Eine Grußadresse − keine Verschwörung
Mit Spannung wurde der Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán bei Altkanzler Kohl erwartet. Es sei ein höchst persönliches Treffen
gewesen, kommentiert Stephan Detjen. Für einen politischen Schulterschluss wäre Orbán ohnehin längst der Falsche gewesen.
Es hätte ein einfacher Freundschaftsbesuch bei einem kranken, alten Mann sein können. Doch der Besuch des ungarischen Ministerpräsidenten wurde in einer Weise annonciert, die den Raum für Spekulationen öffnete. Die erste Ankündigung kam von "BILD"-Chef Kai Diekmann, der zugleich Freund, Trauzeuge und Architekt einer publizistischen Monumentalisierung Kohls ist. Schon der knappe Hinweis auf das geplante Treffen belebte journalistische Fantasien, in denen Oggersheim zum Tatort einer Anti-Merkel Konspiration wurde.
Wenige Tage vor dem Treffen ließ die Veröffentlichung eines längeren Textes unter Kohls Namen die Interpretationsmaschine heiß laufen. Das Vorwort zur ungarischen Ausgabe eines vor eineinhalb Jahren erschienenen Europa-Manifests Kohls enthielt eine Warnung vor europapolitischen Alleingängen, deren Formulierung dem Wortschatz der Merkel-Kritiker gleicht. Für viele Beobachter war das der Beweis für die Richtigkeit der Verschwörungstheorie. Zu Recht wiesen andere Exegeten darauf hin, dass sich der Apell zu gemeinschaftlichem Handeln genauso als Kritik an Orbán und dem Vorstoß der Visegrad-Staaten bei der einseitigen Grenzschließung auf dem Balkan lesen lasse.
Kohls Kritik an Merkel ist nicht neu
Den Beleg dafür, dass er auch öffentlich gerne auf Distanz zur Außen- und Europapolitik Merkels geht, hatte Kohl selbst schon früher geliefert. In einem schriftlich geführten Interview mit einer außenpolitischen Fachzeitschrift wurde der Altkanzler 2011 mit dem Vorwurf zitiert, Deutschland sei "keine berechenbare Größe mehr", es fehle der Kompass und der Sinn für die transatlantische Kontinuität deutscher Außenpolitik. Das war damals erkennbar auf die deutsche Enthaltung bei der Abstimmung über den Nato-Einsatz in Libyen im Weltsicherheitsrat gemünzt. Merkel hat das vor wenigen Tagen bei der Trauerfeier für den damaligen Außenminister Westerwelle selbstbewusst als gemeinsame Entscheidung gewürdigt. Die Geschichte hat beiden recht gegeben. Selbst US-Präsident Obama hat seine damalige Libyen-Politik kürzlich als größten Fehler seiner Amtszeit bezeichnet.
Helmut Kohl und seine Berater dürften spätestens nach den vorauseilenden Reaktionen auf das heutige Treffen erkannt haben, dass der Altkanzler sich und seinem Lebensthema Europa keinen Gefallen tut, wenn er zulässt, dass seine Botschaft auf eine vordergründige Kritik an der Flüchtlingspolitik Merkels reduziert wird. Unter erneuter Mitwirkung der "BILD"-Zeitung wurde am Nachmittag eine gemeinsame Grußadresse Kohls und Orbáns an die Bundeskanzlerin verbreitet.
Spätestens damit war das Treffen wieder auf jene höchstpersönliche Dimension zurückgeführt, die es wohl von Beginn an haben sollte. Für einen politischen Schulterschluss mit Kohl wäre Orbán längst der Falsche gewesen. Seitdem sich der ungarische Ministerpräsident zum Hauptprotagonisten einer Renationalisierung Europas gewandelt hat, sind politische Gemeinsamkeiten mit dem europäischen Föderalisten Kohl kaum noch erkennbar. Der Altkanzler dürfte wissen, dass sein historisches Erbe dieser Tage in Berlin besser verwaltet wird als in Budapest.