Viktor Martinowitsch: "Revolution"
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Verlag Voland und Quist, Berlin 2020
400 Seiten, 24 Euro
"Die Hoffnungen wurden abgelöst von der Angst"
15:16 Minuten
Demonstranten in Belarus haben sich immer wieder mit dem Buch "Revolution" fotografieren lassen, ein Roman über Macht und darüber, was Macht bewirkt. Autor Victor Martinowitsch sagt, es sei eine Urangst, unschuldig im Gefängnis zu landen. Sie sei zurückgekehrt.
Bei den Protesten in Belarus ist ein Buch des belarussischen Schriftstellers Viktor Martinowitsch zu einem Symbol geworden, sicher auch wegen des Titels "Revolution". Protestierende haben sich mit dem Buch, das in dieser Woche auf Deutsch erschienen ist, in der Hand fotografieren lassen.
Viktor Martinowitsch ist einer der bekanntesten Autoren in Belarus, hatte immer wieder Schwierigkeiten mit der Staatsmacht: Sein erster Roman "Paranoia" wurde kurz nach dem Erscheinen 2009 in seiner Heimat verboten; vor zwei Wochen wurde sein Verleger Hennadz Viniarski in Minsk verhaftet – er ist inzwischen wieder frei – und alle Exemplare seines jüngsten Romans "Revolution" wurden beschlagnahmt.
Das Thema Macht sorgt für Nervosität
Während das Buch beim Online-Versand nicht mehr zu bekommen sei, gebe es den Roman in Buchhandlungen noch, berichtet der 43-jährige Martinowitsch. Die Logik hinter diesem Verbot erschließe sich ihm nicht: "Wenn man ein Buch verbieten möchte, dann verbietet man das komplett. Aber hier ist es eben nur so ein teilweises Verbot. Diese Situation ist mir unverständlich, und das macht mir Angst. Womöglich werde das Buch gerade untersucht, ob er als Autor gegen irgendwelche Auflagen verstoßen habe. "Das könnte, wenn sich das bestätigt, zur Folge haben, dass das Buch auch aus den anderen Buchhandlungen verschwindet."
Zur Situation seines Verleger könne er nichts Genaues sagen, da Viniarski habe unterschreiben müssen, dass er über die Gründe für seine Verhaftung keine Auskunft gebe. Weil er davon ausgehe, dass Viniarskis Computer überwacht werde, nehme er auch keinen Kontakt mit ihm auf.
Für ihn bedeute das Verbot des Buches eine Rückkehr zu den Paranoia-Zeiten, als sein erster Roman erschienen sei, sagt Martinowitsch. "Ich frage mich wieder: Bin ich tatsächlich so wirkmächtig mit meinem Wort? Haben meine Romane so eine große Wucht, dass der Staat eingreifen muss und dort irgendwas regulieren muss?" Der neue Romans spiele nicht in Minsk und habe nichts mit den aktuellen Protesten zu tun: "Ich kann es mir nur so erklären, dass Macht gerade ein Thema ist, das sakrosankt ist. Darüber darf nicht geschrieben werden, das sorgt offenbar sofort für Nervosität."
"Es geht um persönliche Freiheit"
In seinem Buch gehe es vor allem um die persönliche Freiheit, die es zu verteidigen gelte, und um das Spannungsverhältnis zwischen Unterwerfung und persönlicher Freiheit. "Die Hauptfigur meines Romans gerät in die Fänge der Macht und ordnet sich unter, opfert seine Freiheit, gibt sie preis, nimmt am Ende sogar Befehle entgegen zu töten – lernt aber auch, wie süß diese Aufgabe der Freiheit sein kann, dass man auch viel Entlastung erfährt, wenn man nicht selber entscheiden muss."
Insofern mag das Buch bei den Protesten auch symbolisch gezeigt werden, wie der Autor vermutet: "Ich denke, die Leute, die sich mit diesem Buch fotografieren lassen, wollen damit ausdrücken: 'Wir sind frei, wir haben uns für unsere persönliche Freiheit entschieden'."
Martinowitsch sagt, er habe zwölf Jahre lang an dem Roman geschrieben. Er sei jüngst nochmal auf seine Erzählung "Awtosak" gestoßen – benannt nach den Gefangenentransportern, mit denen die Demonstranten abgeführt werden –, die er 2007 geschrieben habe und die auch im Deutschlandfunk gesendet wurde. "Was das Verhältnis von Macht und persönlicher Freiheit angeht, ist die Situation heute noch so, wie sie 2007 schon war. Das hat vielleicht auch den Ausschlag gegeben, dass ich mich so lange mit diesem Stoff herumgetragen habe, weil ich finde, es ist wichtig, das Verhältnis Macht und Freiheit genau anzuschauen – wichtig für den gesamten postsowjetischen Raum. Deswegen wollte ich diese Geschichte wirklich auserzählen und habe mir die Zeit dafür genommen."
Moskau statt Minsk
Es sei ihm wichtig gewesen, diese Machtverhältnisse in ihrem ganzen Ausmaß zu zeigen. "Und dieses ganze Ausmaß konnte ich in Belarus oder in Minsk nicht darstellen. Es geht um Geld und Korruption und Reichtümer unvorstellbaren Ausmaßes. Und das wäre in belarussischen Verhältnissen nicht denkbar." Belarus sei eben doch ein kleineres Land. "Das Russland Mitte der Nullerjahre dagegen ist für mich der ideale Handlungsort für diesen Roman. Dort regierte tatsächlich das Geld. Es ging immer um Macht und Geld und Luxus. Und es gibt auch bestimmte Aspekte, die direkt auf russische Realien verweisen, zum Beispiel auf den Prozess gegen Michaeil Chodorkowski."
In Martinowitschs Buch hat allerdings nicht direkt die Staatsmacht allein die Macht, sondern eine Art Mafia, die über viel Geld verfügt. Sehr viel Einfluss hat in dem Buch auch die Polizei, die in ihrem Sinne lenken kann, die auch eng verflochten ist mit der staatlichen Macht ist, aber doch auch eine eigene Organisation ist.
"Im gesamten postsowjetischen Raum ist es oft schwer nachzuvollziehen, wo die offizielle staatliche Macht aufhört und wo die mafiösen Strukturen beginnen", sagt Martinowitsch. "Ich finde den Mafia-Begriff grundsätzlich passend, auch für meinen Roman, wenngleich ich Mafia eher mit Italien assoziiere."
Ihm sei wichtig gewesen, über die Machtverhältnisse zwischen Menschen zu schreiben. "Das Zwischenmenschliche, glaube ich, ist ganz entscheidend. Dort liegt die einzige wahre Macht, die auch weitergeht als Staatsmacht oder die Macht von Parteien. Diese Macht zwischen einzelnen Menschen, in bestimmten Formationen, kann das Leben tatsächlich bestimmen und prägen. In meinem Roman geschieht das etwa durch SMS-Nachrichten, von 'Freunden' aus der Organisation geschieht. Das ist die wahre Macht, die viel prägender ist als die Mitgliedschaft in einer Partei."
Intellektueller als Hauptfigur
Die Hauptfigur in "Revolution" ist ein Intellektueller, Dozent für Architektur-Semiotik an einer Universität, der in diese mafiöse Organisation hineingezogen wird: Es stellt sich die Frage, ob er die Substanz in sich hat, dieser Macht etwas entgegenzusetzen – oder wird er verwandelt von dieser Macht? Die Hauptfigur steht dabei den Machtverhältnissen erst einmal kritisch gegenüber.
"Ich habe mich für diese Hauptfigur entschieden, weil ich denke, der Verrat solcher Menschen aus der intellektuellen Klasse ist viel spannender und viel aufschlussreicher für uns." Wenn sich ein Vertreter der Sicherheitspolizei oder des Militärs so verhalte wie die Hauptfigur, dann sei das nicht weiter überraschend. Diese Menschen würden dazu trainiert, Befehle auszuführen, nicht selbst kritisch zu denken, sondern zu tun, was ihnen gesagt wird.
Das sei das Wesen ihres Berufs. "Intellektuelle hingegen sind dazu da, kritisch zu denken, sich eine eigene Meinung zu bilden, Entscheidungen zu treffen und diese begründen zu können, darüber zu sprechen, sie anderen zu erklären. Deswegen ist der Verrat solcher Intellektueller viel teurer erkauft als in den anderen, erstgenannten Beispielen. Diese Fälle sind zu beobachten, sowohl in Belarus auch als in Russland."
Er sei gespannt, was sich in Russland in näherer Zukunft abspielen werde, sagt Martinowitsch. " Intellektuelle stehen für charakterliche Festigkeit und für die Reinheit ihres Denkens: Autoren und Künstler, die sich mit solchen Themen beschäftigen, könnte man als das Salz des Volkes bezeichnen. An ihnen lässt sich ablesen, inwieweit sie diesen Verführungen gewachsen sind. Und in meinem Roman erleben wir einen Intellektuellen, der dieser Versuchung nicht gewachsen ist und sich verwandelt in einen Unmenschen und der zu einer Marionette dieses mächtigen Systems wird."
Anspielungen auf "Der Meister und Margarita"
Im Roman gibt es auch eine Reihe von Anspielungen auf einen Roman aus der Sowjetunion, nämlich auf Michail Bulgakows "Der Meister und Margarita".
Martinowitsch sagt, Bulgakow sei der Schriftsteller, der als Letzter etwas wirklich Wichtiges über Moskau zu sagen wusste. Für ihn sei "Der Meister und Margarita" nicht in erster Linie ein Liebesroman, wie er oft gelesen wird, sondern ein Roman über die Angst, sagt Martinowitsch. "Die Angst steht im Zentrum dieses Romans, durchzieht den gesamten Text. Und diese Angst ist auch bei mir ein wichtiges Motiv in diesem Roman." Sie sei ein wichtiger Impuls für die Hauptfigur, vor allem am Anfang von "Revolution" sei die Hauptfigur von Angst gesteuert.
"Der Protagonist hat eine große Summe Geld aufzubringen, wenn er es nicht hinbekommen sollte, droht ihm eine Gefängnisstrafe." Diese Angst treibe seinen Protagonisten immer weiter in die Fänge dieser Organisation, dieses seltsamen Freundeskreises", sagt der Autor. "Dieses Gefühl ist im gesamten postsowjetischen Raum sehr verbreitet. Man kennt diese Angst vor dem Gefängnis, und da sah ich schon eine wichtige Verbindung zu 'Der Meister und Margarita' – und die wollte ich herausstellen."
Die Angst vorm Gefängnis
Martinowitsch glaubt beim Blick auf die Protestierenden, dass die Angst jetzt allmählich zurückkehre nach Belarus. "Lukaschenko hat nichts anderes als seinen Repressionsapparat, um zu agieren oder um sich seiner Bevölkerung zu zeigen. Das läuft alles über diesen Apparat. Ich denke, die Wurzeln für die Angst in der Bevölkerung oder auch bei den Protestierenden sind immer noch die gleichen, wie sie es zu den Bulgakows Zeit waren."
Er habe sich länger damit beschäftigt, herauszufinden, in welchem Jahr "Der Meister und Margarita" spielen könnte. Wenn man sich das genauer anschau, dann landet man im Jahr 1937. "Schon damals war es so, dass die zentrale Angst die Angst war, im Gefängnis zu landen, obwohl man sich nichts zuschulden hat kommen lassen. Die Quelle dieser Angst vor dem Gefängnis ist nach wie vor da, da hat sich nichts geändert bis heute. Und symbolisch für diese Repression steht einerseits Lukaschenko und andererseits diese Gefangenentransporter, der Awtosak, aus meiner Erzählung."
"Es ist jetzt schon zu beobachten, dass es keine Massenkundgebungen mehr auf den Straßen gibt. Und die Hoffnungen, die mit einer Revolution verbunden waren, wurden eigentlich abgelöst von der Angst oder von der Erwartung, man könnte im Gefängnis enden. Das ist natürlich sehr schlecht", sagt Martinowitsch.