Vilnius - europäische Kulturhauptstadt 2009

Vilnius ist gemeinsam mit Linz Europäische Kulturhauptstadt 2009. Das war Anlass für die EBU, aus der litauischen Metropole innerhalb einer Woche sechs Konzerte anzubieten. Wir haben die Saisoneröffnung des Nationalen Sinfonieorchesters unter Leitung seines Chefdirigenten Juozas Domarkas ausgewählt.
Die litauische Hauptstadt ist eine der ältesten Universitätsstädte Europas. Mittelalterliche Denkmäler und prächtige Gebäude barocker italienischer Baumeister zieren die ausgedehnte Altstadt, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Im Gegensatz zu den Hauptstädten der beiden baltischen Nachbarländer, gelang es dem deutschen Orden im Mittelalter nicht, Vilnius einzunehmen. So trafen hier über Jahrhunderte die verschiedenen Kulturen aufeinander, ohne dass eine die Oberhand gewinnen konnte. Vilnius war immer ein liberaler Ort, an dem die Juden ganz Mitteleuropas Schutz fanden. Es galt als Jerusalem des Nordens, bis im Holocaust fast die Hälfte seiner Bewohner umkamen.

Im ersten Konzertteil sind zwei Werke von litauischen Komponisten zu hören. Sie sind der Stadt Vilnius gewidmet, die so viele kulturelle Einflüsse assimiliert hat.

Dem Stück "A Thousand Doors to the World" von Zibuokle Martinaityte, Jahrgang 1973, liegen literarische Zitate zugrunde, die stellvertretend sind für die verschiedenen Sichtweisen auf die spannende Ambivalenz dieser osteuropäischen Metropole.

Eduardas Balsys (1919-1984) ist eine der wichtigsten Figuren Litauens. Bis zu seinem Tode lehrte er am Litauischen Staatlichen Konservatorium, war Präsidenten des Komponistenverbands. 1977 schrieb er ein Sinfoniekonzert für Orgel, Bassgitarre und Orchester, das auf den architektonischen Wandel der Stadt Vilnius Bezug nimmt.

Im zweiten Teil spielt David Geringas, der in Vilnius geboren und aufgewachsen ist, das erste Cello-Konzert von Camille Saint-Saëns. Er ist wohl der erfolgreichste Schüler des berühmten Cellisten Mstislaw Rostropowitsch.

Am Schluss des Programms steht Paul Dukas Geniestreich "Der Zauberlehrling". Seiner allzu selbstkritischen Haltung fiel so manches Stück zum Opfer, so dass sein Gesamtwerk an einer Hand abzuzählen ist.


Litauische Nationalphilharmonie Vilnius
Aufzeichnung vom 26.9.2009

Zibuokle Martinaityte
”A Thousand Doors to the World”
Eduardas Balsys
Sinfoniekonzert für Orgel, Bassgitarre und Orchester

ca. 20:50 Uhr Konzertpause mit Nachrichten

Camille Saint-Saëns
Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 33

Paul Dukas
”L'apprenti sorcier”, Sinfonisches Scherzo für Orchester


David Geringas, Violoncello
Renata Marcinkuté-Lesieur, Orgel
Eugenijus Miksys, Bassgitarre
Litauisches Nationales Sinfonieorchester
Leitung: Juozas Domarkas


im Anschluss 21:30 Uhr:

Romanzen der russischen Avantgarde
Aus dem Schaffen von Vesvolod Zaderatsky, Arthur Lourié und Dmitrij Schostakowitsch

Während die Musik von Schostakowitsch in Europa sehr geläufig ist, ist das Schaffen von Vsevolod Zaderatsky und Arthur Lourié hier vollkommen unbekannt. Der Grund für die Unbekanntheit von Vsevolod Zaderatsky ist sein tragisches Schicksal. Er wurde sein Leben lang von der Sowjetmacht verfolgt. Zaderatsky hatte nämlich das Unglück, Musiklehrer bei Zarewitsch Alexij, dem Sohn des letzten russischen Zaren Nikolaj II., gewesen zu sein. Allein für diese biografische Tatsache wurde er später mehrmals verhaftet und in den Gulag geschickt. Im Arbeitslager schrieb er auf Telegrammbögen seine 24 Präludien und Fugen auf - lange vor Dmitrij Schostakowitsch und Paul Hindemith. Keine einzige von ihm komponierte Note hat Zaderatsky zu seinen Lebzeiten gehört. Er starb herzkrank 1953 - im gleichen Jahr wie sein Verfolger Stalin. Sein reiches Schaffen – zwei Opern, Ballette, sinfonische Musik, über 300 Lieder und eine große Zahl von Klavierwerken - war jahrelang unbekannt und wird erst in den letzten zwei Jahren wieder allmählich entdeckt.

Auf den Namen Arthur Lourié wurde zu Beginn der 1990er Jahre vom Geiger Gidon Kremer aufmerksam gemacht. Inzwischen ist es um seine Musik jedoch wieder still geworden. Grund dafür ist wohl die ungewöhnliche Vielfalt dieses genialen Musikers, dessen Schaffen sich jeglicher Einordnung widersetzt. Mit seinen Werken vom Anfang des 20. Jahrhunderts erwies er sich als musikalischer Prophet, der beinahe die gesamte Entwicklung der Neuen Musik vorwegnahm. Das stilistische Spektrum seiner Kompositionen reicht von Zwölftonmusik und grafischer Notation über Neoklassizismus, Neofolklorismus bis zu Minimalmusic. Louriés Schicksal als "ewiger Emigrant" führte jedoch dazu, dass sein Schaffen vollkommen vergessen wurde. Er starb mittellos in USA 1966.