Vier Gründe für Entfremdung

Warum Bürger und Politiker nicht zusammenfinden

Ein Hinweiszettel für ein Wahllokal an einem verschlossenen Tor
Ein Hinweiszettel für ein Wahllokal an einem verschlossenen Tor © picture alliance / dpa / Jan Woitas
Von Christian Schüle |
Volk und Politik passen nicht mehr zusammen. Die Wahlbeteiligung sinkt, der Widerstand wächst. Die Deutschen sind zunehmend demokratiemüde. Der Essayist Christian Schüle hat vier Gründe ausfindig gemacht für die Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden.
1. Das Loyalitäts-Defizit
Die Deutschen haben sich Patriotismus und Loyalität gegenüber Staat, Nation und der res publica über die Jahrzehnte hinweg gründlich aberzogen. Es gehört heute zum guten Ton des kritischen Zeitgenossen, das eigene Land auf jeden Fall schlecht zu finden. Die dauerhafte Diskreditierung patriotischer Gesinnungen als quasi-nationalistisch – stets mit dem faschistischen Zaunpfahl winkend – hat das zentrale Anliegen der gesamten bürgerlich-humanistischen Tradition geschliffen: dass nämlich jede freie Regierungsform einer starken Identifikation von Seiten ihrer Bürger bedarf.
Patriotismus hat weder etwas mit Nationalismus noch mit Sozialismus und mit Nationalsozialismus schon gleich gar nichts zu tun. Die Idee einer liberalen Demokratie ist auf Partizipationswilligkeit und zivile Loyalität angewiesen. Demokratie lebt davon, dass sich der Bürger für den Mitbürger und sich alle für ihr Gemeinwesen einsetzen. Gleichgültigkeit, Rückzug und Verweigerung des Einzelnen schaden allen.
2. Das Vertrauens-Defizit
Vertrauen ist die einzig konvertible Währung, die dem demokratischen Staatsbürger zur Verfügung steht – eine Art Kredit, den der Wähler den politischen Akteuren in den Wahlkabinen mit der Hoffnung verleiht, dass seine Investition politisch reife Früchte tragen wird.
Die vergangenen Jahre waren freilich geprägt von einer beispiellosen Fallobst-Serie: Verfehlungen, Fehler, Versagen; Täuschung, Lüge, Betrug; Eklats, Skandale, Affären. Kurzum: Das Gurkentruppen-Phänomen. Das Vertrauen des Bürgers in seine Repräsentanten ist seit langem erschüttert; und so gut wie nie kennt der Wähler seinen Kandidaten und dessen Überzeugungen. Mit Misstrauen und Unwissen aber steht das Repräsentations-Prinzip als Grundpfeiler des Demokratischen in Frage.
Die Erwartungen des Regierten an die ihn Regierenden sind trotz alldem so hoch, dass sie nur in Enttäuschung und Frustration enden können.
3. Das Zeit-Defizit
Die fast totale Ökonomisierung des Lebens hat eine Diktatur des Kosten-Nutzen-Kalküls mit sich gebracht. Der Paradigmenwechsel zur digitalen Ökonomie beschleunigt alle Prozesse hochgradig, das Leben und das Sein vollziehen sich unmittelbar und in Echtzeit. Auch der politische Entscheidungsprozess findet unter immer größerer Zeitnot und höherem Tempo statt. Zugleich wächst das Volumen des Wissens ständig und steigt permanent die Komplexität der Sachverhalte – und mit ihnen die Unsicherheit auf allen Seiten, dieselben in immer kürzeren Zeit-Einheiten überhaupt noch bewältigen zu können.
Je weniger Zeit der Zeitgenosse aber zur Eroberung seiner Lebenswelt mittels Wissen und Kenntnis hat, desto weniger engagiert er sich heute, weil morgen alles bereits wieder überholt ist.
4. Das Vernunft-Defizit
Die Grundbefindlichkeit des Bürgers ist ständige Angst – Angst vor Rezession, vor beruflichem Niedergang, finanziellen Einbußen, Angst vor Inflation, Risiko, Kontrollverlust, vor Absturz, Ausschluss, Ende.
Der Politiker rutscht deshalb zunehmend in die fachfremde Rolle des Psychotherapeuten, und schließlich geht es den Parteien nur noch um den Wettbewerb der emotionalen Bewältigung von Sorgen, nicht mehr um den Wettbewerb der besten Lösungen durch argumentierte Alternativen.
Demokratie- und Politikmüdigkeit wird in dem Moment zum Problem, da geschürte Emotionalisierung und Empörung um ihrer selbst willen die Pflege der genuinen demokratischen Prinzipien Diskussion, Öffentlichkeit und Repräsentation verkommen lassen. Dann wird die Straße zum Forum wilder Affekte, und die Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden könnte irgendwann zu Rebellion, Revolte oder Revolution führen.
Weil das ein vernünftiger Demokrat keineswegs wollen kann, wird die pädagogische wie intellektuelle Aufgabe der nächsten Gesellschaft darin bestehen, von Kind auf am Ideal des aktiven Staatsbürgers zu arbeiten. Jeder Einzelne ist Gesellschaft. Jeder Einzelne ist Demokratie.
Widerstand ist gut, Engagement ist besser. Es beginnt schon bereits beim Gang ins Bürgerbüro des jeweiligen Wahlkreisabgeordneten.

Christian Schüle, 44, hat in München und Wien Philosophie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta), den Essay "Wie wir sterben lernen" (Pattloch Verlag). Gerade erschienen: "Was ist Gerechtigkeit heute?" (Droemer-Knaur)


Christian Schüle
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