Die Politik der Scham, Wut und Ohnmacht
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Bestimmte Gefühle können uns für bestimmte Politiken empfänglich machen: Die Denkfabrik "Politik und Gefühl" des "Center for Literature" widmete sich kollektiven Erfahrungen in Zeiten von Corona – und suchte Wege aus der Ohnmacht.
"Herzlich willkommen hier zur Denkfabrik 'Politik und Gefühl'." – "Sie findet weder in Wien noch in Münster statt. Das Einzige, was geblieben ist, seid ihr und sind wir."
Wir, das sind Jörg Albrecht, Leiter des "Center for Literature" auf Schloss Hülshoff und Gerhild Steinbuch, Professorin an der Wiener Universität für angewandte Kunst. Das sind blecherne Stimmen und unscharfe Bildchen der geladenen Künstlerinnen, Sprachwissenschaftler und Schriftstellerinnen bei sich zu Hause, im Hintergrund die obligatorische Bücherwand – anstatt einer Tagung auf Schloss Hülshoff im Münsterland – mit der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in Öl an der Wand und Gesprächen in den Pausen.
Jetzt bekommen wir, die Zuschauer und Zuschauerinnen, stattdessen die Biedermeiereinrichtung der Dichterinnenfamilie nur in vorproduzierten Einspielern zu sehen, immer dann, wenn Jörg Albrecht von einem Gefühl zum nächsten überleitet: "Und zwar sind das Scham und Wut heute und dann morgen Ohnmacht und Trauer."
Ohnmachtsgefühle im Supermarkt
Ohnmacht und Trauer: Von allen Gefühlen diejenigen, die in Zeiten von Corona von den allermeisten Menschen geteilt werden dürften. "In Zeiten von Corona – das ist auch so eine Wendung", beginnt der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Yannic Han Biao Federer seinen Text: "Über Ohnmacht zu schreiben in Zeiten von Corona, sollte eigentlich ganz leicht sein – und genau deshalb ist es schwer."
Warum? Weil die Ohnmacht noch schwerer auszuhalten ist als in den Zeiten vor Corona, wo sich das Ohnmachtsgefühl im Supermarkt einstellte:
"An der Obst- und Gemüseauslage alle Überseeprodukte zu ignorieren – wegen der immensen Aufwände von Ressourcen, die bei deren Anbau und Transport anfallen. Am Ende vor einem Zwei-Kilo-Sack Karotten aus Rheinland-Pfalz verzweifeln – wegen der Überdüngung und der Pestizide. Es ging also gewissermaßen um die Ohnmacht vor einem System, als dessen Glied wir dermaßen stramm eingebunden und funktionalisiert zu sein scheinen, dass eine gewissensbasierte Verhaltens- und Konsumabweichung nur unter größtmöglicher Anstrengung zu haben ist."
Der Ausweg: "Sein Heil im graduellen Denken zu suchen, in die schmutzigen Niederungen der Kompromisse hinabzusteigen", erscheint angesichts von Ausgangsbeschränkungen und dem Gebot physical distancing doppelt schwierig – öffentlich wie privat: Die ohnmächtige Einsicht, dass der Schutz vor gegenseitiger Infizierung nie vollkommen sein kann und trotzdem angestrebt werden soll, wiegt schwer.
Rechte Populisten auf Sündenbocksuche
Zu schwer für rechte Populisten: "Sie suggerieren unverminderte Handlungspotenz, indem sie das, was den faktischen Handlungsradius eklatant einschränkt, schlicht zur Fiktion verlogener Eliten erklären." Für sie stellt dann auch nicht das Virus die Gefahr dar, sondern die "Anderen", sagt Yannic Han Biao Federer:
"Trumps Rede vom ‚chinese virus’ oder der Versuch der AfD, Asylsuchende als besonders infektiöse Bevölkerungsschicht zu stigmatisieren und so weiter und so fort: Beides soll den Fokus von einer zwar faktischen, aber schwer greifbaren Bedrohung hin zu einem zwar fiktionalen, aber durchaus greifbaren Gegner lenken."
Welche Toten werden öffentlich betrauert?
"Es ist auch, glaube ich, eine Möglichkeit, jetzt gerade darüber nachzudenken, was Öffentlichkeit für uns bedeutet", sagt Jörg Albrecht - gerade in diesen Zeiten, wo öffentliches Leben quasi nur noch als Simulation im virtuellen Raum stattfindet.
An die Seite der Ohnmacht tritt die Trauer. Welche Toten werden öffentlich betrauert? "Die Möglichkeit, als Gesellschaft insgesamt zu trauern, das bedeutet ja gar nicht Negativität, sondern: Es bedeutet, einen Wert zu beglaubigen" – dass die Ermordeten von Hanau aus der Mitte unserer Gesellschaft aus dem Leben gerissen wurden, dass jedes Todesopfer der Pandemie immer eines zu viel ist.
Eine Gesellschaft ohne Diskriminierung
Ohnmacht, Trauer und Angst: kollektive Erfahrungen, die in Zeiten von Corona am Anfang eines ganz neuen Gefühls stehen könnten. Davon spricht die Politologin, Netz-Aktivistin und Bestseller-Autorin Kübra Gümüşay in ihrem Vortrag:
"Nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten waren sich so viele Menschen dieser privilegierten Gesellschaft der Tatsache bewusst, wie veränderlich unsere Gesellschaft ist. Nun ist es Zeit darüber nachzudenken, wie wir in die Zukunft kommen können, die unseren Idealen tatsächlich entspricht – eine Gesellschaft, die tatsächlich frei ist von Sexismus, Rassismus, Klassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit - von jedweder Diskriminierung dieser Art."
Am Ende liegt es an uns allen, wie unsere Gefühle von Ohnmacht und Trauer und Angst die Politik der Zukunft bestimmen werden.
"Wir warten", singt Barbara Morgenstern am Ende der Online-Konferenz per Liveschaltung aus ihrem Garten.