Virtuose des Grauens
Für den Berliner Schriftsteller Tobias O. Meißner hat Edgar Allan Poe drei literarische Genres begründet: die moderne Horrorliteratur, die moderne Kriminalliteratur und die Short Story. Faszinierend sei an Poe, dass er nicht um der Unterhaltung willen schreibe, sondern seine "tatsächlichen Urängste" und eigen Dämonen verarbeite. Poes Geburtstag jährt sich heute zum 200. Mal.
Joachim Scholl: "Ich bete jeden Morgen zu Gott, zu meinem Vater und zu Edgar Allan Poe.", so hat der französische Lyriker Charles Baudelaire einmal seine Ehrfurcht vor dem amerikanischen Autor bezeugt, dessen 200. Geburtstag die literarische Welt heute feiert. Man hat ihn den Steven King des 19. Jahrhunderts genannt, einen "Virtuosen des Grauens", und mit letzterer Bezeichnung hat die neuere Kritik auch einen deutschen Autor etikettiert: Thomas O. Meißner, Jahrgang 1967. Mit Büchern wie "Starfish Rules" oder "Neverwake" ist er bekannt geworden. Mittlerweile hat er sich als Verfasser von außerordentlichen Fantasy-Romanen etabliert, zum Teil mit drastischem Horroreinschlag, wie etwa seine bislang zwei Bände "Hiobs Spiel" beweisen. Und ohne Edgar Allan Poe sei das alles nicht zu denken, sagt Tobias O. Meißner selbst, jetzt ist er im "Radiofeuilleton". Willkommen!
Tobias O. Meißner: Hallo!
Scholl: Herr Meißner, wann sind Sie das erste Mal auf das Werk von Edgar Allan Poe gestoßen?
Meißner: Im zarten Alter von 13 Jahren. Ich muss auch dazu sagen, dass Musik nicht ganz unschuldig ist, ich kannte halt auch dieses schöne Album "Tales of Mystery and Imagination" von Alan Parsons Project - jetzt hätte ich fast Edgar Allan Poe Project gesagt - und habe auch durch die Bebilderung dieses Albums das Bedürfnis verspürt, mal hinter die Kulissen der Texte zu schauen, die da eigentlich dahinterstecken, und habe mir von meinen Eltern halt eine Gesamtkollektion der Schriften Edgar Allan Poes gewünscht. Und das war die erste Gesamtkollektion eines Autors, die ich jemals besessen habe, und ich habe sie heute noch und halte sie in hohen Ehren.
Scholl: Wenn Sie sagen, Sie waren 13, dann war das das Jahr 1980, damals war eigentlich schon die moderne Form des Horrors à la Steven King längst weltweit verbreitet. Was hat Sie damals gerade an diesem Poe des 19. Jahrhunderts fasziniert?
Meißner: Ich habe bis zum heutigen Tag noch ein Problem mit modernerer Horrorliteratur, weil ich finde, dass die stilistische Schönheit der älteren Autoren - also ich bin zum Beispiel auch über Mary Shelley und Bram Stoker gegangen - einfach alles aus dem Feld schlägt, was heutzutage so an kurzen, knappen Abscheulichkeiten verfasst wird. Also ich versuche auch in meiner eigenen Literatur halt immer stilistisch etwas rauszuholen und nicht einfach nur einen Plot abzuarbeiten.
Scholl: Edgar Allan Poe ist zu seiner Zeit besonders durch seine kürzeren Schauer- und Gruselgeschichten bekannt geworden, "Das Pendel" könnte man nennen oder "Mord in der Rue Morgue", um nur zwei ganz bekannte zu nennen. Wie würden Sie denn jetzt diese literarische Form von Horror beschreiben, diesen Stil?
Meißner: Ja, es ist eine ganz interessante Gemengelage. Also Verlaine hat mal gesagt, "Dekadenz ist die Kunst, in Schönheit zu sterben". Und mit diesem Dekadenzbegriff hat für mich Edgar Allan Poe sehr viel zu tun. Also den frühen Tod seiner Mutter verarbeitend und dann auch den Schwindsuchtstod seiner sehr jungen Ehefrau Virginia, hat er halt immer wieder über sterbende, schöne, junge Frauen geschrieben, über das unzeitige Begraben-Werden, über Furcht davor, als Lebender zum Tode zurückzukehren und halt immer diese morbiden Themen abgearbeitet, vor denen auch er wirklich in der tiefsten Seelenpein Furcht hatte. Und das merkt man den Texten auch an, dass hier nicht jemand sich einfach nur irgendetwas ausdenkt, wie was wäre, wenn ein Werwolf in die Stadt kommen würde, sondern hier schreibt jemand über seine tatsächlichen Urängste. Und das fasziniert mich auch noch heute sehr an diesen Texten.
Scholl: Ernst Jünger, unser alter Krieger, hat den Stil einmal so beschrieben, indem er das Sparsame an Poe heraushob. Er hat gesagt: "Wir hören das Leitmotiv, noch ehe sich der Vorhang hebt, und wissen bei den ersten Takten, dass das Schauspiel bedrohlich wird." Herr Meißner, Sie haben uns was mitgebracht. Hören wir mal den Meister selbst mit einer kleinen Passage. Was haben Sie ausgewählt?
Meißner: Wobei ich das jetzt gar nicht als sparsamen Stil bezeichnen würde, aber um diese eigentümliche Metaphysik mal vielleicht darzustellen, habe ich eine ganz kurze Passage aus dem "Untergang des Hauses Usher" ausgewählt.
Scholl: Einer der bekanntesten Texte.
Meißner: Genau. Und da kann man sich einfach mal ganz kurz ein Bild machen, wie er stilistisch arbeitet.
"Ich sagte schon, dass mein ein wenig kindliches Beginnen, in den finsteren Spiegel des Teiches hinunterzublicken,- nur den Erfolg hatte, den ersten rätselhaften Eindruck, den mir das Ganze gemacht, zu verschärfen. Wahrscheinlich trug der Umstand, dass sich mein fast abergläubisches Erschrecken - weshalb soll ich es nicht so nennen - fortwährend und rasch steigerte, nicht wenig dazu bei, jenen verschärften Eindruck hervorzurufen. Dies ist, wie bekannt, das paradoxe Gesetz aller Gefühle, die in einer Furchtempfindung wurzeln. Und vielleicht die alleinige Ursache, dass sich meiner, als ich meine Blicke von dem Teiche wieder zu dem Schlosse erhob, ein seltsamer Wahn bemächtigte - ein so törichter Wahn, dass ich überhaupt nur von ihm rede, um die Heftigkeit meiner Empfindungen annähernd zu beschreiben. Meine Fantasie war so überreizt, dass ich wirklich zu sehen glaubte, wie das ganze Gebäude und seine nächste Umgebung in eine besondere, nur ihnen eigentümliche Atmosphäre gehüllt waren, eine Atmosphäre, die sich durchaus nicht mit der gewöhnlichen Himmelsluft zu vermischen schien, sondern von den verdorrenden Bäumen, den grauen Mauern und dem schweigenden Teiche aufstieg - wie ein giftiger, mystischer Hauch, bleifarben, trübe, schwer und doch kaum erkennbar."
Scholl: Zum 200. Geburtstag von Edgar Allan Poe, Tobias O. Meißner, der Fantasy-Autor hier im Deutschlandradio Kultur. Herr Meißner, Jules Verne, Baudelaire, Arthur Conan Doyle, man könnte diese Liste beliebig verlängern von Poe-Verehreren. Alle sagen, er war unser Meister, unser Lehrer - was haben Sie von ihm, von diesem Mann aus Baltimore gelernt?
Meißner: Also ich sehe ihn auch am Beginn möglicherweise gleich drei verschiedener Traditionen, sowohl der moderneren Horrorliteratur, die sich von der größeren Epik der Gothic Novels abhebt, dann der moderneren Kriminalliteratur, weil wie gesagt, Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes ganz eng an der Figur Auguste Dupins entlangbewegt hat, die halt Edgar Allan Poe entworfen hat, und als Drittes halt noch als Vater der modernen Short Story, weil tatsächlich hat Poe nur einen einzigen längeren Roman in seinem Leben verfasst. Alles, was man von ihm so richtig gut kennt, sind Short Stories, und zwar in meisterhafter Vollendung.
Scholl: Wo sehen Sie heute noch im Umkreis auch vielleicht Ihrer Literatur seine Wirkung? Gibt es die?
Meißner: Ich selbst werde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens beeinflusst sein von der Kunst halt, alles, was an inhaltlichen Geschehnissen in einer Geschichte passiert, in eine düstere, morbide und auch moribunde Welt sich zu kleiden. Das finde ich sehr faszinierend. Das hat nichts mehr von "hier schreibt jemand, um dem Publikum einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen", sondern hier schreibt jemand aus existenzieller Furcht und Angst heraus, um sich aus einer Ecke zu befreien, in die das Leben und das Schicksal ihn gedrängt haben. Und das finde ich immer in jeglicher Form sehr bewundernswert, wenn jemand quasi über seine Dämonen schreibt und nicht nur, um jemandem, einem Verleger einen Gefallen zu tun. Und das war bei Poe ja auch ein Problem, er hat Zeit seines Lebens wirklich nicht gut Geld verdient.
Scholl: Er war trotzdem berühmt. Er hat nicht viel Geld verdient mit den Zeitungsgeschichten, aber man hat sie verschlungen in den Zeitungen. Es war eigentlich eine perfekte Verbindung, also zwischen literarischer Kunst und auch großer Unterhaltung. Merkwürdigerweise hat sich das nicht gehalten, also die Poe-Stapel in unseren Buchhandlungen, die sucht man vergebens. Eigentlich merkwürdig?
Meißner: Das hat sicherlich was mit diesem etwas antiquierten Stil zu tun, ich habe es ja gerade in dem kurzen Textausschnitt mal demonstriert. So kann man natürlich heute nicht mehr schreiben. Und das Publikum von heute erwartet auch eine knappere, kürzere, präzisere Beschreibung von Dingen. Aber dadurch, dass die Prosa ja schon fast in Lyrik übergeht, hat das natürlich für Leute, die vielleicht auch selber schreiben oder sich ein bisschen mehr befassen wollen mit, wie Literatur funktioniert halt, einen besonderen Reiz. Und ich persönlich mag diese alten Autoren viel mehr als die modernen.
Scholl: Zu jedem Geburtstag liegen seit über 100 Jahren auf dem Grab von Poe auf dem Westminster-Friedhof in Baltimore drei rote Rosen und eine Flasche Cognac, eine Anspielung auf seine doch ja fatale Sucht, niedergelegt von Unbekannten. Sie waren das nicht, Herr Meißner, oder?
Meißner: Ich war das nicht, weil ich mir das nicht leisten könnte, jedes Jahr dorthin zu reisen.
Scholl: Hören wir noch eine zweite Poe-Stelle, eine schöne, Tobias O. Meißner, die Sie uns mitgebracht haben?
Meißner: Ja, um die Bandbreite einfach mal kurz zu umreißen: Was ich in dem ersten Textabschnitt demonstriert hatte, war eben dieser metaphysische, mystische, nebelhafte Stil. Ich finde, Poe ist allerdings auch schon ein Vorläufer des sehr drastischen Darstellens von kriminalistischen Vorgängen, wie es heutzutage Gang und Gäbe ist bei dieser ganzen Seziererei und Gerichtsmediziner-Thriller-Epoche, in der wir uns momentan befinden. Ein kurzer Ausschnitt aus "Der Mord in der Spitalsgasse", wie es in meiner Edition hier heißt, also "Morde in der Rue Morgue".
"Das Zimmer war in der wildesten Unordnung: die Möbel zertrümmert und nach allen Seiten umhergeworfen. Von Madame L'Espanaye war keine Spur zu entdecken, aber da man auf dem Kamin eine ungewöhnliche Menge Ruß bemerkte, forschte man im Kaminrohr nach und zog - es ist grauenhaft, nur daran zu denken - den Leichnam der Tochter aus ihm hervor, der mit dem Kopfe nach unten ziemlich hoch in den engen Schlot hinaufgezwängt worden war. Der Körper war noch ganz warm. Bei der Untersuchung entdeckte man zahlreiche Hautabschürfungen, die ohne Zweifel durch die Heftigkeit, mit welcher man den Leichnam hinaufgeschoben und wieder herausgezogen hatte, verursacht worden waren. Das Gesicht wies viele schwere Kratzwunden auf, und an der Kehle waren tiefe Fingerabdrücke und dunkle Quetschungen zu sehen, als sei die Tote erwürgt worden. Nachdem man alle Teile des Hauses auf das Gründlichste untersucht hatte, ohne Näheres zu entdecken, begaben sich die Leute in einen gepflasterten Hof an der Rückseite des Hauses. Hier fand man den Körper der alten Dame mit so vollständig durchschnittenem Halse, dass der Kopf, bei dem Versuch, die Leiche aufzurichten, abfiel. Der Körper sowohl wie der Kopf waren auf das grässlichste verstümmelt, letzterer in einer Weise, dass er kaum noch etwas Menschlichem ähnlich sah."
Zitat Ende. Das erinnert mich zum Beispiel auch schon sehr an die Taten eines Jack the Ripper, die erst 50 Jahre später sich ereignet haben. Das hat Edgar Allan Poe quasi schon vorweggenommen, diese Grausamkeit.
Tobias O. Meißner: Hallo!
Scholl: Herr Meißner, wann sind Sie das erste Mal auf das Werk von Edgar Allan Poe gestoßen?
Meißner: Im zarten Alter von 13 Jahren. Ich muss auch dazu sagen, dass Musik nicht ganz unschuldig ist, ich kannte halt auch dieses schöne Album "Tales of Mystery and Imagination" von Alan Parsons Project - jetzt hätte ich fast Edgar Allan Poe Project gesagt - und habe auch durch die Bebilderung dieses Albums das Bedürfnis verspürt, mal hinter die Kulissen der Texte zu schauen, die da eigentlich dahinterstecken, und habe mir von meinen Eltern halt eine Gesamtkollektion der Schriften Edgar Allan Poes gewünscht. Und das war die erste Gesamtkollektion eines Autors, die ich jemals besessen habe, und ich habe sie heute noch und halte sie in hohen Ehren.
Scholl: Wenn Sie sagen, Sie waren 13, dann war das das Jahr 1980, damals war eigentlich schon die moderne Form des Horrors à la Steven King längst weltweit verbreitet. Was hat Sie damals gerade an diesem Poe des 19. Jahrhunderts fasziniert?
Meißner: Ich habe bis zum heutigen Tag noch ein Problem mit modernerer Horrorliteratur, weil ich finde, dass die stilistische Schönheit der älteren Autoren - also ich bin zum Beispiel auch über Mary Shelley und Bram Stoker gegangen - einfach alles aus dem Feld schlägt, was heutzutage so an kurzen, knappen Abscheulichkeiten verfasst wird. Also ich versuche auch in meiner eigenen Literatur halt immer stilistisch etwas rauszuholen und nicht einfach nur einen Plot abzuarbeiten.
Scholl: Edgar Allan Poe ist zu seiner Zeit besonders durch seine kürzeren Schauer- und Gruselgeschichten bekannt geworden, "Das Pendel" könnte man nennen oder "Mord in der Rue Morgue", um nur zwei ganz bekannte zu nennen. Wie würden Sie denn jetzt diese literarische Form von Horror beschreiben, diesen Stil?
Meißner: Ja, es ist eine ganz interessante Gemengelage. Also Verlaine hat mal gesagt, "Dekadenz ist die Kunst, in Schönheit zu sterben". Und mit diesem Dekadenzbegriff hat für mich Edgar Allan Poe sehr viel zu tun. Also den frühen Tod seiner Mutter verarbeitend und dann auch den Schwindsuchtstod seiner sehr jungen Ehefrau Virginia, hat er halt immer wieder über sterbende, schöne, junge Frauen geschrieben, über das unzeitige Begraben-Werden, über Furcht davor, als Lebender zum Tode zurückzukehren und halt immer diese morbiden Themen abgearbeitet, vor denen auch er wirklich in der tiefsten Seelenpein Furcht hatte. Und das merkt man den Texten auch an, dass hier nicht jemand sich einfach nur irgendetwas ausdenkt, wie was wäre, wenn ein Werwolf in die Stadt kommen würde, sondern hier schreibt jemand über seine tatsächlichen Urängste. Und das fasziniert mich auch noch heute sehr an diesen Texten.
Scholl: Ernst Jünger, unser alter Krieger, hat den Stil einmal so beschrieben, indem er das Sparsame an Poe heraushob. Er hat gesagt: "Wir hören das Leitmotiv, noch ehe sich der Vorhang hebt, und wissen bei den ersten Takten, dass das Schauspiel bedrohlich wird." Herr Meißner, Sie haben uns was mitgebracht. Hören wir mal den Meister selbst mit einer kleinen Passage. Was haben Sie ausgewählt?
Meißner: Wobei ich das jetzt gar nicht als sparsamen Stil bezeichnen würde, aber um diese eigentümliche Metaphysik mal vielleicht darzustellen, habe ich eine ganz kurze Passage aus dem "Untergang des Hauses Usher" ausgewählt.
Scholl: Einer der bekanntesten Texte.
Meißner: Genau. Und da kann man sich einfach mal ganz kurz ein Bild machen, wie er stilistisch arbeitet.
"Ich sagte schon, dass mein ein wenig kindliches Beginnen, in den finsteren Spiegel des Teiches hinunterzublicken,- nur den Erfolg hatte, den ersten rätselhaften Eindruck, den mir das Ganze gemacht, zu verschärfen. Wahrscheinlich trug der Umstand, dass sich mein fast abergläubisches Erschrecken - weshalb soll ich es nicht so nennen - fortwährend und rasch steigerte, nicht wenig dazu bei, jenen verschärften Eindruck hervorzurufen. Dies ist, wie bekannt, das paradoxe Gesetz aller Gefühle, die in einer Furchtempfindung wurzeln. Und vielleicht die alleinige Ursache, dass sich meiner, als ich meine Blicke von dem Teiche wieder zu dem Schlosse erhob, ein seltsamer Wahn bemächtigte - ein so törichter Wahn, dass ich überhaupt nur von ihm rede, um die Heftigkeit meiner Empfindungen annähernd zu beschreiben. Meine Fantasie war so überreizt, dass ich wirklich zu sehen glaubte, wie das ganze Gebäude und seine nächste Umgebung in eine besondere, nur ihnen eigentümliche Atmosphäre gehüllt waren, eine Atmosphäre, die sich durchaus nicht mit der gewöhnlichen Himmelsluft zu vermischen schien, sondern von den verdorrenden Bäumen, den grauen Mauern und dem schweigenden Teiche aufstieg - wie ein giftiger, mystischer Hauch, bleifarben, trübe, schwer und doch kaum erkennbar."
Scholl: Zum 200. Geburtstag von Edgar Allan Poe, Tobias O. Meißner, der Fantasy-Autor hier im Deutschlandradio Kultur. Herr Meißner, Jules Verne, Baudelaire, Arthur Conan Doyle, man könnte diese Liste beliebig verlängern von Poe-Verehreren. Alle sagen, er war unser Meister, unser Lehrer - was haben Sie von ihm, von diesem Mann aus Baltimore gelernt?
Meißner: Also ich sehe ihn auch am Beginn möglicherweise gleich drei verschiedener Traditionen, sowohl der moderneren Horrorliteratur, die sich von der größeren Epik der Gothic Novels abhebt, dann der moderneren Kriminalliteratur, weil wie gesagt, Arthur Conan Doyle seinen Sherlock Holmes ganz eng an der Figur Auguste Dupins entlangbewegt hat, die halt Edgar Allan Poe entworfen hat, und als Drittes halt noch als Vater der modernen Short Story, weil tatsächlich hat Poe nur einen einzigen längeren Roman in seinem Leben verfasst. Alles, was man von ihm so richtig gut kennt, sind Short Stories, und zwar in meisterhafter Vollendung.
Scholl: Wo sehen Sie heute noch im Umkreis auch vielleicht Ihrer Literatur seine Wirkung? Gibt es die?
Meißner: Ich selbst werde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens beeinflusst sein von der Kunst halt, alles, was an inhaltlichen Geschehnissen in einer Geschichte passiert, in eine düstere, morbide und auch moribunde Welt sich zu kleiden. Das finde ich sehr faszinierend. Das hat nichts mehr von "hier schreibt jemand, um dem Publikum einen wohligen Schauer über den Rücken zu jagen", sondern hier schreibt jemand aus existenzieller Furcht und Angst heraus, um sich aus einer Ecke zu befreien, in die das Leben und das Schicksal ihn gedrängt haben. Und das finde ich immer in jeglicher Form sehr bewundernswert, wenn jemand quasi über seine Dämonen schreibt und nicht nur, um jemandem, einem Verleger einen Gefallen zu tun. Und das war bei Poe ja auch ein Problem, er hat Zeit seines Lebens wirklich nicht gut Geld verdient.
Scholl: Er war trotzdem berühmt. Er hat nicht viel Geld verdient mit den Zeitungsgeschichten, aber man hat sie verschlungen in den Zeitungen. Es war eigentlich eine perfekte Verbindung, also zwischen literarischer Kunst und auch großer Unterhaltung. Merkwürdigerweise hat sich das nicht gehalten, also die Poe-Stapel in unseren Buchhandlungen, die sucht man vergebens. Eigentlich merkwürdig?
Meißner: Das hat sicherlich was mit diesem etwas antiquierten Stil zu tun, ich habe es ja gerade in dem kurzen Textausschnitt mal demonstriert. So kann man natürlich heute nicht mehr schreiben. Und das Publikum von heute erwartet auch eine knappere, kürzere, präzisere Beschreibung von Dingen. Aber dadurch, dass die Prosa ja schon fast in Lyrik übergeht, hat das natürlich für Leute, die vielleicht auch selber schreiben oder sich ein bisschen mehr befassen wollen mit, wie Literatur funktioniert halt, einen besonderen Reiz. Und ich persönlich mag diese alten Autoren viel mehr als die modernen.
Scholl: Zu jedem Geburtstag liegen seit über 100 Jahren auf dem Grab von Poe auf dem Westminster-Friedhof in Baltimore drei rote Rosen und eine Flasche Cognac, eine Anspielung auf seine doch ja fatale Sucht, niedergelegt von Unbekannten. Sie waren das nicht, Herr Meißner, oder?
Meißner: Ich war das nicht, weil ich mir das nicht leisten könnte, jedes Jahr dorthin zu reisen.
Scholl: Hören wir noch eine zweite Poe-Stelle, eine schöne, Tobias O. Meißner, die Sie uns mitgebracht haben?
Meißner: Ja, um die Bandbreite einfach mal kurz zu umreißen: Was ich in dem ersten Textabschnitt demonstriert hatte, war eben dieser metaphysische, mystische, nebelhafte Stil. Ich finde, Poe ist allerdings auch schon ein Vorläufer des sehr drastischen Darstellens von kriminalistischen Vorgängen, wie es heutzutage Gang und Gäbe ist bei dieser ganzen Seziererei und Gerichtsmediziner-Thriller-Epoche, in der wir uns momentan befinden. Ein kurzer Ausschnitt aus "Der Mord in der Spitalsgasse", wie es in meiner Edition hier heißt, also "Morde in der Rue Morgue".
"Das Zimmer war in der wildesten Unordnung: die Möbel zertrümmert und nach allen Seiten umhergeworfen. Von Madame L'Espanaye war keine Spur zu entdecken, aber da man auf dem Kamin eine ungewöhnliche Menge Ruß bemerkte, forschte man im Kaminrohr nach und zog - es ist grauenhaft, nur daran zu denken - den Leichnam der Tochter aus ihm hervor, der mit dem Kopfe nach unten ziemlich hoch in den engen Schlot hinaufgezwängt worden war. Der Körper war noch ganz warm. Bei der Untersuchung entdeckte man zahlreiche Hautabschürfungen, die ohne Zweifel durch die Heftigkeit, mit welcher man den Leichnam hinaufgeschoben und wieder herausgezogen hatte, verursacht worden waren. Das Gesicht wies viele schwere Kratzwunden auf, und an der Kehle waren tiefe Fingerabdrücke und dunkle Quetschungen zu sehen, als sei die Tote erwürgt worden. Nachdem man alle Teile des Hauses auf das Gründlichste untersucht hatte, ohne Näheres zu entdecken, begaben sich die Leute in einen gepflasterten Hof an der Rückseite des Hauses. Hier fand man den Körper der alten Dame mit so vollständig durchschnittenem Halse, dass der Kopf, bei dem Versuch, die Leiche aufzurichten, abfiel. Der Körper sowohl wie der Kopf waren auf das grässlichste verstümmelt, letzterer in einer Weise, dass er kaum noch etwas Menschlichem ähnlich sah."
Zitat Ende. Das erinnert mich zum Beispiel auch schon sehr an die Taten eines Jack the Ripper, die erst 50 Jahre später sich ereignet haben. Das hat Edgar Allan Poe quasi schon vorweggenommen, diese Grausamkeit.