Vinyl muss es sein!
Vor einem Vierteljahrhundert legten DJs wie Dr. Motte, Marusha und Spencer ihre ersten Platten auf. Sie sorgten für den Soundtrack einer Generation. Heute lassen sie immer noch die Nächte tanzen. Allerdings mit strengem Zeitmanagement und alkoholfreiem Bier.
Es ist kurz vor Mitternacht, als der Geist der Loveparade seinen Arbeitsplatz betritt. Er ist groß, über 1,90 Meter, und immer noch sehr schlank. Er trägt einen gepflegten, grauen Dreitagebart und eine große Brille mit dunklem Rand, wie so viele hier. Am linken Arm hängt ein schwarzer Plattenkoffer. Überhaupt kommt Matthias Roeingh ziemlich unauffällig in den kleinen Club, aber was soll er auch ein großes Gewese um sich herum machen, nur weil er als DJ Dr. Motte die größte Party-Demonstration der Welt erfunden hat, die Loveparade?
Dr. Motte: "Ich hab jetzt meinen Auftritt von ein bis drei Uhr und dann bin ich wieder weg, das mag ich gar nicht. Ich mag auch keine VIP-Bereiche oder meinen Special DJ-Raum, dass ich mich quasi nur zurückziehe und keinen Kontakt zu den Leuten habe, sondern ich bin ab ein Uhr da und dann bin ich in dem Club mit allen zusammen am Feiern. Und das geht so lange, wie ich Bock darauf habe."
Es gibt auch gar keinen VIP-Bereich. Das Eschloraque liegt neben einem Programmkino in einem Hinterhof in Berlin-Mitte. Keine Halle mit Laserblitzlichtgewitter und Kunstnebel. Sondern ein kleiner, schummriger Club, eher gemütlich. Ein langer Schlauch mit einer Theke auf der einen Seite und Stehtische aus dunklem Holz auf der anderen. Hinter dem Schlauch öffnet sich der Raum zu einer kleinen Tanzfläche, die von Sofas umstellt ist. Der Eintritt kostet drei Euro heute Abend. Das Publikum: noch spärlich, aber international. Zwei Italiener in Anzug ohne Krawatte sehen sich etwas unentschlossen um.
Pasquale und sein Kollege sind am Nachmittag hier vorbeigekommen und fanden den Club ganz nett. Sie wollten schauen, wie es abends ist. Von Dr. Motte, dem DJ, der später hier auflegen soll, haben sie noch nichts gehört. Sie lächeln entschuldigend und fragen, wo sie sonst noch hier in der Gegend ausgehen können.
Bisher tanzen erst zwei Leute; es gibt noch viel Platz. An der Wand ist ein DJ-Pult aufgebaut, zwei Plattenteller, dahinter wippt eine Frau mit Kopfhörern auf den Ohren. Das muss DJ Vela sein, die das Eschloraque neben Dr. Motte auf seiner Internetseite für diese Samstagnacht angekündigt hat.
Während DJ Vela noch auflegt, holt sich Dr. Motte ein alkoholfreies Bier an der Theke und begrüßt eine kleine Gruppe. Sie sehen ein bisschen älter aus als die anderen Gäste im Eschloraque, Mitte vierzig etwa. Eine etwas füllige Dame mit straff zurückgebundenem Zopf möchte etwas ins Mikrophon sagen:
"Ich bin Paula P'Cay, ich hab' 1999 die Loveparade-Hymne gesungen. Und ich kenn' den Motte seit 20 Jahren, und wir machen zusammen alles mögliche."
Als Paula P'Cay damals die Stimme zu dem Track "Music is the key" liefert, ist die Loveparade in Berlin auf ihrem Höhepunkt. Mehr als eineinhalb Millionen Besucher feiern 1999 in Berlin unter der Siegessäule danach weiter im legendären Club "Tresor". Im Eschloraque legt Dr. Motte jetzt einen Arm um seine Sängerin von damals.
Dr. Motte: "Meine Absicht war immer, eine neue Form der Demonstration ins Leben zu rufen. Für Frieden, für Freude, für Eierkuchen. Also für Abrüstung auf allen Ebenen, für Musik als Mittel der Verständigung, der Freude, und Eierkuchen für die gerechte Form der Nahrungsmittelverteilung. Also Themen, die könnte man jederzeit wieder neu aufrollen. Und wer weiß, was passiert?"
Die Friede-Freude-Eierkuchen Demonstration ist heute tot - zumal nach der Massenpanik in Duisburg, bei der 21 Menschen ihr Leben verloren haben. Aber mit dem "Spirit der Loveparade", so meint Dr. Motte, hatte die Veranstaltung sowieso längst nichts mehr zu tun.
"Ich bin der "Spirit der Loveparade"", erklärt der DJ in einem Video auf Youtube. Inzwischen ist er 50 Jahre alt, aber immer noch hinterm Plattenteller. Wenn andere in seinem Alter abends essen gehen und dann gern bald ins Bett, steht er jedes Wochenende in einem Club.
Dr. Motte: "Wenn die Musik mir gefällt, dann ist alles egal. Wenn ich Platten auflege, dann spielt das vorher und nachher keine Rolle. Wenn ich konsequent bin und lege nur die Musik auf, die ich liebe, dann bin ich euphorisiert. Weil ich dann ja der Kanal der Musik bin, ich bin der Mittelpunkt des ganzen Geschehens, weil ich alles an mich reiße."
Die große Zeit des Techno in Deutschland ist zwar vorbei, aber viele DJs aus der Zeit legen heute immer noch auf. Sven Väth, Paul van Dyk und DJ Hell zum Beispiel. Sie sind Stars. Jedes Wochenende eine andere Stadt. Bis zu 50.000 Euro pro Auftritt. Andere wie Dr. Motte finden nichts dabei, wenn sie vor 50 Leuten auflegen. Er redet nicht gern über Geld. "Es geht mir gut", sagt er.
Der Comet-Club in Berlin-Kreuzberg: Eine kleine Halle mit Theke, Bühne, ein paar Sesseln und einem extra Raucherraum. Ein paar Leute stehen schon an der Bühne, ein Musiker beugt sich über seinen Bass. Heute Abend spielt hier eine junge Band aus Nordengland. DJ Spencer, 40 Jahre alt, leichter Bauchansatz, ist nur Zuschauer. Er hat die Band geholt, er muss nicht auflegen.
DJ Spencer: "Ich leg' jetzt mittlerweile zwei, drei Mal im Monat auf. Ich hab' früher teilweise drei Mal die Woche aufgelegt, in Berlin auch vier Mal die Woche. Dienstag, Donnerstag, Freitag, Samstag. Von wochentags von neun, bis keiner mehr da ist, das sind dann acht, neun Stunden gewesen."
Zuviel für einen nicht mehr blutjungen DJ. Der Rücken, die Beine, die Müdigkeit. Die vielen Nächte in den Clubs haben ihre Spuren hinterlassen.
DJ Spencer: "Ich hab' chronische Bronchitis vom Passivrauchen. Ich bin auch ein Freund des Nichtrauchergesetzes. In Berlin wird nicht wirklich darauf geachtet. Um vier Uhr, wenn alle einen drin haben, wird in jedem Club geraucht... Ich bin auch nicht gerade der dünnste. Ich fühle mich morgens dann doch schon sehr, sehr alt. Das geht schon sehr in die Knochen."
Spencer trägt Jeans, einen braunen Zipper und ebenso braune Turnschuhe. Seine wuscheligen Haaren und sein rundes Gesicht wirken sympathisch, jungenhaft. Er ist einer von drei DJs, die sich "Karreraklub" nennen und sogenannten Indie-Rock auflegen. "Indie" kommt von "independent" und bedeutet, dass diese Musik von keinen kommerziellen Firmen vertrieben wird.
Wenn sie eine Karreraklub-Party haben, dann wechseln sie sich zu dritt ab, jeder legt mal auf. Für Spencer inzwischen Routine: Er wedelt mit einem Blatt, auf dem Daten, Orte, Namen stehen, der Dienstplan des Karreraklubs. Eine Arbeit wie jede andere.
DJ Spencer: "Ich hab' auch wirklich Probleme mich zu motivieren nach all den Jahren. Das ist auch das, wo ich sehr drunter leide. Wenn du so was 25 Jahre machst und das ist 'ne Sache, die dir mittlerweile schwerfällt, die man 25 Jahre lang gern gemacht hat, dann tut das schon weh. Ich muss wirklich sagen: Ach Mist, jetzt musst du da noch mal hin."
Spencer heißt mit bürgerlichem Namen Stefan Theile. Als Schüler in Celle sammelt er Platten, sein ganzes Taschengeld geht dafür drauf. Das erste Mal legt er in der Schuldisco auf. So fängt es an und es wird immer mehr. Auch als er eine Ausbildung zum Chemielaboranten macht, auch als er in einer Lackfabrik arbeitet, auch dann, als er das Abitur nachholt: Spencer macht fast jede Nacht Musik, legt auf. Kaum jemand hat so viele Platten wie er.
DJ Spencer: "Entweder kanntest du einen, der die Platte hatte, dann hast du die gespielt. Du konntest ja auch nur Sachen spielen, die du hattest. Heute gehst du ins Internet, lädst dir die Musik runter, brennst dir eine CD, aus die Maus."
Als Stefan Theile Mitte der 90er-Jahre nach Berlin umzieht, spricht es sich schnell herum, dass da einer ist, der viele Platten hat. Bald kann er davon leben, DJ zu sein. Er gibt sein Studium auf, Biotechniker wollte er eigentlich werden. Aber es läuft so gut mit der Musik. Dass Spencer sich selbständig macht und mit zwei anderen DJs den Karreraklub gründet, das war vor 15 Jahren.
DJ Spencer: "Es war halt kein Beruf. Jetzt ist das ein Beruf, weißte. Irgendwann kam der Punkt, da habe ich mich überspielt. Es gab eine Phase, wo ich kaum Musik gehört habe. Und da hab' ich sehr drunter gelitten."
Mit Mitte 30 fühlt er sich zunehmend erschöpft. Diagnose: Burnout. Der Arzt schickt Spencer zur Therapie, zwei mal die Woche. Er spricht nicht gern darüber. Aber seitdem passt er ein bisschen auf sich auf: Den ersten Song der Band aus Neuengland hört er sich an, den zweiten auch noch. Dann will er los, nach Hause.
DJ Spencer: "Der Karreraklub wird jetzt 15 Jahre alt. Vielleicht werden wir auch noch 20. Mal gucken." (lacht)
Im Eschloraque in Berlin Mitte ist es etwa ein Uhr morgens. Dr. Motte, der Geist der Loveparade, schnappt seinen schwarzen Koffer und sein alkoholfreies Bier und steuert die Tanzfläche an. Er klemmt sich eine Taschenlampe in den Mund, damit er beide Hände frei hat, die Musik zu sortieren. Er positioniert die ersten beiden Platten auf den Tellern. CDs, digitale Musik – das kommt für ihn nicht in Frage. Vinylplatten müssen es sein.
Es ist etwas voller geworden. Eine junge, zierliche Frau mit dunklen Locken steuert die Tanzfläche an. Sie ist Mitte zwanzig und heißt Laura. Kennt sie den DJ hinterm Pult?
Laura: "Nein".
Aber sie kennt den Namen - Dr. Motte.
Laura: "Ich weiß, dass er bekannt war, aber das war vor meiner Elektrozeit."
1999 zur besten Zeit der Loveparade ist sie 13 und hört ganz andere Musik.
Laura: "Backstreet Boys. Und Spice Girls. Da kann ich noch die Texte peinlicherweise. Die kann ich besser als Vokabeln."
Die junge Frau winkt und hüpft in Richtung Tanzfläche davon. Die, die in den Clubs feiern, sind meistens ein Vierteljahrhundert jünger als der Mann hinter den Plattentellern.
Dr. Motte lächelt ein Lächeln, das sich irgendwo zwischen professionell und freundlich einpendelt, aber richtig warm ist es nicht.
Dr. Motte: "Ich sehe mich eigentlich als Künstler. Von daher, wenn ich dann Platten auflege, dann mache ich immer ein Angebot. Was mich dann interessiert, wie sind die Reaktionen. Da spielt Alter keine Rolle. Was ich nicht mag: keine Reaktion. Ich mag eine Reaktion, das ist was mich antreibt."
Manche DJs leben wirklich wie Künstler. Paul van Dyk ist gerade auf Tour: Osteuropa, dann Kanada, Amerika und Brasilien. Sven Väth schickt eine E-Mail aus Australien. Bis zum Sommer ist er ausgebucht, es tut ihm leid. Außerdem, das lässt er über seinen Manager noch ausrichten, für die Frage nach dem Altern in einer Jugendkultur fühlt er sich zu jung. Er ist 46.
Marusha Gleiss hat kein Problem mit dem Thema. Allerdings auch wenig Zeit. Eine Stunde kann sie einrichten. Sie schlägt ein Starbucks-Café vor. Es liegt am Kurfürstendamm, in dem Teil des Boulevards, wo sich teure Geschäfte mit edler Mode und Sicherheitspersonal angesiedelt haben. Marusha wohnt gleich um die Ecke.
Marusha: "Also ganz am Anfang wohnte ich in einer anderen Gegend in Berlin, ganz am Stadtrand im Osten. Dann bin ich nach Moabit gezogen und dann in die aufgeräumte Gegend. Aufgeräumte Gegend heißt genau das, was es heißt. Ich muss nicht die Hundescheiße haben, die Besoffenen, die hier rumtorkeln, gerade wenn man kleine Kinder hat. Ich komme aus Bayern, und ich mag, wenn's aufg'räumt aussieht."
Sie lächelt ein feines Lächeln und nimmt einen kleinen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Marusha ist Mitte vierzig. Vor nicht langer Zeit war sie die Technoqueen - und nicht nur in der Clubszene bekannt. Mehrere Tracks von ihr laufen in den Charts, und ihr Debutalbum "Raveland" bekommt sogar Platin. In dem Video zu ihrer eigenen Version von "Somewhere over the rainbow", ihr bekanntester Hit, hüpft sie durch eine Spielzeuglandschaft mit Duracell-Häschen und Teletubbies. Sie bindet die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und färbt ihre Augenbrauen grün; ihr Markenzeichen. Das war 1994. Weltweit lädt man sie ein aufzulegen. 43 Länder hat sie gezählt.
Marusha: "Das war sehr anstrengend. Das ist von daher so anstrengend, weil man kein Privatleben hat, weil man nur in Flugzeugen und Hotel sein Leben fristet. Was damals korrekt war, es war gut. Ich bin auch dankbar. Als ich weltberühmt war, war ich 24, also im genau richtigen Alter, das sieben, acht Jahre lang zumachen. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich es jetzt nicht mehr machen muss. Ich würde das nicht mehr können, energetisch auch nicht mehr."
Marusha Gleiss hat heute ihr Haar zu einem hellblonden Bob geschnitten. Die Augenbrauen sind nicht mehr grün, sondern dunkelbraun. Sie ist zierlich wie früher, aber wirkt nicht mehr verspielt: Sie trägt einen engen, schwarzen Mantel und schwarze Lederstiefel über Röhrenjeans. An den Wochenenden legt sie immer noch auf, aber maximal zwei Flugstunden von Berlin entfernt.
Marusha: "Wenn man mich bucht, dann gibt es Verträge und in den Verträgen steht alles drin, also die ganzen Rahmenbedingungen. Wie man fliegt, wo man wohnt, wie lange man auflegt und was es kostet. Und daran müssen sich die Veranstalter halten und ich natürlich auch."
Zur Verabredung ins Kaffee kommt sie auf die Minute genau. Ihr strenger Zeitplan lässt nichts anderes zu. Marusha hat einen kleinen Sohn, der gerade im Kindergarten ist. Am Nachmittag holt sie ihn ab und ist dann "500 Prozent" für ihn da, sagt sie. Sie erzieht ihn allein. In die Stunden, in denen er betreut wird, packt sie alles, was das Business mit sich bringt: Auftritte organisieren, T-Shirts entwerfen, Behördengänge machen, einkaufen gehen, an neuen Takes arbeiten. In den letzten Monaten hat sie ein ganz neues Projekt angeschoben. Marusha beugt sich über den Tisch und fordert auf, an ihrem Hals zu schnuppern.
Marusha: "Es ist eine Mischung aus Moschus, Sandelholz und Iris. Wenn das mal eine Stunde auf der Haut ist, dann kriegt dann kriegt der Moschus den Hauptton. Aber es bleibt pudrig, aber auf keinen Fall süß. Es ist elegant und sehr erotisch und gibt einem eine extrem angenehm warme und sympathische Aura, auf jeden Fall."
Sie erfüllt sich gerade ihren Mädchentraum: ein eigenes Parfüm entwickeln. Jetzt ist der Duft fertig, und mittlerweile hat sie mit zwei Geschäften gesprochen, die es möglicherweise vertreiben werden. Das Parfum könnte das Projekt sein, das ihr hilft, mit ihrem Beruf als DJ abzuschließen.
Marusha: "Auflegen tu ich gern. Es wird bestimmt ein schwerer Tag, wenn ich das letzte Mal auflege, aber es ist auf jeden Fall absehbar. An meinem 50. Geburtstag leg' ich bestimmt nicht mehr auf. Ich habe eine Frist, schon, aber die sage ich nicht. Ich kann loslassen."
Marusha steht auf. Bevor sie ihren Jungen abholt, muss sie zum Zahnarzt, zwei Stationen mit dem Bus. Sie verteilt zwei Wangenküsschen. Dann ist sie schon zur Tür hinaus.
Stefan Theile alias DJ Spencer steht in der Tiefgarage vor einem schicken Kombi, tastet in der Hosentasche nach dem Schlüssel.
DJ Spencer: "Ja, ein Familienauto. Ich fahre jetzt nach Hause zu mir, nach Britz, nach Alt-Britz."
Er biegt aus der Garage auf die Straße nach links und fährt auf eine der großen Ausfallstraßen aus Berlin, nach Südosten; Feierabendverkehrszeit, aber auf der Straße ist nicht viel los.
DJ Spencer: "Und das Komische ist, ich hab# immer in Westberlin gewohnt, fällt mir jetzt gerade auf. Für mich war immer wichtig, dass ich, wenn ich am morgen einkaufen gehe, dass ich nicht die gleichen Leute sehe, die ich in der Nacht auch sehe. Weil ich das trennen will, also Freizeit und Clubleben."
Er lenkt den Wagen ruhig über die Straße, fährt weder zu langsam, noch zu schnell. Ein Auto vor uns bremst erst hart, dann entscheidet der Fahrer sich doch noch dazu, bei Rot über die Kreuzung zu fahren. Spencer schüttelt den Kopf und bleibt an der Ampel stehen.
Er hat viel über seinen Beruf nachgedacht. Anders als ein Elektro-DJ, der aus Musik von anderen in der Nacht etwas Neues schafft wie ein Maler in seinem Atelier aus Farben ein Bild, sieht Spencer sich mehr als eine Art Musikbox.
DJ Spencer: "Du stellst den Leuten neue Bands vor, und dann unterhältst du sie. Ich habe auf meinen Rechnungen auch stehen: Schallplattenunterhaltung. Das bringt es ganz gut auf den Punkt."
Spencer will präsentieren, nicht selbst kreativ werden. Als die große Zeit des Techno sich langsam dem Ende zuneigt, beginnt seine: die der handgemachten Gitarrenmusik. Heute veranstaltet der DJ auch Konzerte, so dass die Bands auch Live-Auftritte haben. Und er eine altersgemäße Aufgabe.
DJ Spencer: "Ich bin jetzt 40. Und der Altersdurchschnitt ist so 22. Wenn die einen dann Siezen, dann denkst du: Aua! Da denkst du, da machst du halt was anderes. Ich bin froh, dass wir es in die Konzertschiene geschafft haben. Das kann ich auch noch in zehn Jahren machen. Das Auflegen brauch' ich nicht mehr. Ich muss mir nix mehr beweisen. Mehr kann man nicht erreichen. Ich sitz' in Berlin, und ich mach den Indie-Markt in Berlin. Mehr geht in Deutschland nicht."
Die Häuser am Stadtrand werden immer niedriger. Hohe, alte Bäume stehen zwischen ihnen. Spencer setzt seinen Blinker rechts und fährt vorbei an einer Schrebergartensiedlung. Er hat sich vor kurzem selbst einen kleinen Garten gekauft.
DJ Spencer: "Da haben sich alle kaputtgelacht. Alle so: Wie ey, 25 Jahre Rock'n'Roll und jetzt im Schrebergarten!? Ich brauch' diese Ranch halt. Das ist meine kleine Ranch. Ich find's auch cool, im Sommer nach dem Auflegen so um sieben oder acht Uhr morgens im Garten zu sein und zwei Stunden da zu sitzen. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Zur Beruhigung ist das gut."
Spencer hält vor einer kleinen Kirche, gegenüber steht ein weiß verputztes Reihenhaus mit Vorgarten. Dort wohnt er. Spencer, DJ und 40 Jahre alt, wird jetzt eine DVD einlegen und einfach nur entspannen.
Dr. Motte, 50 Jahre alt, ist um drei Uhr morgens konzentriert bei der Sache. Er hat Kopfhörer auf den Ohren. Das Eschloraque ist verraucht und voll. An der Bar und auf den Sofas unterhalten sich die Gäste, einige tanzen.
Dr Motte nimmt einen Schluck aus der Bierflasche – immer noch alkoholfrei. Aus seinem eng anliegenden T-Shirt blitzt am Nacken ein Tattoo in Blau hervor. Es erinnert ein wenig an die Zahl 30. Aber es ist das alte Sanskrit-Zeichen für Om. Om, der Weltklang, erklärt Dr. Motte.
Dr. Motte: "Ich konnte mir mit 30 nicht vorstellen, dass ich im Jahre 2000, dass ich da noch Platten auflege. Das war für mich sooo weit weg. Mit 40, also nee, bin ich wie ein alter Sack, und wie würde das dann aussehen? Und jetzt haben wir 2011 und ich halte es wie Keith Richards. Ich sterbe hinter den Plattenspielern."
Dr. Motte nimmt die Taschenlampe in den Mund und zieht eine neue Platte aus dem Koffer. Dann hebt er den Plattenarm wieder an. Die Nacht ist noch jung.
Dr. Motte: "Ich hab jetzt meinen Auftritt von ein bis drei Uhr und dann bin ich wieder weg, das mag ich gar nicht. Ich mag auch keine VIP-Bereiche oder meinen Special DJ-Raum, dass ich mich quasi nur zurückziehe und keinen Kontakt zu den Leuten habe, sondern ich bin ab ein Uhr da und dann bin ich in dem Club mit allen zusammen am Feiern. Und das geht so lange, wie ich Bock darauf habe."
Es gibt auch gar keinen VIP-Bereich. Das Eschloraque liegt neben einem Programmkino in einem Hinterhof in Berlin-Mitte. Keine Halle mit Laserblitzlichtgewitter und Kunstnebel. Sondern ein kleiner, schummriger Club, eher gemütlich. Ein langer Schlauch mit einer Theke auf der einen Seite und Stehtische aus dunklem Holz auf der anderen. Hinter dem Schlauch öffnet sich der Raum zu einer kleinen Tanzfläche, die von Sofas umstellt ist. Der Eintritt kostet drei Euro heute Abend. Das Publikum: noch spärlich, aber international. Zwei Italiener in Anzug ohne Krawatte sehen sich etwas unentschlossen um.
Pasquale und sein Kollege sind am Nachmittag hier vorbeigekommen und fanden den Club ganz nett. Sie wollten schauen, wie es abends ist. Von Dr. Motte, dem DJ, der später hier auflegen soll, haben sie noch nichts gehört. Sie lächeln entschuldigend und fragen, wo sie sonst noch hier in der Gegend ausgehen können.
Bisher tanzen erst zwei Leute; es gibt noch viel Platz. An der Wand ist ein DJ-Pult aufgebaut, zwei Plattenteller, dahinter wippt eine Frau mit Kopfhörern auf den Ohren. Das muss DJ Vela sein, die das Eschloraque neben Dr. Motte auf seiner Internetseite für diese Samstagnacht angekündigt hat.
Während DJ Vela noch auflegt, holt sich Dr. Motte ein alkoholfreies Bier an der Theke und begrüßt eine kleine Gruppe. Sie sehen ein bisschen älter aus als die anderen Gäste im Eschloraque, Mitte vierzig etwa. Eine etwas füllige Dame mit straff zurückgebundenem Zopf möchte etwas ins Mikrophon sagen:
"Ich bin Paula P'Cay, ich hab' 1999 die Loveparade-Hymne gesungen. Und ich kenn' den Motte seit 20 Jahren, und wir machen zusammen alles mögliche."
Als Paula P'Cay damals die Stimme zu dem Track "Music is the key" liefert, ist die Loveparade in Berlin auf ihrem Höhepunkt. Mehr als eineinhalb Millionen Besucher feiern 1999 in Berlin unter der Siegessäule danach weiter im legendären Club "Tresor". Im Eschloraque legt Dr. Motte jetzt einen Arm um seine Sängerin von damals.
Dr. Motte: "Meine Absicht war immer, eine neue Form der Demonstration ins Leben zu rufen. Für Frieden, für Freude, für Eierkuchen. Also für Abrüstung auf allen Ebenen, für Musik als Mittel der Verständigung, der Freude, und Eierkuchen für die gerechte Form der Nahrungsmittelverteilung. Also Themen, die könnte man jederzeit wieder neu aufrollen. Und wer weiß, was passiert?"
Die Friede-Freude-Eierkuchen Demonstration ist heute tot - zumal nach der Massenpanik in Duisburg, bei der 21 Menschen ihr Leben verloren haben. Aber mit dem "Spirit der Loveparade", so meint Dr. Motte, hatte die Veranstaltung sowieso längst nichts mehr zu tun.
"Ich bin der "Spirit der Loveparade"", erklärt der DJ in einem Video auf Youtube. Inzwischen ist er 50 Jahre alt, aber immer noch hinterm Plattenteller. Wenn andere in seinem Alter abends essen gehen und dann gern bald ins Bett, steht er jedes Wochenende in einem Club.
Dr. Motte: "Wenn die Musik mir gefällt, dann ist alles egal. Wenn ich Platten auflege, dann spielt das vorher und nachher keine Rolle. Wenn ich konsequent bin und lege nur die Musik auf, die ich liebe, dann bin ich euphorisiert. Weil ich dann ja der Kanal der Musik bin, ich bin der Mittelpunkt des ganzen Geschehens, weil ich alles an mich reiße."
Die große Zeit des Techno in Deutschland ist zwar vorbei, aber viele DJs aus der Zeit legen heute immer noch auf. Sven Väth, Paul van Dyk und DJ Hell zum Beispiel. Sie sind Stars. Jedes Wochenende eine andere Stadt. Bis zu 50.000 Euro pro Auftritt. Andere wie Dr. Motte finden nichts dabei, wenn sie vor 50 Leuten auflegen. Er redet nicht gern über Geld. "Es geht mir gut", sagt er.
Der Comet-Club in Berlin-Kreuzberg: Eine kleine Halle mit Theke, Bühne, ein paar Sesseln und einem extra Raucherraum. Ein paar Leute stehen schon an der Bühne, ein Musiker beugt sich über seinen Bass. Heute Abend spielt hier eine junge Band aus Nordengland. DJ Spencer, 40 Jahre alt, leichter Bauchansatz, ist nur Zuschauer. Er hat die Band geholt, er muss nicht auflegen.
DJ Spencer: "Ich leg' jetzt mittlerweile zwei, drei Mal im Monat auf. Ich hab' früher teilweise drei Mal die Woche aufgelegt, in Berlin auch vier Mal die Woche. Dienstag, Donnerstag, Freitag, Samstag. Von wochentags von neun, bis keiner mehr da ist, das sind dann acht, neun Stunden gewesen."
Zuviel für einen nicht mehr blutjungen DJ. Der Rücken, die Beine, die Müdigkeit. Die vielen Nächte in den Clubs haben ihre Spuren hinterlassen.
DJ Spencer: "Ich hab' chronische Bronchitis vom Passivrauchen. Ich bin auch ein Freund des Nichtrauchergesetzes. In Berlin wird nicht wirklich darauf geachtet. Um vier Uhr, wenn alle einen drin haben, wird in jedem Club geraucht... Ich bin auch nicht gerade der dünnste. Ich fühle mich morgens dann doch schon sehr, sehr alt. Das geht schon sehr in die Knochen."
Spencer trägt Jeans, einen braunen Zipper und ebenso braune Turnschuhe. Seine wuscheligen Haaren und sein rundes Gesicht wirken sympathisch, jungenhaft. Er ist einer von drei DJs, die sich "Karreraklub" nennen und sogenannten Indie-Rock auflegen. "Indie" kommt von "independent" und bedeutet, dass diese Musik von keinen kommerziellen Firmen vertrieben wird.
Wenn sie eine Karreraklub-Party haben, dann wechseln sie sich zu dritt ab, jeder legt mal auf. Für Spencer inzwischen Routine: Er wedelt mit einem Blatt, auf dem Daten, Orte, Namen stehen, der Dienstplan des Karreraklubs. Eine Arbeit wie jede andere.
DJ Spencer: "Ich hab' auch wirklich Probleme mich zu motivieren nach all den Jahren. Das ist auch das, wo ich sehr drunter leide. Wenn du so was 25 Jahre machst und das ist 'ne Sache, die dir mittlerweile schwerfällt, die man 25 Jahre lang gern gemacht hat, dann tut das schon weh. Ich muss wirklich sagen: Ach Mist, jetzt musst du da noch mal hin."
Spencer heißt mit bürgerlichem Namen Stefan Theile. Als Schüler in Celle sammelt er Platten, sein ganzes Taschengeld geht dafür drauf. Das erste Mal legt er in der Schuldisco auf. So fängt es an und es wird immer mehr. Auch als er eine Ausbildung zum Chemielaboranten macht, auch als er in einer Lackfabrik arbeitet, auch dann, als er das Abitur nachholt: Spencer macht fast jede Nacht Musik, legt auf. Kaum jemand hat so viele Platten wie er.
DJ Spencer: "Entweder kanntest du einen, der die Platte hatte, dann hast du die gespielt. Du konntest ja auch nur Sachen spielen, die du hattest. Heute gehst du ins Internet, lädst dir die Musik runter, brennst dir eine CD, aus die Maus."
Als Stefan Theile Mitte der 90er-Jahre nach Berlin umzieht, spricht es sich schnell herum, dass da einer ist, der viele Platten hat. Bald kann er davon leben, DJ zu sein. Er gibt sein Studium auf, Biotechniker wollte er eigentlich werden. Aber es läuft so gut mit der Musik. Dass Spencer sich selbständig macht und mit zwei anderen DJs den Karreraklub gründet, das war vor 15 Jahren.
DJ Spencer: "Es war halt kein Beruf. Jetzt ist das ein Beruf, weißte. Irgendwann kam der Punkt, da habe ich mich überspielt. Es gab eine Phase, wo ich kaum Musik gehört habe. Und da hab' ich sehr drunter gelitten."
Mit Mitte 30 fühlt er sich zunehmend erschöpft. Diagnose: Burnout. Der Arzt schickt Spencer zur Therapie, zwei mal die Woche. Er spricht nicht gern darüber. Aber seitdem passt er ein bisschen auf sich auf: Den ersten Song der Band aus Neuengland hört er sich an, den zweiten auch noch. Dann will er los, nach Hause.
DJ Spencer: "Der Karreraklub wird jetzt 15 Jahre alt. Vielleicht werden wir auch noch 20. Mal gucken." (lacht)
Im Eschloraque in Berlin Mitte ist es etwa ein Uhr morgens. Dr. Motte, der Geist der Loveparade, schnappt seinen schwarzen Koffer und sein alkoholfreies Bier und steuert die Tanzfläche an. Er klemmt sich eine Taschenlampe in den Mund, damit er beide Hände frei hat, die Musik zu sortieren. Er positioniert die ersten beiden Platten auf den Tellern. CDs, digitale Musik – das kommt für ihn nicht in Frage. Vinylplatten müssen es sein.
Es ist etwas voller geworden. Eine junge, zierliche Frau mit dunklen Locken steuert die Tanzfläche an. Sie ist Mitte zwanzig und heißt Laura. Kennt sie den DJ hinterm Pult?
Laura: "Nein".
Aber sie kennt den Namen - Dr. Motte.
Laura: "Ich weiß, dass er bekannt war, aber das war vor meiner Elektrozeit."
1999 zur besten Zeit der Loveparade ist sie 13 und hört ganz andere Musik.
Laura: "Backstreet Boys. Und Spice Girls. Da kann ich noch die Texte peinlicherweise. Die kann ich besser als Vokabeln."
Die junge Frau winkt und hüpft in Richtung Tanzfläche davon. Die, die in den Clubs feiern, sind meistens ein Vierteljahrhundert jünger als der Mann hinter den Plattentellern.
Dr. Motte lächelt ein Lächeln, das sich irgendwo zwischen professionell und freundlich einpendelt, aber richtig warm ist es nicht.
Dr. Motte: "Ich sehe mich eigentlich als Künstler. Von daher, wenn ich dann Platten auflege, dann mache ich immer ein Angebot. Was mich dann interessiert, wie sind die Reaktionen. Da spielt Alter keine Rolle. Was ich nicht mag: keine Reaktion. Ich mag eine Reaktion, das ist was mich antreibt."
Manche DJs leben wirklich wie Künstler. Paul van Dyk ist gerade auf Tour: Osteuropa, dann Kanada, Amerika und Brasilien. Sven Väth schickt eine E-Mail aus Australien. Bis zum Sommer ist er ausgebucht, es tut ihm leid. Außerdem, das lässt er über seinen Manager noch ausrichten, für die Frage nach dem Altern in einer Jugendkultur fühlt er sich zu jung. Er ist 46.
Marusha Gleiss hat kein Problem mit dem Thema. Allerdings auch wenig Zeit. Eine Stunde kann sie einrichten. Sie schlägt ein Starbucks-Café vor. Es liegt am Kurfürstendamm, in dem Teil des Boulevards, wo sich teure Geschäfte mit edler Mode und Sicherheitspersonal angesiedelt haben. Marusha wohnt gleich um die Ecke.
Marusha: "Also ganz am Anfang wohnte ich in einer anderen Gegend in Berlin, ganz am Stadtrand im Osten. Dann bin ich nach Moabit gezogen und dann in die aufgeräumte Gegend. Aufgeräumte Gegend heißt genau das, was es heißt. Ich muss nicht die Hundescheiße haben, die Besoffenen, die hier rumtorkeln, gerade wenn man kleine Kinder hat. Ich komme aus Bayern, und ich mag, wenn's aufg'räumt aussieht."
Sie lächelt ein feines Lächeln und nimmt einen kleinen Schluck aus ihrem Kaffeebecher. Marusha ist Mitte vierzig. Vor nicht langer Zeit war sie die Technoqueen - und nicht nur in der Clubszene bekannt. Mehrere Tracks von ihr laufen in den Charts, und ihr Debutalbum "Raveland" bekommt sogar Platin. In dem Video zu ihrer eigenen Version von "Somewhere over the rainbow", ihr bekanntester Hit, hüpft sie durch eine Spielzeuglandschaft mit Duracell-Häschen und Teletubbies. Sie bindet die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und färbt ihre Augenbrauen grün; ihr Markenzeichen. Das war 1994. Weltweit lädt man sie ein aufzulegen. 43 Länder hat sie gezählt.
Marusha: "Das war sehr anstrengend. Das ist von daher so anstrengend, weil man kein Privatleben hat, weil man nur in Flugzeugen und Hotel sein Leben fristet. Was damals korrekt war, es war gut. Ich bin auch dankbar. Als ich weltberühmt war, war ich 24, also im genau richtigen Alter, das sieben, acht Jahre lang zumachen. Aber ich bin sehr dankbar, dass ich es jetzt nicht mehr machen muss. Ich würde das nicht mehr können, energetisch auch nicht mehr."
Marusha Gleiss hat heute ihr Haar zu einem hellblonden Bob geschnitten. Die Augenbrauen sind nicht mehr grün, sondern dunkelbraun. Sie ist zierlich wie früher, aber wirkt nicht mehr verspielt: Sie trägt einen engen, schwarzen Mantel und schwarze Lederstiefel über Röhrenjeans. An den Wochenenden legt sie immer noch auf, aber maximal zwei Flugstunden von Berlin entfernt.
Marusha: "Wenn man mich bucht, dann gibt es Verträge und in den Verträgen steht alles drin, also die ganzen Rahmenbedingungen. Wie man fliegt, wo man wohnt, wie lange man auflegt und was es kostet. Und daran müssen sich die Veranstalter halten und ich natürlich auch."
Zur Verabredung ins Kaffee kommt sie auf die Minute genau. Ihr strenger Zeitplan lässt nichts anderes zu. Marusha hat einen kleinen Sohn, der gerade im Kindergarten ist. Am Nachmittag holt sie ihn ab und ist dann "500 Prozent" für ihn da, sagt sie. Sie erzieht ihn allein. In die Stunden, in denen er betreut wird, packt sie alles, was das Business mit sich bringt: Auftritte organisieren, T-Shirts entwerfen, Behördengänge machen, einkaufen gehen, an neuen Takes arbeiten. In den letzten Monaten hat sie ein ganz neues Projekt angeschoben. Marusha beugt sich über den Tisch und fordert auf, an ihrem Hals zu schnuppern.
Marusha: "Es ist eine Mischung aus Moschus, Sandelholz und Iris. Wenn das mal eine Stunde auf der Haut ist, dann kriegt dann kriegt der Moschus den Hauptton. Aber es bleibt pudrig, aber auf keinen Fall süß. Es ist elegant und sehr erotisch und gibt einem eine extrem angenehm warme und sympathische Aura, auf jeden Fall."
Sie erfüllt sich gerade ihren Mädchentraum: ein eigenes Parfüm entwickeln. Jetzt ist der Duft fertig, und mittlerweile hat sie mit zwei Geschäften gesprochen, die es möglicherweise vertreiben werden. Das Parfum könnte das Projekt sein, das ihr hilft, mit ihrem Beruf als DJ abzuschließen.
Marusha: "Auflegen tu ich gern. Es wird bestimmt ein schwerer Tag, wenn ich das letzte Mal auflege, aber es ist auf jeden Fall absehbar. An meinem 50. Geburtstag leg' ich bestimmt nicht mehr auf. Ich habe eine Frist, schon, aber die sage ich nicht. Ich kann loslassen."
Marusha steht auf. Bevor sie ihren Jungen abholt, muss sie zum Zahnarzt, zwei Stationen mit dem Bus. Sie verteilt zwei Wangenküsschen. Dann ist sie schon zur Tür hinaus.
Stefan Theile alias DJ Spencer steht in der Tiefgarage vor einem schicken Kombi, tastet in der Hosentasche nach dem Schlüssel.
DJ Spencer: "Ja, ein Familienauto. Ich fahre jetzt nach Hause zu mir, nach Britz, nach Alt-Britz."
Er biegt aus der Garage auf die Straße nach links und fährt auf eine der großen Ausfallstraßen aus Berlin, nach Südosten; Feierabendverkehrszeit, aber auf der Straße ist nicht viel los.
DJ Spencer: "Und das Komische ist, ich hab# immer in Westberlin gewohnt, fällt mir jetzt gerade auf. Für mich war immer wichtig, dass ich, wenn ich am morgen einkaufen gehe, dass ich nicht die gleichen Leute sehe, die ich in der Nacht auch sehe. Weil ich das trennen will, also Freizeit und Clubleben."
Er lenkt den Wagen ruhig über die Straße, fährt weder zu langsam, noch zu schnell. Ein Auto vor uns bremst erst hart, dann entscheidet der Fahrer sich doch noch dazu, bei Rot über die Kreuzung zu fahren. Spencer schüttelt den Kopf und bleibt an der Ampel stehen.
Er hat viel über seinen Beruf nachgedacht. Anders als ein Elektro-DJ, der aus Musik von anderen in der Nacht etwas Neues schafft wie ein Maler in seinem Atelier aus Farben ein Bild, sieht Spencer sich mehr als eine Art Musikbox.
DJ Spencer: "Du stellst den Leuten neue Bands vor, und dann unterhältst du sie. Ich habe auf meinen Rechnungen auch stehen: Schallplattenunterhaltung. Das bringt es ganz gut auf den Punkt."
Spencer will präsentieren, nicht selbst kreativ werden. Als die große Zeit des Techno sich langsam dem Ende zuneigt, beginnt seine: die der handgemachten Gitarrenmusik. Heute veranstaltet der DJ auch Konzerte, so dass die Bands auch Live-Auftritte haben. Und er eine altersgemäße Aufgabe.
DJ Spencer: "Ich bin jetzt 40. Und der Altersdurchschnitt ist so 22. Wenn die einen dann Siezen, dann denkst du: Aua! Da denkst du, da machst du halt was anderes. Ich bin froh, dass wir es in die Konzertschiene geschafft haben. Das kann ich auch noch in zehn Jahren machen. Das Auflegen brauch' ich nicht mehr. Ich muss mir nix mehr beweisen. Mehr kann man nicht erreichen. Ich sitz' in Berlin, und ich mach den Indie-Markt in Berlin. Mehr geht in Deutschland nicht."
Die Häuser am Stadtrand werden immer niedriger. Hohe, alte Bäume stehen zwischen ihnen. Spencer setzt seinen Blinker rechts und fährt vorbei an einer Schrebergartensiedlung. Er hat sich vor kurzem selbst einen kleinen Garten gekauft.
DJ Spencer: "Da haben sich alle kaputtgelacht. Alle so: Wie ey, 25 Jahre Rock'n'Roll und jetzt im Schrebergarten!? Ich brauch' diese Ranch halt. Das ist meine kleine Ranch. Ich find's auch cool, im Sommer nach dem Auflegen so um sieben oder acht Uhr morgens im Garten zu sein und zwei Stunden da zu sitzen. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Zur Beruhigung ist das gut."
Spencer hält vor einer kleinen Kirche, gegenüber steht ein weiß verputztes Reihenhaus mit Vorgarten. Dort wohnt er. Spencer, DJ und 40 Jahre alt, wird jetzt eine DVD einlegen und einfach nur entspannen.
Dr. Motte, 50 Jahre alt, ist um drei Uhr morgens konzentriert bei der Sache. Er hat Kopfhörer auf den Ohren. Das Eschloraque ist verraucht und voll. An der Bar und auf den Sofas unterhalten sich die Gäste, einige tanzen.
Dr Motte nimmt einen Schluck aus der Bierflasche – immer noch alkoholfrei. Aus seinem eng anliegenden T-Shirt blitzt am Nacken ein Tattoo in Blau hervor. Es erinnert ein wenig an die Zahl 30. Aber es ist das alte Sanskrit-Zeichen für Om. Om, der Weltklang, erklärt Dr. Motte.
Dr. Motte: "Ich konnte mir mit 30 nicht vorstellen, dass ich im Jahre 2000, dass ich da noch Platten auflege. Das war für mich sooo weit weg. Mit 40, also nee, bin ich wie ein alter Sack, und wie würde das dann aussehen? Und jetzt haben wir 2011 und ich halte es wie Keith Richards. Ich sterbe hinter den Plattenspielern."
Dr. Motte nimmt die Taschenlampe in den Mund und zieht eine neue Platte aus dem Koffer. Dann hebt er den Plattenarm wieder an. Die Nacht ist noch jung.