Visionäre Theaterrebellen

18.01.2012
In "Tschechow oder Die Geburt des modernen Theaters" veröffentlicht der Herausgeber Dieter Hoffmeier erstmals Wladimir Nemirowitsch-Dantschenkos Memoiren in einer modernen deutschen Übersetzung. Die Tschechow-Passagen des selbstbewussten Intendanten kombiniert er mit Erinnerungen von dessen Mitstreiter Konstantin Stanislawski.
Anton Tschechows Drama "Die Möwe" ist ein Lieblingsklassiker des Regietheaters, doch bei der Premiere am Kaiserlichen Theater in St. Petersburg 1896 fiel das zarte Gespinst mit Pauken und Trompeten durch. Tschechow nahm den Flop als schwere Kränkung. Sein Kollege, der Schriftsteller, Regisseur und Schauspielpädagoge Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko, als feurigen Ansporn für ein neues Theater.

Es sollte mit den Marotten der zaristischen Theaterstars Schluss machen, denn nur ein psychologisch überzeugendes Bühnenerlebnis konnte der "Möwe", dieser Geschichte scheiternder Fluchten aus der provinziellen Enge, zu ihrer wahren poetischen Wirksamkeit verhelfen. So die Vision des Theaterrebellen, die er durch präzise Schauspielerleistungen und durchdachte Regiekonzeptionen verwirklichen wollte.

Der Rest ist Jahrhundertgeschichte. Nach Tschechows Tod avancierte der Stil des Moskauer Theaters selbst nach der kommunistischen Revolution zum kulturellen Exportschlager. Vor allem die Schriften von Nemirowitsch-Dantschenkos charismatischem Kompagnon und Co-Regisseur Konstantin Stanislawski beschäftigen noch heute Schauspielschüler in aller Welt.

Das Buch "Tschechow oder Die Geburt des modernen Theaters" des Stanislawski-Forschers Dieter Hoffmeier lässt diese große Geschichte beiseite und konzentriert sich ganz auf die Magie der Entstehungszeit, das Wagnis des gemeinsamen Experiments. Es veröffentlicht Wladimir Nemirowitsch-Dantschenkos Memoiren, soweit sie um Anton Tschechow und seine Schlüsselrolle für das Moskauer Künstlerische Theater kreisen, erstmals in einer modernen, mit hilfreichen Namenserläuterungen versehenen deutschen Übersetzung.

"Verliebt" war der Moskauer Theatermann in den charismatischen Tschechow, sein junges Ensemble und ein bisschen auch in sich selbst, wenn er seine Ausdauer im Werben um Sponsoren unter den neureichen Kaufleuten der Metropole schildert. Schwärmerei, Melancholie und eine Stimmung des künstlerischen Aufbruchs teilen sich in seinem humorvollen Gruppenbild mit. Auch die Inszenierungstalente von Konstantin Stanislawski, die erst den Gehalt und die Tiefe von Tschechows Theaterstücken entfalteten, werden von Nemirowitsch-Dantschenkos süffisanter Zuneigung portraitiert.

Dieter Hoffmeiers Buch stellt den Tschechow-Passagen des selbstbewussten Intendanten Nemirowitsch-Dantschenko zusätzliche Kapitel aus den Erinnerungen Stanislawskis gegenüber. Die anfänglich größere Distanz des Fabrikanten, Amateurschauspielers und genialischen Theatervisionärs Stanislawski zu Anton Tschechow färbt auf seine Anekdoten ab. Im Mittelpunkt stehen das Ensemble und seine Kämpfe mit der Kälte, dem Lampenfieber und den Launen des Publikums. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln ergänzen sich die beiden Geschichten zu Bildern des kreativen Milieus, aus dem das Moskauer Künstlertheater bis zu Tschechows frühem Tod 1904 seine Inspiration schöpfte.

Besprochen von Claudia Lenssen

Wladimir Nemirowitsch-Dantschenko und Konstantin Stanislawski: Tschechow oder Die Geburt des modernen Theaters
Übersetzt und herausgegeben von Dieter Hoffmeier
Alexander Verlag, Berlin 2011
360 Seiten, 24,99 Euro
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