Diagnose via Internet
Über eine Plattform namens SMAP kommunizieren Patienten und Ärzte miteinander. Sie können dabei tausende Kilometer entfernt voneinander sein. Der Vorteil trotz der Entfernung: eine schnelle Diagnose und die Möglichkeit, weitere Ärzte einzuschalten.
Eine Untersuchungsliege, in den Regalen medizinische Fachliteratur, weit und breit kein Patient. Kinderarzt Joachim Riethmüller sitzt allein in seinem Arztzimmer vor dem Computer- Bildschirm. In Ruhe liest er eine Nachricht, dann antwortet er. Auf einer online-Plattform chattet der Tübinger Oberarzt mit der Mutter eines jungen Patienten.
Dr. Riethmüller hat Sprechstunde, virtuelle Sprechstunde. Ihr Kind habe einen Ausschlag schreibt die Mutter. Schicken Sie - wenn möglich - ein oder zwei Fotos, schreibt der Kinderarzt zurück.
"Das heißt, sie schickt mir jetzt die Bilder und ich guck mir die in Ruhe an, kann die am Rechner vergrößern und kann ihr dann zurückschreiben."
Zehn Minuten später kommen zwei Fotos. Die Mutter hat die Fotos vom Ausschlag ihres Sohnes mit einer Handykamera gemacht. Der Kinderarzt vergrößert die Aufnahmen auf seinem Bildschirm. Er kennt den jungen Patienten schon lange. Das Kind ist regelmäßig mit seinen Eltern in der Ambulanz. Der Junge leidet unter der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose, ist chronisch krank und muss zeitlebens intensiv medizinisch betreut werden.
Der Kinderarzt schaut sich das zweite Foto an:
"Ein Ausschlag, der nicht typisch ist für eine Kontaktallergie, der nicht typisch ist für Arzneimittelnebenwirkungen ..."
Dr. Riethmüller bittet die Mutter um weitere Details:
"Sie soll unbedingt genau aufschreiben, wie lange der Ausschlag aufgetreten ist, in welcher Situation, ob er einen Schnupfen hatte, oder einen Infekt der oberen Luftwege und welche Medikamente sie hat schlucken lassen."
Die Infos kommen prompt, auch die Antwort des Kinderarztes dauert nicht lange. Er ordnet zwei therapeutische Maßnahmen an:
"Ok", sagt jetzt die Patientenmutter: "Ein schönes Wochenende, alles wunderbar!"
Der Patient erspart sich den Weg, der Arzt gewinnt Zeit
Dem jungen Patienten und seiner Mutter sind eine Fahrt von über 150 Kilometer erspart geblieben. Auch der Tübinger Klinikarzt hat Zeit gewonnen. Kein zusätzliches Personal musste bereitgestellt werden, wie sonst in der Ambulanzsprechstunde üblich.
Oberarzt Riethmüller ist bei der nächsten Patientin. Er klickt auf ihren Namen, die aktive Kommunikation beginnt. Das virtuelle Sprechzimmer an der Tübinger Kinderklinik ist ein bundesweites Modellprojekt. Mit zunächst zehn chronisch kranken Patienten bzw. Patienteneltern wird getestet, wie groß die Akzeptanz der online-Kommunikation ist.
Bewusst fiel die Auswahl auf chronisch Kranke, also betreuungsintensive Patienten. Die jungen Patienten leiden beispielweise an der unheilbaren Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose, an chronischen Leber- und Darmerkrankungen oder müssen zuhause künstlich beatmet werden. Gibt es Probleme rufen die meisten an, schreiben E-Mails oder kommen vorbei. Das soll sich künftig ändern:
"Das heißt, wenn die irgendwelche Fragen haben, dann müssen sie nicht zum Telefon greifen, mich umständlich anpiepsen lassen, ich habe keine Zeit zu diesem Zeitpunkt, sondern ich kann mit ihnen kommunizieren, tatsächlich online."
Das Prinzip ist ähnlich wie in den gängigen sozialen Medien, nur sind viel weniger daran beteiligt. Sobald sich ein Patient meldet, sieht das entweder die diensthabende Ambulanzschwester oder der zugangsberechtigte Kinderarzt. In akuten Fällen spricht der sich der Arzt den Patienten gleich an. Weniger dringliche Anfragen werden täglich beantwortet. Dabei geht Dr. Riethmüller online in direkten Kontakt mit dem Patienten oder mit den Eltern des Patienten. Falls notwendig können auch der Hausarzt oder andere Fachärzte virtuell hinzugezogen werden.
"Dann haben alle sozusagen das gleiche Informationsniveau."
Die Kommunikation findet auf der gesicherten Online-Plattform Social Medical Application Platform, kurz SMAP, statt. Entwickelt wurde das System von einem Tübinger Unternehmen. Die Plattform gilt unter datenschutzrechtlichen Kriterien als absolut sicher. Die Kommunikation findet verschlüsselt statt, das gilt auch für Befunde, die nur kurze Zeit auf einer virtuellen Pinnwand stehen. Nach einer gewissen Zeit werden die Daten gelöscht. Im Unterschied zur elektronischen Patientenakte dient die online-Plattform der Kommunikation und nicht dem Aufbewahren von Befunden etwa.
Eine kontinuierliche Therapieberatung
Das ist eins der wenigen Programme, die definitiv nicht von irgendwelchen auswärtigen Einheiten eingesehen werden kann, oder gespeichert werden kann.
Der Vorteil vor allem für chronisch kranke Patienten: die mitbehandelnden Ärzte außerhalb der Klinik können künftig eng in die Therapie eingebunden werden. Doppelte Untersuchungen werden vermieden. Untersuchungsergebnisse sind auf Bedarf sofort verfügbar, sofern Patient oder Klinikarzt den jeweils gewünschten mitbehandelnden Arzt in den Chat einladen. So hat auch der mitbehandelnde Arzt ein besseres Gefühl:
"Der fühlt sich einfacher wohler, weil er über den Patienten viel mehr weiß, er fühlt sich automatisch integriert. Und das ist genau das, was man braucht. Man hat ja bei chronisch kranken Patienten innerhalb des Klinikums natürlich ein Team, gar keine Frage, aber das Team ist begrenzt und hört dann hier unten an der Hauptstraße auf. Und das darf halt nicht sein. Das ist der Vorteil."
Sind es bislang Arztbriefe, die häufig erst Tage nach der Entlassung oder einem Besuch in der Klinikambulanz beim Hausarzt landen, funktioniert der Austausch im Chat in wenigen Minuten. Es wird nicht über den Patienten geredet, sondern mit ihm. Auch das ist ein Vorteil dieser Form der Kommunikation.
Die Bereitschaft seiner niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen beim virtuellen Sprechzimmer mitzumachen ist groß, meint der Tübinger Kinderarzt Riethmüller.
Das Land Baden-Württemberg stellt für das virtuelle Sprechzimmer-Modell rund 350.000 Euro zur Verfügung. In fast allen medizinischen Fachbereichen kommt mittlerweile die Telemedizin zum Einsatz.
Eine der großen Fragen ist dabei, ob das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient künftig auf der Strecke bleibt. Kinderarzt Riethmüller verneint das für sein Projekt. Die regelmäßigen persönlichen Sprechstundetermine finden nach wie vor statt, betont er.