haben, enttäuscht sind überwiegend – Fidesz hat über die Hälfte seiner Zustimmung verloren, das bedeutet schon etwas –, nur die Konsequenz daraus ist, dass wir heute erfahren, dass rund 60 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht mehr zur Wahl gehen wollen.
Und sie schauen sich also relativ deprimiert natürlich an, dass sie wieder einmal die falsche Wahl getroffen haben, und jetzt schauen sie, welche Alternativangebote es überhaupt gibt. Und Sie haben völlig recht – es ist wahrscheinlich Fakt, und das ist auch gut so und auch ein Signal für überhaupt Europa –, dass die Alternativen vielleicht nicht mehr aus dem Parlament kommen. Es gibt ja noch neben der sozialistischen Opposition die LMP, das ist eine grün-liberale Partei, die aber als sehr verkopft gilt und sehr lange braucht, um sich abzugrenzen erst mal von den anderen Gruppen, und sehr intellektuell agiert, was jetzt auch nicht so besonders ankommt.
Es gibt aber auf der Straße, wie gesagt, gewerkschaftliche Organisationen. Es gibt diesen Herrn Péter Kónya, das ist jetzt momentan so die Gallionsfigur, die sich vielleicht da herausschält, von der Szolidaritás-Bewegung, die übergewerkschaftlich tätig ist. Und die versucht klarzumachen, dass das Problem in Ungarn heute nicht wie jahrzehntelang dargestellt zwischen links und rechts existiert, also diese alten ideologischen Grabenkämpfe nicht mehr weiterführen, sondern dass es ein Problem zwischen Selbstbestimmung und Knechtung ist. Und wenn sich das artikuliert – und mit dieser Idee der Solidarnosc im Hintergrund, von der man ja auch das Logo adaptiert hat –, macht man sich erst mal grundsätzlich unverdächtig, irgendwie links zu sein und gibt vielleicht dem normalen Wahlvolk, um es mal so zu sagen, doch eine Alternative an die Hand, zu verstehen, dass es um ihre ureigensten Interessen geht, wenn sie auf die Straßen gehen.
Scholl: Ungarn und die Proteste gegen die neue Verfassung – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Marco Schicker von der Onlinezeitung "Pester Lloyd". Wir haben, Herr Schicker, gestern in unserer Sendung "Fazit" mit dem in Budapest lehrenden Germanisten Wilhelm Droste gesprochen, und seiner Meinung nach ist es auch ein starker Jugendprotest, der sich jetzt artikuliert und der sich auch vor allem im Internet abspielt. Es gibt zum Beispiel kritische Songs, die hunderttausendfach angeklickt werden, und Wilhelm Droste war durchaus optimistisch, dass dieser Protest zunimmt und auch Wirkung zeigen könnte. Was denken Sie?
Schicker: Ja, natürlich, die Jugend – das ist ein altes, abgegriffenes Wort, aber es ist ja so, dass die Jugend die Hoffnung ist. Allerdings ist auch die Jugend gespalten in Ungarn, und es gibt einen Teil der Jugendlichen, die versuchen im Ausland ihr Glück, die gehen für Ungarn verloren, und es sind oft auch gut Gebildete. Viel von dem, was im Internet stattfindet, ist auch schnell verpuffender Aktionismus, das darf man auch nicht überbewerten. Das hat natürlich medial eine ganz tolle Präsenz und ist auch alles sehr lustig und einfallsreich, was dort stattfindet, aber die Wahlen werden nicht durch Facebook gewonnen, nach wie vor nicht, und das ist wichtig.
Wir haben jetzt zwei Sachen: Das eine, sagte ich, das wichtig ist, dass die Opposition sich endlich an einen Tisch setzt und sich nicht jede Oppositionsgruppe einen eigenen Tisch schnappt und Pressekonferenzen gibt, dass sie Ziele artikulieren, die bis weit in die gesellschaftliche Mitte, auch in das konservative Lager akzeptabel sind, die sagen, wir sind auf der Suche nach einem normalen Ungarn, weg von nationalistischen Parolen, weg von Extremen in beide Richtungen, hin wieder zu einer Normalität, die aber vor allem darauf pocht, dass die Menschen selbstbestimmt tätig sind. Das ist der Sinn einer Demokratie, dass die Menschen ihren Willen artikulieren und ihn auch umsetzen – im Rahmen der Freiheit der anderen auch natürlich. Und das ist die eine Geschichte, und die andere Seite ist die – und das ist die andere Hoffnung, aber auch eine Angst –, ist, dass das System Orbán an sich selbst scheitern wird, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft gibt es dafür ganz klare Anzeichen.
Scholl: Ja, weil …
Schicker: Beides hat Chancen und Gefahren in sich.
Scholl: Weil Brüssel natürlich jetzt auch aufgewacht ist und zum Beispiel die Finanzhilfen unterbinden will, wenn also nach der neuen Verfassung – die Nationalbank ist jetzt sozusagen verstaatlicht worden –, hier wird Brüssel … ja, will in Brüssel intervenieren. Was glauben Sie, wie groß kann der Druck sein, der von außen auf die Regierung ausgeübt werden kann, und ob er wirklich die Wirkung zeigt, dass zum Beispiel auch Gesetze zurückgenommen werden? Was meinen Sie?
Schicker: Das ist eine heikle Frage. Weil was Brüssel jetzt macht, ist ja im Prinzip, mit den Instrumenten eines alten, abgewirtschafteten Systems – also diesem System, was auf Schuldenlogik, auf Zins und Zinseszins beruht – Ungarn wieder unter Druck zu setzen. Orbán hat ja nicht umsonst die Systemfrage aufgeworfen und gestellt, die darin besteht zu sagen, kann es immer so weitergehen, dass wir uns abhängig machen vom internationalen Finanzmarkt, dass wir uns abhängig machen von völlig abgehobenen globalisierten Mechanismen, die gar nichts mehr mit dem eigentlichen demokratischen Prozess und dem Volkswillen zu tun haben. Er hat die Fragen richtig gestellt. Nur wie er sie beantwortet hat, das ist das eigentliche Problem.
Und wir sehen jetzt gerade in Ungarn eine Art Experiment laufen sozusagen, was ja von der EVP, also den europäischen Schwesterparteien der Fidesz, ja auch ganz wohlwollend beobachtet wird. Was passiert, wenn Populisten, wenn Extremisten unsere sozialen und wirtschaftlichen Krisen lösen wollen? Diese Systemfrage ist also zu stellen. Wir sehen ja an der Prioritätensetzung in der EU, die also jetzt krampfhaft versucht, dieses System des Euro und das System der Bankenwirtschaft zu retten, dass die Prioritäten ja nicht so gesetzt sind, dass die demokratischen Grundwerte als Erstes geschützt werden – dafür gibt es eigentlich außerhalb der Gerichte keine Mechanismen innerhalb der EU –, sondern dass man sich wieder auf den Binnenmarkt, auf den freien Kapitalfluss kapriziert und so weiter. Solang das so ist, wird man einer Bewegung wie der Orbán’schen rechtsnationalen Bewegung kaum was entgegensetzen können. Und da sind beide Seiten aufgerufen, die konservative wie die sogenannte sozialdemokratische Seite, sich doch bitte zu überlegen, was wichtiger ist: die Verteidigung einer Position oder die Zustände in einem Land?
Scholl: Ihre Zeitung, Herr Schicker, hat gerade einen langen offenen Brief veröffentlicht von ungarischen Oppositionellen, prominente Intellektuelle wie György Dalos oder György Konrád zählen dazu, und am Ende heißt es wörtlich: "Die diktatorische Macht in Ungarn hat bereits einen Punkt ohne Umkehr erreicht. Unter den jetzigen Umständen wird unser Land kaum in der Lage sein, aus eigener Kraft auf den Weg des Rechtsstaates zu finden." Das heißt im Umkehrschluss, eigentlich denkt man, es muss eigentlich von außen der Impuls kommen, der hier also einen Umsturz oder eine Umkehr verursacht. Wie sind die Reaktionen auf diese Thesen, auf diesen langen, sehr langen Brief im "Pester Lloyd"?
Schicker: Wir haben diese Sache vor allem dokumentiert, es ist ja nicht eins zu eins unsere Meinung, und zu den Unterzeichnern, die dort stehen, zählen ja nicht nur solche veritablen Intellektuellen wie der Herr Dalos oder Herr Konrád, sondern auch Minister der Vorgängerregierung, zum Beispiel der für Bildung oder auch der ehemalige langjährige Bürgermeister von Budapest von der SPS, von den Liberalen. Das sind Leute, die sicherlich gutes Ansehen haben, allerdings sich auch relativ schnell nach dem Machtwechsel ins Privatleben zurückgezogen haben, wo man sich dann schon fragt: Wo sind die die letzten anderthalb Jahre geblieben? Das ist ein Teil und ein Aspekt der Oppositionsbewegung.
Was die Hilfe von außen betrifft, geht es darum, dass tatsächlich die EU sich selber überprüfen muss, die EU-Kommission, aber eben auch die Regierungschefs der demokratischen westlichen Länder, und die rote Linie dem Orbán ganz klar aufzeigen müssen, sagen: Bis hier hin und nicht weiter! Diese Unterstützung würde dann auch die ungarische Oppositionsbewegung stärken und sagen, dass es zeigt, dass es nicht sein kann, zu glauben, dass eine demokratisch erlangte Mehrheit dazu berechtigt, dazu legitimiert, demokratische Grundrechte abzubauen. Dazu ist niemand legitimiert.
Scholl: Die Entwicklung in Ungarn unter der neuen Verfassung – das war Marco Schicker von der Onlinezeitung für Ungarn und Osteuropa "Pester Lloyd". Ich danke Ihnen, Herr Schicker, für das Gespräch!
Schicker: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Am Telefon in Wien ist jetzt Marco Schicker. Er ist Chefredakteur der deutschsprachigen Onlinezeitung "Pester Lloyd", eine Zeitung für Ungarn und Osteuropa. Guten Tag, Herr Schicker!
Marco Schicker: Guten Tag!
Scholl: Dieser Protest nun auf den Straßen – immerhin mehrere Zehntausend Demonstranten –, ist das ein Zeichen der Hoffnung für Sie?
Schicker: Es ist ein Zeichen der Hoffnung, aber es ist vor allem erst mal ein Zeichen eines Beginns, denn unter diesen 10.000 Demonstranten oder mehreren Zehntausend Demonstranten sind viele, viele kleine Gruppen, die sich in den letzten Monaten und Jahren erst gebildet haben: von Facebook-Bewegungen, Internet-Bewegungen über grün-alternative Gruppierungen, Parteien, linke Gruppen, aber auch gewerkschaftsübergreifende Organisationen, die sich zum Beispiel an der polnischen "Solidarnosc"-Idee orientieren.
Was wir jetzt sehen, ist, dass die Opposition überhaupt erst mal zur Besinnung kommen muss, denn wir dürfen ja nicht vergessen, dass die größte Oppositionspartei, die MSP – die sogenannte sozialistische Partei – ja völlig diskreditiert ist, und das eigentlich auch zu Recht. Denn zum einen hat sie ja durch ihre Misswirtschaft und durch ihren – sage ich mal – entfesselten globalisierten Raubkapitalismus, um das mal plakativ zu sagen, überhaupt erst für das Chaos in dem Land gesorgt und auch dafür gesorgt, dass Herr Orbán diese große Fülle überhaupt in die Hände bekam. Und diese MSP hat sich gespalten vor wenigen Wochen – und zwar hat der Ex-Premier Gyurcsány, also eines der Hauptfeindbilder der rechten Landeshälfte – hat sich mit einer demokratischen Koalition abgespalten und gibt sich jetzt als Mitte-Links-Alternative, und die MSP selber hat es bis heute noch nicht geschafft, sich zu ihrer Verantwortung in der Vergangenheit zu stellen und sich personell und strukturell und auch inhaltlich zu erneuern. Und deshalb … ja, Entschuldigung?
Scholl: Nein, nein, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Nun kann die Opposition im Parlament natürlich politisch eigentlich derzeit ja wohl überhaupt keine sozusagen maßgebliche Rolle spielen, dadurch, dass die Zwei-Drittel-Mehrheit der Fidesz-Partei ja alles sozusagen überrollt. Glauben Sie denn, dass jetzt dieser Protest auf den Straßen, dass das jetzt auch so eine Art doch repräsentativer Protest ist von vielleicht auch Leuten, die Orbán gewählt haben, die jetzt aber sagen, also diese Weiterungen, die Verfassungsänderungen – wir müssen auch noch die Mediengesetze erwähnen, die ja verabschiedet worden sind und praktisch die Medien de facto unter die Kontrolle des Staates bringen –, ob denn hier dieser Protest eine Art Repräsentanz hat?
Schicker: Nein, das ist noch nicht repräsentativ. Das wäre schon der nächste Schritt, auf den müssen wir jetzt zuarbeiten in Ungarn. Was wir am Montag in Budapest auf der Straße gesehen haben, ist, sage ich mal zugespitzt, das großstädtische Bildungsbürgertum, ja? Die Umfragen sagen klipp und klar, dass die Menschen und auch die, die Fidesz gewählt haben, enttäuscht sind überwiegend – Fidesz hat über die Hälfte seiner Zustimmung verloren, das bedeutet schon etwas –, nur die Konsequenz daraus ist, dass wir heute erfahren, dass rund 60 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht mehr zur Wahl gehen wollen.
Und sie schauen sich also relativ deprimiert natürlich an, dass sie wieder einmal die falsche Wahl getroffen haben, und jetzt schauen sie, welche Alternativangebote es überhaupt gibt. Und Sie haben völlig recht – es ist wahrscheinlich Fakt, und das ist auch gut so und auch ein Signal für überhaupt Europa –, dass die Alternativen vielleicht nicht mehr aus dem Parlament kommen. Es gibt ja noch neben der sozialistischen Opposition die LMP, das ist eine grün-liberale Partei, die aber als sehr verkopft gilt und sehr lange braucht, um sich abzugrenzen erst mal von den anderen Gruppen, und sehr intellektuell agiert, was jetzt auch nicht so besonders ankommt.
Es gibt aber auf der Straße, wie gesagt, gewerkschaftliche Organisationen. Es gibt diesen Herrn Péter Kónya, das ist jetzt momentan so die Gallionsfigur, die sich vielleicht da herausschält, von der Szolidaritás-Bewegung, die übergewerkschaftlich tätig ist. Und die versucht klarzumachen, dass das Problem in Ungarn heute nicht wie jahrzehntelang dargestellt zwischen links und rechts existiert, also diese alten ideologischen Grabenkämpfe nicht mehr weiterführen, sondern dass es ein Problem zwischen Selbstbestimmung und Knechtung ist. Und wenn sich das artikuliert – und mit dieser Idee der Solidarnosc im Hintergrund, von der man ja auch das Logo adaptiert hat –, macht man sich erst mal grundsätzlich unverdächtig, irgendwie links zu sein und gibt vielleicht dem normalen Wahlvolk, um es mal so zu sagen, doch eine Alternative an die Hand, zu verstehen, dass es um ihre ureigensten Interessen geht, wenn sie auf die Straßen gehen.
Scholl: Ungarn und die Proteste gegen die neue Verfassung – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Marco Schicker von der Onlinezeitung "Pester Lloyd". Wir haben, Herr Schicker, gestern in unserer Sendung "Fazit" mit dem in Budapest lehrenden Germanisten Wilhelm Droste gesprochen, und seiner Meinung nach ist es auch ein starker Jugendprotest, der sich jetzt artikuliert und der sich auch vor allem im Internet abspielt. Es gibt zum Beispiel kritische Songs, die hunderttausendfach angeklickt werden, und Wilhelm Droste war durchaus optimistisch, dass dieser Protest zunimmt und auch Wirkung zeigen könnte. Was denken Sie?
Schicker: Ja, natürlich, die Jugend – das ist ein altes, abgegriffenes Wort, aber es ist ja so, dass die Jugend die Hoffnung ist. Allerdings ist auch die Jugend gespalten in Ungarn, und es gibt einen Teil der Jugendlichen, die versuchen im Ausland ihr Glück, die gehen für Ungarn verloren, und es sind oft auch gut Gebildete. Viel von dem, was im Internet stattfindet, ist auch schnell verpuffender Aktionismus, das darf man auch nicht überbewerten. Das hat natürlich medial eine ganz tolle Präsenz und ist auch alles sehr lustig und einfallsreich, was dort stattfindet, aber die Wahlen werden nicht durch Facebook gewonnen, nach wie vor nicht, und das ist wichtig.
Wir haben jetzt zwei Sachen: Das eine, sagte ich, das wichtig ist, dass die Opposition sich endlich an einen Tisch setzt und sich nicht jede Oppositionsgruppe einen eigenen Tisch schnappt und Pressekonferenzen gibt, dass sie Ziele artikulieren, die bis weit in die gesellschaftliche Mitte, auch in das konservative Lager akzeptabel sind, die sagen, wir sind auf der Suche nach einem normalen Ungarn, weg von nationalistischen Parolen, weg von Extremen in beide Richtungen, hin wieder zu einer Normalität, die aber vor allem darauf pocht, dass die Menschen selbstbestimmt tätig sind. Das ist der Sinn einer Demokratie, dass die Menschen ihren Willen artikulieren und ihn auch umsetzen – im Rahmen der Freiheit der anderen auch natürlich. Und das ist die eine Geschichte, und die andere Seite ist die – und das ist die andere Hoffnung, aber auch eine Angst –, ist, dass das System Orbán an sich selbst scheitern wird, vor allem auf dem Gebiet der Wirtschaft gibt es dafür ganz klare Anzeichen.
Scholl: Ja, weil …
Schicker: Beides hat Chancen und Gefahren in sich.
Scholl: Weil Brüssel natürlich jetzt auch aufgewacht ist und zum Beispiel die Finanzhilfen unterbinden will, wenn also nach der neuen Verfassung – die Nationalbank ist jetzt sozusagen verstaatlicht worden –, hier wird Brüssel … ja, will in Brüssel intervenieren. Was glauben Sie, wie groß kann der Druck sein, der von außen auf die Regierung ausgeübt werden kann, und ob er wirklich die Wirkung zeigt, dass zum Beispiel auch Gesetze zurückgenommen werden? Was meinen Sie?
Schicker: Das ist eine heikle Frage. Weil was Brüssel jetzt macht, ist ja im Prinzip, mit den Instrumenten eines alten, abgewirtschafteten Systems – also diesem System, was auf Schuldenlogik, auf Zins und Zinseszins beruht – Ungarn wieder unter Druck zu setzen. Orbán hat ja nicht umsonst die Systemfrage aufgeworfen und gestellt, die darin besteht zu sagen, kann es immer so weitergehen, dass wir uns abhängig machen vom internationalen Finanzmarkt, dass wir uns abhängig machen von völlig abgehobenen globalisierten Mechanismen, die gar nichts mehr mit dem eigentlichen demokratischen Prozess und dem Volkswillen zu tun haben. Er hat die Fragen richtig gestellt. Nur wie er sie beantwortet hat, das ist das eigentliche Problem.
Und wir sehen jetzt gerade in Ungarn eine Art Experiment laufen sozusagen, was ja von der EVP, also den europäischen Schwesterparteien der Fidesz, ja auch ganz wohlwollend beobachtet wird. Was passiert, wenn Populisten, wenn Extremisten unsere sozialen und wirtschaftlichen Krisen lösen wollen? Diese Systemfrage ist also zu stellen. Wir sehen ja an der Prioritätensetzung in der EU, die also jetzt krampfhaft versucht, dieses System des Euro und das System der Bankenwirtschaft zu retten, dass die Prioritäten ja nicht so gesetzt sind, dass die demokratischen Grundwerte als Erstes geschützt werden – dafür gibt es eigentlich außerhalb der Gerichte keine Mechanismen innerhalb der EU –, sondern dass man sich wieder auf den Binnenmarkt, auf den freien Kapitalfluss kapriziert und so weiter. Solang das so ist, wird man einer Bewegung wie der Orbán’schen rechtsnationalen Bewegung kaum was entgegensetzen können. Und da sind beide Seiten aufgerufen, die konservative wie die sogenannte sozialdemokratische Seite, sich doch bitte zu überlegen, was wichtiger ist: die Verteidigung einer Position oder die Zustände in einem Land?
Scholl: Ihre Zeitung, Herr Schicker, hat gerade einen langen offenen Brief veröffentlicht von ungarischen Oppositionellen, prominente Intellektuelle wie György Dalos oder György Konrád zählen dazu, und am Ende heißt es wörtlich: "Die diktatorische Macht in Ungarn hat bereits einen Punkt ohne Umkehr erreicht. Unter den jetzigen Umständen wird unser Land kaum in der Lage sein, aus eigener Kraft auf den Weg des Rechtsstaates zu finden." Das heißt im Umkehrschluss, eigentlich denkt man, es muss eigentlich von außen der Impuls kommen, der hier also einen Umsturz oder eine Umkehr verursacht. Wie sind die Reaktionen auf diese Thesen, auf diesen langen, sehr langen Brief im "Pester Lloyd"?
Schicker: Wir haben diese Sache vor allem dokumentiert, es ist ja nicht eins zu eins unsere Meinung, und zu den Unterzeichnern, die dort stehen, zählen ja nicht nur solche veritablen Intellektuellen wie der Herr Dalos oder Herr Konrád, sondern auch Minister der Vorgängerregierung, zum Beispiel der für Bildung oder auch der ehemalige langjährige Bürgermeister von Budapest von der SPS, von den Liberalen. Das sind Leute, die sicherlich gutes Ansehen haben, allerdings sich auch relativ schnell nach dem Machtwechsel ins Privatleben zurückgezogen haben, wo man sich dann schon fragt: Wo sind die die letzten anderthalb Jahre geblieben? Das ist ein Teil und ein Aspekt der Oppositionsbewegung.
Was die Hilfe von außen betrifft, geht es darum, dass tatsächlich die EU sich selber überprüfen muss, die EU-Kommission, aber eben auch die Regierungschefs der demokratischen westlichen Länder, und die rote Linie dem Orbán ganz klar aufzeigen müssen, sagen: Bis hier hin und nicht weiter! Diese Unterstützung würde dann auch die ungarische Oppositionsbewegung stärken und sagen, dass es zeigt, dass es nicht sein kann, zu glauben, dass eine demokratisch erlangte Mehrheit dazu berechtigt, dazu legitimiert, demokratische Grundrechte abzubauen. Dazu ist niemand legitimiert.
Scholl: Die Entwicklung in Ungarn unter der neuen Verfassung – das war Marco Schicker von der Onlinezeitung für Ungarn und Osteuropa "Pester Lloyd". Ich danke Ihnen, Herr Schicker, für das Gespräch!
Schicker: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.