Viet Thanh Nguyen: "Die Idealisten"
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Blessing Penguinrandomhouse, München 2021
496 Seiten, 24 Euro
Unter Cowboykapitalisten und kosmopolitischen Franzosen
03:23 Minuten
Ein Krimi wie ein brutal-blutiger asiatischer Actionfilm: Viet Thanh Nguyens schickt in "Die Idealisten" einen überforderten vietnamesischen Spion nach Paris. Dabei gelingt es dem Autor, präzise die Seelenabgründe seines Helden zu zeichnen.
Das Jahr ist 1981 und die Stadt ist Paris. Aber nicht das mondäne Paris mit Champs-Élysées und Macarons von Ladurée. Das andere Ende. Nicht mal der Unterbauch von Paris, sondern "die Arschritze".
So sagt es jedenfalls Vo Danh, der hier in Begleitung seines Blutsbruders Bon und mit nichts als einer alten Ledertasche ankommt.
Wer "Der Sympathisant" gelesen hat, mit dem Viet Thanh Nguyen 2016 den Pulitzer-Preis gewann, wird sich an die beiden gut erinnern: An Vo Danh, den kommunistischen Spion, der am Ende des Vietnamkriegs in einem Umerziehungslager seine Lebensbeichte verfasst.
Gestrandet im Drogenhandel
"Die Idealisten" ist die Fortsetzung, die die Kenntnis des Vorgängers übrigens nicht zwingend voraussetzt. Wer ihn gelesen hat, wird aber womöglich besser verstehen, wie vertrackt Vo Danhs Lage wirklich ist. Denn sein eigener Blutsbruder Bon ist selbst ein Kommunistenhasser und würde ihm, wenn er von seinem kleinen Geheimnis erführe, wahrscheinlich ohne zu Zögern eine Kugel zwischen die Augen jagen.
In Frankreich sind die beiden aber zunächst einmal gezwungen sich durchzuschlagen und dienen sich dem wohl kapitalistischsten aller Wirtschaftszweige an: dem Drogenhandel. Hochstilisierte Gewaltchoreografien, effektvolle Zeitlupen, durch einen Ehrenkodex miteinander verbrüderte Gangster: "Die Idealisten" erscheint auf den ersten Blick als das literarische Äquivalent zu den Actionfilmen von John Woo - heroic bloodshed in Paris.
Blicke in die Seele des Protagonisten
Aber wenn Vo Danh im Folterkeller landet, ergötzt sich Nguyen nicht nur an seinem Blut und Schweiß. Stattdessen nutzt er diese Momente für Blicke tief in die Seele seines Protagonisten, der sich im Angesicht schlimmster Gefahren an seine Mutter erinnert oder sich über die Unwägbarkeiten der französischen Sprache echauffiert.
Seine Sätze erstrecken sich über fünf Seiten, in den Dialogen fehlen die Anführungszeichen. Das Ergebnis ist ein stream of consciousness, der Erinnerungen an Hongkonger Actionstreifen und den Geschmack vietnamesischen Kaffees ebenso mühelos aufruft wie die Theorien von Sartre, Frantz Fanon oder der écriture féminine.
Ein Mann mit vielen Gesichtern
Vo Danh ist ein Mann mit zwei, drei, vier Gesichtern, das ist sein größtes Problem. Er ist einer, der allen Seiten Sympathien entgegenbringen kann: Den amerikanischen Cowboykapitalisten ebenso wie dem Unrechtsbewusstsein der Kommunisten, den kosmopolitischen Franzosen und den im Drogenbusiness direkt mit ihm konkurrierenden Algeriern.
Viet Thanh Nguyens Spion mag also eine exzentrische Figur sein, die radikale Entscheidungen trifft, aber in ihm spiegelt sich ein allzu vertrautes Gefühl, nämlich ein permanentes Überfordertsein mit der Welt, ihren zahllosen Baustellen und Optionen. Ein Problem, das Vo Danh entwaffnend präzise in zwei Worte fasst: Was tun?