Vielfalt der Perspektiven statt heroischem Realismus
Einfache Soldaten, Krankenschwestern, Feldchirurgen: Der Historiker, ehemalige Professor für Erzählkunst und Kriegsreporter Peter Englund erzählt anhand der Erlebnisse von neunzehn Menschen die Geschichte des Ersten Weltkriegs.
Peter Englund, der versierte Historiker, ehemalige Professor für Erzählkunst und weitgereiste Kriegsreporter hat für sein neuestes Buch ein Thema gefunden, das wie kaum ein anderes seine verschiedenen Talente allesamt zur Geltung kommen lässt. Er erzählt die Geschichte des Ersten Weltkriegs in neunzehn Schicksalen. Dass er sich gerade für diesen Krieg entschieden hat, begründet er so:
"Der Erste Weltkrieg interessiert mich ganz besonders, weil er DIE große Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist, die dann alle anderen Katastrophen nach sich gezogen hat. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es weder Hitler noch Stalin gegeben, keinen Zweiten Weltkrieg und auch keinen Kalten Krieg. Tatsächlich ist er das bedeutendste Ereignis der europäischen Geschichte seit dem Ende des weströmischen Reiches im Jahr 476. Außerdem hat dieser Krieg nicht so eine einfache moralische Botschaft wie der Zweite Weltkrieg, in dem das Licht gegen die Finsternis stand, das Gute gegen das Böse, die Demokratie gegen den Faschismus. Außerdem ist es eine spannende Geschichte: Zu Beginn erhebt das Monster sein Haupt und schickt sich an, die Welt zu erobern, aber mit großer Mühe wird es schließlich in seine Höhle zurück gezwungen und besiegt."
Englunds Anspruch zielt nicht darauf, den Leser darüber zu informieren, was dieser Krieg war, wie er entstand, verlief und endete. Er will uns einen Eindruck davon vermitteln, wie der Krieg war.
Sein Ausgangsmaterial sind autobiografische Aufzeichnungen, wobei das Buch leider keinerlei bibliografische Hinweise zu den zitierten Quellen enthält. Anders als Peter Walther, der in dem kollektiven Tagebuch "Endzeit Europa" Texte von Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten gesammelt hat, stützt Englund sich vor allem auf die Erlebnisse von Kombattanten, 14 Soldaten unterschiedlicher Waffengattungen und unterschiedlicher Nationalität sowie eine Krankenschwester, ein Feldchirurg und eine Ambulanzfahrerin. Sie kommen an den unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen zum Einsatz, an der Westfront, der Ostfront, in Norditalien, in Afrika und im Nahen Osten. Stellvertretend für die Menschen an der Heimatfront stehen ein französischer Ministerialbeamter und ein deutsches Schulmädchen.
Anders als Peter Walther oder auch Walter Kempowski in seinem "Echolot" begnügt Englund sich nicht damit, die Texte seiner Protagonisten in einer Collage zu montieren. Er erzählt ihre Schicksale mit eigenen Worten und streut nur gelegentlich Zitate ein. Wenn der britische Infanterist Alfred Pollard verwundet wird, liest sich das dann so:
"Pollard will einem Soldaten gerade einen Sack Handgranaten geben, als der Mann plötzlich zusammenbricht. Gleichzeitig spürt Pollard, wie seine eigene rechte Hand herunterfällt und der Sack seinem Griff entgleitet. Eine Kugel hat den Mann vor ihm gerade durchbohrt, dann die Richtung geändert und ist mit der stumpfen Seite nach vorn in Pollards Schulter gedrungen. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist der Gedanke, nicht ohnmächtig werden zu dürfen: ‚Nur Mädchen werden ohnmächtig.’ Dann verliert er das Bewusstsein."
Alfred Pollard überlebt den Krieg, anders als Kresten Andresen, der eigentlich Däne ist, aber, nachdem Preußen nach dem Deutschen Krieg von 1866 Südschleswig annektiert hatte, zur preußischen Armee eingezogen wird. Ein weiterer von Englunds Protagonisten kommt um, ein anderer, der schon die letzte Ölung bekommen hatte, überlebt, fällt aber geistiger Umnachtung anheim. Zwei werden als Kriegshelden gefeiert, andere enden als körperliche Wracks. Und alle sind von dem, was sie erlebt und durchlitten haben, gezeichnet. Auch das Schulmädchen Elfriede Kuhr, bei Kriegsende 16 Jahre alt, das den heute in Polen gelegenen Ort Schneidemühl während der gesamten Zeit nicht verlassen hatte, aber um einen Leutnant trauert, in den es sich verliebt hatte und der im letzten Kriegsjahr gefallen war.
Faszinierend ist die Geschichte des Südamerikaners Rafael de Nogales, der über den Atlantik fährt, um als Freiwilliger an diesem Krieg teilnehmen zu können. Er war in Deutschland aufgewachsen und neigte zunächst dazu, für die Mittelmächte zu kämpfen, doch der deutsche Einmarsch in das neutrale Belgien veranlasst ihn dazu, seine Dienste dem "heroischen Belgien" anzubieten. Aber die belgischen Behörden lehnen ab.
Nicht anders ergeht es Nogales bei den Franzosen, Serben und Russen. Schließlich trifft er den türkischen Botschafter in Bulgarien und wird Kavallerist in der Armee des Osmanischen Reiches. Statt in den Krieg zu ziehen, wird er Zeuge der türkischen Massaker an den Armeniern:
"Väter, Brüder, Söhne und Enkel lagen so, wie sie durch die Kugeln der Mörder gefallen waren. Aus mehr als einer durchschnittenen Kehle entwich das Leben im Herzschlag des warmen Blutes. Scharen von Geiern saßen auf den Haufen, hackten den Toten und Sterbenden die Augen aus, deren starre Blicke noch das Entsetzen und den unsagbaren Schmerz zu spiegeln schienen, während die aasfressenden Hunde ihre scharfen Zähne in Eingeweide schlugen, die noch von Leben pulsierten."
Nogales, das lässt sein Bericht deutlich erkennen, ist schockiert. Aber seine Empfindungen muss er für sich behalten, um nicht als Christ in den Verdacht zu geraten, mit den Armeniern zu sympathisieren. Er kommt aber mit heiler Haut davon und wird schließlich in Palästina eingesetzt. Das Kriegsende erlebt er am Jordan, wo er unter dem Oberkommando des legendären Otto Liman von Sanders steht, einem deutschen General und osmanischen Feldmarschall, der die Niederlage gegen die Briten zwar erheblich hinauszögern, aber nicht verhindern kann.
Peter Englund lässt uns mit beachtlichem Einfühlungsvermögen teilnehmen an einem entscheidenden Abschnitt im Leben von 19 höchst unterschiedlichen Menschen. Gegen den heroischen Realismus eines Ernst Jünger setzt er die Vielfalt der Perspektiven, gegen die Meistererzählung die Mikrohistorie. Dieses Buch beantwortet nicht alle Fragen zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, aber seine Lektüre ist zweifellos eine Bereicherung.
Peter Englund: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
Links auf dradio.de:
"Du, Mensch, du bist nicht mehr"
Der Krieg von ganz unten - Peter Englund: "Schönheit und Schrecken
"Der Erste Weltkrieg interessiert mich ganz besonders, weil er DIE große Katastrophe des 20. Jahrhunderts ist, die dann alle anderen Katastrophen nach sich gezogen hat. Ohne den Ersten Weltkrieg hätte es weder Hitler noch Stalin gegeben, keinen Zweiten Weltkrieg und auch keinen Kalten Krieg. Tatsächlich ist er das bedeutendste Ereignis der europäischen Geschichte seit dem Ende des weströmischen Reiches im Jahr 476. Außerdem hat dieser Krieg nicht so eine einfache moralische Botschaft wie der Zweite Weltkrieg, in dem das Licht gegen die Finsternis stand, das Gute gegen das Böse, die Demokratie gegen den Faschismus. Außerdem ist es eine spannende Geschichte: Zu Beginn erhebt das Monster sein Haupt und schickt sich an, die Welt zu erobern, aber mit großer Mühe wird es schließlich in seine Höhle zurück gezwungen und besiegt."
Englunds Anspruch zielt nicht darauf, den Leser darüber zu informieren, was dieser Krieg war, wie er entstand, verlief und endete. Er will uns einen Eindruck davon vermitteln, wie der Krieg war.
Sein Ausgangsmaterial sind autobiografische Aufzeichnungen, wobei das Buch leider keinerlei bibliografische Hinweise zu den zitierten Quellen enthält. Anders als Peter Walther, der in dem kollektiven Tagebuch "Endzeit Europa" Texte von Schriftstellern, Künstlern und Gelehrten gesammelt hat, stützt Englund sich vor allem auf die Erlebnisse von Kombattanten, 14 Soldaten unterschiedlicher Waffengattungen und unterschiedlicher Nationalität sowie eine Krankenschwester, ein Feldchirurg und eine Ambulanzfahrerin. Sie kommen an den unterschiedlichsten Kriegsschauplätzen zum Einsatz, an der Westfront, der Ostfront, in Norditalien, in Afrika und im Nahen Osten. Stellvertretend für die Menschen an der Heimatfront stehen ein französischer Ministerialbeamter und ein deutsches Schulmädchen.
Anders als Peter Walther oder auch Walter Kempowski in seinem "Echolot" begnügt Englund sich nicht damit, die Texte seiner Protagonisten in einer Collage zu montieren. Er erzählt ihre Schicksale mit eigenen Worten und streut nur gelegentlich Zitate ein. Wenn der britische Infanterist Alfred Pollard verwundet wird, liest sich das dann so:
"Pollard will einem Soldaten gerade einen Sack Handgranaten geben, als der Mann plötzlich zusammenbricht. Gleichzeitig spürt Pollard, wie seine eigene rechte Hand herunterfällt und der Sack seinem Griff entgleitet. Eine Kugel hat den Mann vor ihm gerade durchbohrt, dann die Richtung geändert und ist mit der stumpfen Seite nach vorn in Pollards Schulter gedrungen. Das Letzte, woran er sich erinnert, ist der Gedanke, nicht ohnmächtig werden zu dürfen: ‚Nur Mädchen werden ohnmächtig.’ Dann verliert er das Bewusstsein."
Alfred Pollard überlebt den Krieg, anders als Kresten Andresen, der eigentlich Däne ist, aber, nachdem Preußen nach dem Deutschen Krieg von 1866 Südschleswig annektiert hatte, zur preußischen Armee eingezogen wird. Ein weiterer von Englunds Protagonisten kommt um, ein anderer, der schon die letzte Ölung bekommen hatte, überlebt, fällt aber geistiger Umnachtung anheim. Zwei werden als Kriegshelden gefeiert, andere enden als körperliche Wracks. Und alle sind von dem, was sie erlebt und durchlitten haben, gezeichnet. Auch das Schulmädchen Elfriede Kuhr, bei Kriegsende 16 Jahre alt, das den heute in Polen gelegenen Ort Schneidemühl während der gesamten Zeit nicht verlassen hatte, aber um einen Leutnant trauert, in den es sich verliebt hatte und der im letzten Kriegsjahr gefallen war.
Faszinierend ist die Geschichte des Südamerikaners Rafael de Nogales, der über den Atlantik fährt, um als Freiwilliger an diesem Krieg teilnehmen zu können. Er war in Deutschland aufgewachsen und neigte zunächst dazu, für die Mittelmächte zu kämpfen, doch der deutsche Einmarsch in das neutrale Belgien veranlasst ihn dazu, seine Dienste dem "heroischen Belgien" anzubieten. Aber die belgischen Behörden lehnen ab.
Nicht anders ergeht es Nogales bei den Franzosen, Serben und Russen. Schließlich trifft er den türkischen Botschafter in Bulgarien und wird Kavallerist in der Armee des Osmanischen Reiches. Statt in den Krieg zu ziehen, wird er Zeuge der türkischen Massaker an den Armeniern:
"Väter, Brüder, Söhne und Enkel lagen so, wie sie durch die Kugeln der Mörder gefallen waren. Aus mehr als einer durchschnittenen Kehle entwich das Leben im Herzschlag des warmen Blutes. Scharen von Geiern saßen auf den Haufen, hackten den Toten und Sterbenden die Augen aus, deren starre Blicke noch das Entsetzen und den unsagbaren Schmerz zu spiegeln schienen, während die aasfressenden Hunde ihre scharfen Zähne in Eingeweide schlugen, die noch von Leben pulsierten."
Nogales, das lässt sein Bericht deutlich erkennen, ist schockiert. Aber seine Empfindungen muss er für sich behalten, um nicht als Christ in den Verdacht zu geraten, mit den Armeniern zu sympathisieren. Er kommt aber mit heiler Haut davon und wird schließlich in Palästina eingesetzt. Das Kriegsende erlebt er am Jordan, wo er unter dem Oberkommando des legendären Otto Liman von Sanders steht, einem deutschen General und osmanischen Feldmarschall, der die Niederlage gegen die Briten zwar erheblich hinauszögern, aber nicht verhindern kann.
Peter Englund lässt uns mit beachtlichem Einfühlungsvermögen teilnehmen an einem entscheidenden Abschnitt im Leben von 19 höchst unterschiedlichen Menschen. Gegen den heroischen Realismus eines Ernst Jünger setzt er die Vielfalt der Perspektiven, gegen die Meistererzählung die Mikrohistorie. Dieses Buch beantwortet nicht alle Fragen zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, aber seine Lektüre ist zweifellos eine Bereicherung.
Peter Englund: Schönheit und Schrecken. Eine Geschichte des Ersten Weltkriegs, erzählt in neunzehn Schicksalen.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
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"Du, Mensch, du bist nicht mehr"
Der Krieg von ganz unten - Peter Englund: "Schönheit und Schrecken