SprecherIn: Nadja Schulz-Berlinghoff und Max Urlacher
Regie: Klaus-Michael Klingsporn
Ton: Bernd Friebel
Redaktion: Dorothea Westphal
Die Sendung ist eine Wiederholung vom 30.12.2016.
"Dann schlafe ich halt nicht"
29:44 Minuten
Die Nebenwirkungen dieser Droge bleiben zum Glück gering − bis auf den Schlafmangel. Wie gehen "Bookaholics" mit ihrer Bücher- und Lesesucht um? Eine Sendung über Rituale, den komatösen Leserausch und die Tricks für ungebrochenen Lesefluss.
Im 18. Jahrhundert zählte das Lesen zu den gefährlichen Tätigkeiten – vor allem für Kinder und Frauen. Heute dagegen gilt die Lesesucht als eine begrüßenswerte Rauscherfahrung, weil nur geringe Nebenwirkungen zu erwarten sind, etwa die Folgen freiwilligen Schlafentzugs.
Wie glücklich müssen all jene sein, bei denen Droge und Profession in eins fallen, etwa Verleger, Lektoren, Buchhändler, Schriftsteller, Kritiker oder Literaturagenten? Also berufliche Bookaholics. Wie wählen sie ihren Stoff? Wie sortieren sie ihre Bücherstapel, legen sie Leselisten an, wie viele Bücher schaffen sie parallel? Wann, wo und wie kultivieren sie ihre Leidenschaft?
Ein intimes Verhältnis zu Büchern
"Ich hab 'ne elektronische Zahnbürste, und die hört nach zweieinhalb Minuten auf, und wenn die Bücher spannend sind, stell ich die aber einfach wieder an, weil ich gerade den Lesefluss nicht unterbrechen möchte", sagt Felicitas von Lovenberg, Leiterin des Piper Verlags. Sie beneidet Menschen, die noch nie ein Buch von Tolstoi in Händen hatten, weil sie dieses Vergnügen noch vor sich haben. Und vermutet, dass männliche Bookaholics nicht so gerne über ihre Lesesucht sprechen, weil das Schwärmerische eher keine Männersache sei.
"Ich rieche gerne an Büchern, gerade an neuen Büchern. Wenn ich die das erste Mal aufschlage, dann halte ich sie direkt an die Nase. Ich liebe diesen Geruch nach dem Papier und dieser Bindung", erzählt Martin Hielscher, Lektor, Übersetzer, Herausgeber, Literaturvermittler und vor allem Programmmacher beim C. H. Beck Verlag. Er hat 12.000 Bücher bei sich zu Hause, vom Keller bis zum Dach. Regale und Stapel gibt es sogar in der Diele und der Toilette.
Bookaholics, also Lesesüchtige, pflegen zu Büchern ein besonders intimes Verhältnis.
"Es gibt Bücher, die les ich in einer Nacht, und dann schlaf ich halt nicht", erzählt Nicoletta Miller, Inhaberin der Buchhandlung "Wortwahl" in München. Sie ist Allesleserin - nur Liebesschnulzen hält sie für verschwendete Lebenszeit. Sie spricht liebevoll über ihren verstorbenen Hund, der nach der Hauptfigur von F. Scott Fitzgeralds bekanntestem Roman benannt war: Gatsby.
"Für die Leseweise von Lyrik und Prosa ist es so, dass mir Lyrik die stärkere Droge ist", sagt Pia Elisabeth Leuschner, Programmmitarbeiterin des Lyrikkabinetts in München. Sie liest manchmal bis zu sieben Bücher die Woche, manchmal nur eins. Sie hält Gedichte für die stärkste Lesedroge und findet, dass das Lesen häufig spannender ist als das Leben. Es kann aber auch umgekehrt sein.
"Ein Buch muss auch nach dem Lesen noch ungelesen aussehen – im Idealfall. Und deswegen tu ich auf jeden Fall immer den Schutzumschlag weg, dass wenn der Umschlag beschädigt wird, dass das verdeckt wird durch das Cover", meint Pierre Jarawan, Poetryslammer und Autor. Er hat in seinem Regal einen Roman von Rafik Schami mit dem Titel "Sophia oder der Anfang aller Geschichten", weil er mehrmals mit dem syrischen Autor verglichen wurde. Er meint, dass dieser zwar auch eine blumige Sprache habe, aber, so wörtlich, "anders blumig".
Symptome der Lesesucht
Zu den typischen Symptomen der Lesesucht gehören die Unersättlichkeit oder die Maßlosigkeit. Bookaholics ignorieren schon mal wichtige Körpersignale wie Müdigkeit, Hunger, Durst, aber auch das Telefon oder sogar den Partner. Lesesüchtigen ist gemein, dass sie ihre Neigung bereits sehr jung, meist in der frühen Kindheit entdeckten.
Martin Hielscher erzählt: "Ich glaube, irgendwann so als Junge ging das los mit Jugendbüchern, vor allem mit Abenteuerliteratur. Meine Mutter hat Karl May immer etwas gebasht. Der war ihr nicht gut genug. Insofern war das negativ besetzt bei uns zu Hause, stattdessen hab ich dann Fritz Steuben gelesen, der hat diese Tecumseh-Romane geschrieben. Das waren Indianerbücher, die sind auch relativ gut."
Martin Hielscher erzählt: "Ich glaube, irgendwann so als Junge ging das los mit Jugendbüchern, vor allem mit Abenteuerliteratur. Meine Mutter hat Karl May immer etwas gebasht. Der war ihr nicht gut genug. Insofern war das negativ besetzt bei uns zu Hause, stattdessen hab ich dann Fritz Steuben gelesen, der hat diese Tecumseh-Romane geschrieben. Das waren Indianerbücher, die sind auch relativ gut."
Nicoletta Miller entwickelte Strategien, um als Kind die Karl May-Bücher ihres Vaters lesen zu können: "Denn abends sollte ich schlafen, wie jedes andere brave Kind auch. Ich hab dann das Schlüsselloch mit Kaugummi abgeklebt, damit das Licht nicht rauskommt. Dann hab ich immer, wenn ich ins Bett gegangen bin, rundrum alles abgedichtet, also rund um die Tür alles abgedichtet. Als sie da dann draufgekommen sind, habe ich mir von meinem Taschengeld – und ich hatte sehr, sehr wenig – eine Lampe zusammengespart, und ich hab unter der Bettdecke mit der Lampe gelesen. Ich hab immer noch dieses Gefühl in mir, heimlich in der Nacht unter der Bettdecke liegend und lesend. Das war für mich das Größte."
Felicitas von Lovenberg erinnert sich: "Ich hab mit sieben Jahren angefangen, Klavier zu spielen, und ich hatte die strenge Auflage von meinem Vater, jeden Tag mindestens eine Stunde zu üben, und meine Mutter hatte die Aufgabe zu überprüfen, ob ich auch wirklich eine Stunde übte. Aber die war dann nicht so streng wie mein Vater. Sie hat sich relativ wenig dafür interessiert, was ich da spiele. Ich hab also relativ regelmäßig das Buch vor die Noten gestellt und habe so vor mich hin improvisiert. Nicht sehr einfallsreich – und hab einfach eine Stunde gelesen. Der Klavierlehrer hat sich dann allerdings beschwert, dass die Fortschritte nicht entsprechend waren."
Pia-Elisabeth Leuschner vergleicht sich bei ihrer Lesesucht mit einem Insekt: "Das Insekt saugt an einer Blüte und hat mit irgendwelchen Facetten seiner Augen, die rückwärts oder seitwärts schauen, schon andere Blüten im Blick, wo es dann hinfliegen will. Und dann fliegt es los zu diesen anderen Blüten, und dann kommt ein starker Wind, und es wird woanders hingetragen, und es saugt dort, an den Blüten, die es findet, begeistert weiter. So gibt es Systeme interferierender Dringlichkeiten: Das heißt, einerseits Bücher, die durch die Arbeit zu mir kommen, und die ich lesen möchte und muss, weil sie im Programm des Lyrikkabinetts vorkommen, und andere Bücher, die ich von mir aus lesen möchte, wo ich, wenn ich sie bekomme, im Flur sie auspacke, aufreiße und zu lesen anfange, bevor ich wieder am Schreibtisch bin."
Mehrere Bücher gleichzeitig
Berufsleser sind oftmals an mehreren Lektüren gleichzeitig zugange. Martin Hielscher liest schon mal zehn Bücher parallel, darunter alle Gattungen: Romane, Lyrik, Sachbücher, Philosophisches und Krimis.
Das Parallellesen will gut organisiert sein. Dafür eignen sich Listen – handgeschriebene, digital erstellte oder nur im Kopf erdachte. Es eignen sich aber auch Stapel. Stapel an verschiedenen Orten, in verschiedenen Räumen, Stapel auf dem Boden, auf dem Schreibtisch, vor den Büchern in Regalen. Pia-Elisabeth Leuschner vom Lyrikkabinett München hat ein besonders komplexes Organisationsritual, um ihre ungelesenen Bücher zu sortieren und herauszufinden, welches als nächstes an der Reihe ist, wie sie erzählt:
"Es gibt verschiedene Systeme, und manchmal muss ein Buch alle diese Systeme durchlaufen, um bei mir anzukommen. Das heißt, im Lyrikkabinett gibt es Listen, in meinem Arbeitszimmer gibt es ein Regal von den schon sehr nahe gerückten Büchern, in meinem Schlafzimmer gibt es ein Regal von Kann-Büchern und in meinem Schlafzimmer gibt’s außerdem einen Stapel neben meinem Bett. Und es gibt Bücher, die müssen quasi die Ochsentour durch all diese Listen oder potenziellen Listen machen, bis sie bei mir ankommen. Und manche Bücher bekomme ich in die Hand, und ich weiß, das muss ich jetzt lesen und ich kann es kaum aushalten, die U-Bahnfahrt nach Hause hinter mich zu bringen, um damit anzufangen."
Ein Tisch als Halde und Höhle
Zu Hause bei Martin Hielscher stapeln sich die Bücher an verschiedensten Orten. Wobei die Buchrücken nicht immer gleich ausgerichtet sind, die Stapel drehen sich schon mal um die eigene Achse. Über seinen Schreibtisch sagt er: "Ich hab einen riesigen Schreibtisch zum Beispiel, das ist eigentlich ein Esstisch für 12 Personen, der steht quer durch mein ganzes Zimmer durch. Der ist aber komplett voll, da ist kein einziger Raum mehr darauf frei. Das ist nicht sehr sortiert. Das ist eine Mischung aus Halde und Höhle und ich leide natürlich auch darunter."
Aufgefordert, kurz zu erzählen, womit ihre persönliche Lesebiographie begann, sagt Felicitas von Lovenberg: "Karl May: ganz viele Bücher haben mich sehr geprägt, weil sie mir beigebracht haben, wie man bei der Stange bleibt und dass das wichtig ist beim Lesen. Dass auch mal hundert Seiten nur Landschaftsschilderungen sein dürfen, wenn‘s nur gut gemacht ist. 'Pu der Bär' hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, in der Not Freunde zu haben. Jane Austens 'Stolz und Vorurteil' hat mir in der Pubertät gezeigt, dass das Sein wichtiger ist als der Schein."
Pierre Jarawan erzählt: "Mein erster Roman war von Stephen King 'Sie'. Mit 13. Hat mir mein Bruder heimlich gegeben. Obwohl ich viel zu jung war, war ich davon sehr begeistert, weil es unglaublich spannend war und mir zum ersten Mal aufgezeigt hat, was Bücher für Welten auftun können. Dann mit 16 'Herr der Fliegen' von William Golding, das ist bis heute das Buch geblieben, das mich nicht schriftstellerisch geprägt hat, aber das ich nie vergessen hab, das mich immer begleitet hat. Denn wenn man es als Jugendlicher liest, ist es ein Jugendroman, wenn man es als Erwachsener liest, ist es ein philosophischer Roman."
Und Martin Hielscher würde bei "Pu der Bär" anfangen: "Das ist sicherlich für meine Kindheit das wichtigste Buch. Das hat mir meine Mutter vorgelesen. Dann 'Nils Holgersson'. Das geht dann weiter mit 'Tecumseh', diese Abenteuerwelt, diese andere Welt, sicherlich männliche Codes; Mut, was man mit Indianern verbindet. Als Jugendlicher Karin Struck, 'Klassenliebe', also, was ein Kritiker mal 'die Literatur der Selbstentblößer' nannte."
Sucht oder Pflicht?
Doch kann die Lesesucht auch schnell in Lesepflicht umschlagen – zumindest für Berufsleser. Dagegen hilft bei Martin Hielscher nur eine regelmäßige Dosis Spannung als Belohnungsritual, wie er sagt:
"Ich habe zum Beispiel eine große Lust an Krimis, mehr als an Thrillern. Ich habe alle Maigret-Romane gelesen, alle 70. Ich hab den ganzen Mankell gelesen und lese auch Arne Dahl. So 'nen Arne Dahl, den les ich dann innerhalb von zwei Tagen immer so zwischendrin. Das ist ein bisschen so ein Belohnungsprinzip: Wenn Du 100 Seiten eines vielleicht etwas anstrengenden neuen deutschen Manuskriptes gelesen hast, dann darfst Du zur Belohnung 50 Seiten Arne Dahl lesen."
Intimität zwischen Leser und Buch
Manchmal geht es auch darum, die Leselust ein wenig aufzuschieben, das Lesen also zu verzögern, erzählt Felicitas von Lovenberg: "Zum Beispiel Herta Müllers 'Atemschaukel' ist für mich ein Buch, wo ich von der ersten Seite an das Gefühl hatte, dass ich jetzt von der ersten Seite ganz langsam lese, damit dieses Buch möglichst lange währt. Weil ich weiß, wenn ich es einmal ausgelesen habe, dann kann ich es zwar wieder lesen, aber es ist nicht dasselbe wie beim ersten Mal."
Und Pia-Elisabeth Leuschner ergänzt: "Ich hab mich selber trainiert, schnell zu lesen. Aber das gilt nur für Informationstexte, Wissenschaftsprosa. Für Lyrik oder auch für Romanprosa würde das überhaupt nicht funktionieren. Bei Dan Brown vielleicht möglicherweise, da möchte man ja sehr schnell dem Ende nahe kommen. Bei Lyrik ist es so, dass ich oft das Gefühl habe, viel zu schnell zu lesen. Ich muss mich eher bremsen."
Martin Hielscher meint: "Das kenn ich auch, wenn man wirklich tief in nem Buch drinsteckt und es ist natürlich eher bei Spannungslektüre der Fall. Man spürt, das geht jetzt zu Ende, dass man das ein bisschen verzögert oder dass man das besonders intensiv erlebt. Das kenne ich auch. Vielleicht nicht auf den nächsten Tag, aber nochmal 'ne Stunde weglegen, oder so und dann aber."
Was wäre der Mensch ohne Bücher?
Lesesüchtige sehen die Macht ihrer Droge darin, dass Bücher die Kraft haben, den Leser nicht nur für die Dauer der Lektüre zu verwandeln, sondern grundlegend darüber hinaus. Felicitas von Lovenberg ist sich sicher, Bücher können so wörtlich "lebensverändernd" wirken. Sie können aber auch in schwierigen Zeiten Halt und Rettung sein. Als 13-Jährige war die Buchhändlerin Nicoletta Miller ein Jahr lang durch eine Krankheit ans Bett gefesselt und vergaß nicht nur die Zeit, sondern auch den Schmerz, indem sie ununterbrochen las.
Menschen wären ohne die Bücher, in die sie sich vertieft haben, ohne die Figuren, mit denen sie gefiebert, geliebt und gelitten haben, andere, vor allem ärmere. Was bedeuten dann all die noch ungelesenen Bücher?
Auf diese Frage antwortet Nicoletta Miller: "Als ganz junges Mädchen war für mich ein ganz verzweifeltes Thema, zu überlegen, wie krieg ich das hin zu entscheiden, wofür ich meine Lebenszeit hernehme. Mir war bewusst, dass die endlich ist, und was lese ich? Du hast im Leben einfach nicht genug Zeit, du kannst nicht alle Klassiker lesen, das ist vollkommen unmöglich. Du kannst nicht alle Russen, Amerikaner, Deutsche lesen. Du musst immer entscheiden, wenn du ein Buch in die Hand nimmst, ist es das wert, diese Zeit zu investieren?"
Und Pia-Elisabeth Leuschner meint dazu: "Ich habe mal bei Frau Malkowski, der Frau des Dichters Rainer Malkowski, darüber geklagt, und dann sagte sie sonnig, schauen Sie Frau Leuschner, schauen Sie, wie schön das ist, dass es immer mehr gute Bücher gibt. Denn stellen Sie sich vor, wie schlimm das wäre, wenn Sie irgendwann alle guten Bücher gelesen hätten und es gäbe keine mehr zu entdecken. Seitdem bin ich glücklich über die Überfülle von guten Büchern und denke auch, dass es nicht möglich ist, alle Bücher zu lesen, die man lesen möchte, sondern es gibt eine Fügung, oder einen Weg, für den man sich entscheidet, hineinzuwachsen, wenn man bestimmte Bücher liest und andere nicht."
(DW)