Geflüchtete in Litauen
Erst dachte sie, sie würde nur wenige Monate in Vilnius bleiben. Nun rechnet sie damit, für immer zu bleiben: die belarussische Schriftstellerin Anna Zlatkovskaya. © privat
Vilnius spricht Russisch
23:37 Minuten
Mindestens 50.000 Geflüchtete aus Belarus und Russland fanden bisher in der litauischen Hauptstadt Vilnius Zuflucht. Wie richtet man sich ein, wenn man normal leben will und gleichzeitig auf eine Rückkehr in seine Heimat hofft?
„Morgen sind es übrigens genau zwei Jahre, seit ich geflohen bin", sagt die Schriftstellerin und Journalistin Anna Zlatkovskaya. Sie kommt aus Minsk, sollte dort verhaftet werden. Wir sitzen Mitte November in einem Café unweit ihrer Wohnung in Vilnius.
Sie trinkt Orangensaft, fährt sich nervös durch ihre braunen Locken, als sie sich an die letzten Tage in Minsk erinnert. „Keine Sorge, niemand wird sie festnehmen, hat der Polizist, der mich abends zu Hause angerufen hat, gesagt. Ich solle einfach zum Gespräch vorbeikommen. Dann habe ich sofort gedacht – die nehmen mich fest."
Sie sei bei allen Protestmärschen gewesen, auch am 12. August in der Frauenprotestkette. "Dann hat mich eine Bekannte angerufen, die erfahren hat, dass ein Verfahren gegen mich läuft und ich sofort ausreisen muss. Da ist es mir wirklich eiskalt den Rücken runtergelaufen. Ich habe wirklich Angst bekommen und verstanden: Es wird ernst.“
Dann ging alles sehr schnell, und so fand sie sich einen Tag später im schon recht kalten Vilnius wieder – mit einem dünnen Mantel und den besten Kleidern, aber ohne Winterkleidung. Sie sei doch eine bekannte Schriftstellerin, da müsse sie gut aussehen, hatte sie gedacht. Außerdem, das könne ja alles nicht mehr lange dauern, bald wäre sie sicher wieder zu Hause.
„Wie ein Feigling und Verräter“
Heute lacht sie über ihre Naivität, aber damals fühlte sie sich schrecklich. „Ich habe mich wie ein Feigling und Verräter zugleich gefühlt. Ich bin abgehauen, weggerannt, während alle anderen geblieben sind, um zu kämpfen. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass das so ein Opferdenken ist und man die Wahl hat: Entweder man ist das Opfer und heult herum, oder man ist es nicht und heult nicht. Ich habe dann verstanden, dass ich für mich eben die Wahl getroffen habe, nicht im Gefängnis zu sitzen.“
Ihr Mann und ihr Kind kamen einige Monate später nach. Der kleinen Familie fällt die Integration nicht leicht. Sie kommt gerade so über die Runden. Anna gibt Kurse im kreativen Schreiben. Neulich hatte sie online sogar einen ukrainischen Teilnehmer aus der Territorialverteidigung.
„Wir sind nicht bereit, Blut zu vergießen“
„Ich habe dann darüber nachgedacht, dass ich im gewissen Sinne die Ukrainer beneide", sagt Anna Zlatkovskaya. "Trotz dieses Schreckens und Grauens, die der Krieg mit sich bringt, stehen die für einander ein. In Belarus kämpfen wir gegeneinander, innerhalb des Landes. Wir sind so nett, und leise und ziehen die Schuhe aus, bevor wir uns bei einer Demo mit Blumen auf eine Parkbank stellen, aber wir sind nicht wirklich bereit, Blut zu vergießen." Die Ukrainer hätten diese Wahl erst gar nicht. "Ihr Feind sind eben nicht sie selbst.“
Die 24-jährige Lisa ist bekannt als Sängerin Monetochka. Sie sprach sich sofort am 24. Februar in ihren sozialen Netzwerken gegen den Krieg aus und beschloss am selben Tag, mit ihrem Mann, ebenfalls Musiker, Russland zu verlassen. Da war sie schon im sechsten Monat schwanger.
Nach einem Zwischenstopp in Istanbul ist sie nun auch schon seit März in Vilnius. Sie habe sehr lange gebraucht, um hier wirklich anzukommen, erzählt sie. "Weil wir uns die ganze Zeit nicht damit abfinden konnten, dass wir nun wirklich hier leben." Erst hätten sie nur Wohnungen zur Zwischenmiete für einen Monat gemietet, dann für drei, für sechs Monate. Aber da gebe es nicht viele Angebote.
"Wir haben wirklich Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass wir mindestens ein Jahr hier sein werden. Dann haben wir auch schnell etwas gefunden und entschieden, dass wir für immer hier sein werden." Naja, für immer... Lisa lacht. "Also, ich weiß nicht, ob für immer, aber erstmal sind wir hier wie zu Hause." Schließlich sei ihre Tochter hier in Vilnius geboren. "Das ist jetzt ihre Heimat."
Lisa wollte nicht auswandern, sondern an vielen verschiedenen Orten in Russland leben, zum Beispiel an der Wolga oder in Sotschi im Süden. Da hat sie sogar schon ein kleines Haus gekauft. Jetzt gibt es vorerst keinen Weg zurück.
„Die Polizei hat sich nach mir erkundigt“
„Letzte Woche haben Polizisten alle Wohnungen, in denen ich je gewohnt habe oder wo ich gemeldet war, aufgesucht und haben sich nach mir erkundigt", sagt Lisa. "Meine Verwandten wurden angerufen und ausgefragt. Man hat mir ausgerichtet, ich werde zum Verhör erwartet.“
In der Diaspora in Vilnius wird sie ab und zu erkannt. Aber die meisten Fans habe sie immer noch „in ihrem echten Zuhause“, wie sie sagt, also in Russland. Doch die Zahl der Feinde habe zugenommen.
Bei Instagram habe sie hauptsächlich nette Kommentare, weil das Fans seien, die eine VPN-Verbindung bräuchten, um aus Russland überhaupt Zugriff zu haben. "Das ist schon so eine Art Filter. Neulich war ich aber in meiner Fangruppe bei vkontakte – unserem russischen Facebook – und da war ich ganz schön erstaunt, wie viele Hasskommentare geschrieben werden. So was wie: Wir haben es ja schon immer gewusst, diese Verräterin.“
„Ich schäme mich“
Die Sängerin hat zusammen mit dem Musiker Noize Mc, der jetzt auch in Vilnius lebt, eine Charity Tour „Voices of Peace“ in zehn Hauptstädten der EU gegeben – der gesamte Erlös ging an die Ukraine. Lisa erzählt, ihr habe das psychologisch sehr geholfen. Endlich habe sie das Gefühl gehabt, sie mache etwas Sinnvolles, etwas, was hilft.
Als sie das erzählt, laufen wir über einen der Hauptplätze der litauischen Hauptstadt – hier finden oft Protestaktionen statt. Ich frage sie, ob sie in Russland schon einmal auf einer Protestdemo gewesen ist. Nein, nie, sagt sie. "Ich war nicht verantwortungsbewusst genug, nicht mutig, wahrscheinlich bin ich deswegen nie gegangen. Mir ist diese Frage unangenehm, am liebsten würde ich gar nicht antworten, weil ich mich schäme." Hätte sie gewusst, wo das alles endet, wäre sie auf die Straße gegangen. "Ich hätte jetzt nicht das Gefühl, dass ich nicht alles getan habe, um das zu verhindern“.
„Es ist klar, dass sie auch dich einbuchten“
„Ich bin sehr dankbar, was die Menschen in Litauen hier für uns machen. Das ist sehr wichtig und effektiv", sagt Maxim Schbankov aus Minsk, 64 Jahre alt. Der Philosoph und Medienexperte ist seit 2021 in Vilnius.
Litauisch lernt er nicht, weil er nicht weiß, wie lange er hierbleibt. Sein Aufenthaltstitel laufe im nächsten Sommer aus. "Wie es weitergeht, weiß ich nicht. Es gibt ja keine Garantie dafür, dass der verlängert wird“.
Ausgereist aus Minsk ist er, weil sein Youtube-Projekt „Schocking Kult“ ins Visier des Geheimdienstes geriet – ein visueller Blogg, wo er scharf, aber auch mit Humor, die belarussische Seele unter die Lupe nimmt. Leute aus seinem Team wurden festgenommen und verhört.
„Die letzten Tage vor der Ausreise war ich doch sehr nervös", erinnert er sich. "Immer, wenn ich aus der Wohnung unten im Hof die Tür ins Haus zuschlagen hörte, dachte ich: Jetzt kommen sie und holen dich. Das ist das, was um dich herum passiert. Das wird dann zur Normalität. In dieser Logik ist dann klar, dass sie auch dich holen und einbuchten“.
In den Videos auf Youtube sitzt er, schwarz gekleidet, auf einem Hocker und analysiert aktuelle Themen aus seiner eigenen Perspektive. In den ersten zwei Staffeln ging es viel um die Proteste in Belarus, darum, eine neue Sprache zu finden, um den Wahnsinn der Regierung und die Gräueltaten der Sicherheitskräfte gegenüber den Demonstranten in Worte fassen zu können.
„Wir sind ein Land auf Koffern“
Er dreht gerade die dritte Staffel „Schocking-Kult“ mit seinem Team. Es geht natürlich auch um den Krieg, aber auch viel um Belarus. Austausch mit anderen belarussischen Kulturschaffende und Intellektuellen im Exil findet er im belarussischen Kulturzentrum „Omni Academia“ – das sind auch die Zuschauer von Maxim Schbankovs Youtube-Projekt.
Seine Zielgruppe sei eine kreative Minderheit. "In einer besseren Welt wären das Menschen, die man als Stolz der Nation bezeichnen könnte. In unserer Realität sind das Menschen, die von ihrem Land verstoßen worden sind. Wir sind ein Land im Ausland, ein Land auf Koffern“.
Ich will von Maxim wissen, ob er, seit er sich außerhalb seiner Heimat befindet, die Ereignisse zu Hause anders sieht. Es gebe keine andere Seite, sagt er. "Man ist trotzdem innerlich auf die Agenda zu Hause fixiert. Man trägt seine eigene Geschichte in sich, egal, wo man lebt, wohin man fährt." Man könne ihr nicht entfliehen. "Sie ist ein Teil von uns. Belarussisch sein – ist ein innerer Zustand.“
Deswegen vermische er sich auch nicht wirklich mit Vertretern anderer russischsprachiger Gruppen in Vilnius. Weil Belarussen eben unabhängig sind, sagt er nicht ohne einen Anflug von Stolz.
Zur Fahndung ausgeschrieben
Eine zierliche Frau mit langen braunen Haaren und leuchtend blauen Augen steht im Regen auf einem der Hauptplätze der Stadt. „Da haben wir zum Welttag des Friedens im September eine Demo organisiert", zeigt sie. Die sie zufällig am selben Tag gewesen, als man in Russland die Teilmobilisierung ausgerief. Deswegen kamen viel mehr Leute. "Ich habe da nicht gleich begriffen, dass mich die Teilmobilisierung auch betrifft. Ich habe doch männliche Verwandte in Russland, meinen Bruder.“
Elena Kotenochkina ist seit April nicht mehr in Russland und seit Juni in Vilnius. Sie ist politischer Flüchtling mit humanitärem Visum. In Russland ist sie zur Fahndung ausgeschrieben, ihr drohen sieben Jahre Haft, dafür, dass sie den Krieg als Krieg bezeichnet hat.
Sie hat das öffentlich gemacht – bei einer auf Video aufgenommenen und veröffentlichten Plenarsitzung des Moskauer Bezirks Krasnoselskij. Dort war sie insgesamt fünf Jahre lang Vorsitzende, Bezirksabgeordnete. Ihr Kollege, der Abgeordnete Dmitrij Gorinov, sitzt bereits im Gefängnis. Auch er hat sieben Jahre Haft bekommen.
Elena dagegen läuft mit mir durch Vilnius. Sie organisiert so oft sie kann kleine Demonstrationen gegen den Krieg. „Als ich realisiert habe, dass ich hier in einem freien Land bin, in dem man seine Meinung äußern kann, öffentlich gegen den Krieg sein kann, ohne ins Gefängnis zu kommen, habe ich angefangen, Demonstrationen und Protestaktionen zu organisieren.“
Obwohl sie sich Mühe gibt, kommen immer noch viel zu wenige Menschen. Im Schnitt nur 40. Dabei ist die russischsprachige Community in Vilnius groß. Doch Elena gibt nicht auf. Sie berät die Bewohner ihres Moskauer Bezirks, natürlich heimlich, über den Messengerdienst Telegram. Wenn irgendjemand Hilfe braucht, um eine Beschwerde zu formulieren, dann hilft sie, sagt sie.
Das Regime in Russland kippen
Aber jetzt als Abgeordnete tätig, das wäre sie ungern, erklärt Elena. Ob eine Parkbank neu gestrichen werden soll, sei zurzeit nicht wirklich wichtig. „Die Priorität ist, den Krieg zu beenden und das Regime in Russland zu kippen. Ich weiß nur nicht, was man zuerst anpacken sollte. Einerseits: Wenn man die Staatsmacht stürzt, hört der Krieg gleichzeitig auf. Andererseits wissen wir, dass das nicht so einfach ist." Schließlich sei es in neun Monaten immer noch nicht passiert. "Wahrscheinlich würde der Sieg der Ukraine auch gleichzeitig einen Machtwechsel in Russland hervorrufen." Aber es könnte auch eine dritte Möglichkeit geben, "Die Ukraine siegt. Der Krieg wird beendet, und Putin fängt einen Krieg innerhalb seines Landes an.“
Eigentlich läuft dieser Kampf innerhalb des eigenen Landes schon – sonst müssten nicht so viele Oppositionelle oder einfach nur Menschen, die den Krieg Krieg nannten und nicht „Spezialoperation“, fliehen.
„Ich bin Russin und gegen den Krieg“
Sie fühle sich zunehmend heimisch in Vilnius, erzählt die russische Abgeordnete im Exil. Vor allem, weil man in Litauen so gegen Putin wäre. Das gefalle ihr besonders. Trotz allem sei man nett zu Russen. Anfangs habe sie Hemmungen gehabt, Russisch zu reden, aber sie habe gemerkt, das wäre gar kein Problem hier.
Was sie sicher nicht wolle, wäre, ihre Herkunft zu verbergen. „Ich will mich meiner Verantwortung auch gar nicht entziehen. Ich bin Russin, ja, na und? Ich bin gegen Putin, ich bin gegen den Krieg, aber ich kann mich nicht vor meiner Staatsbürgerschaft verstecken. Ich spüre und definiere mich auch immer noch als Russin.“
Mit dem Menschenrechtler Lev Ponomarew, der jetzt im Exil in Frankreich lebt, hat sie ein Telegramkanal ins Leben gerufen, über den sie die noch in Russland gebliebenen Oppositionellen vernetzen und unterstützen.
Ob sie glaube, dass sie wieder nach Russland zurückkehren könne, frage ich sie. Natürlich, sie werde sogar wieder kandidieren. "Ich wollte doch nie auswandern. Mal woanders leben, ja, aber nicht so", sagt sie und beginnt zu weinen. "Wenn man gezwungen wird auszuwandern, dann ist das etwas anderes. Ich will nach Hause. Das hier ist nicht das, was ich wollte.“