Simon Peng-Keller: Sinnereignisse in Todesnähe. Traum- und Wachvisionen Sterbender und Nahtoderfahrungen im Horizont von Spiritual Care
De Gruyter-Verlag, Berlin/Boston 2017
188 Seiten, 79,95 Euro
Tröstende Begegnungen im Traum
13:57 Minuten
Sterbende haben häufig Träume oder Visionen. Diese sollte man nicht als krankhaft abtun, sondern als wichtige Erfahrung aufgreifen, sagt Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care in Zürich. Angehörige könnten darüber gute Gespräche führen.
Anne Françoise Weber: Es ist nicht einfach, Menschen am Lebensende gut zu begleiten. Das gilt jetzt in Zeiten von Ausgangsbeschränkungen, verordneter Distanz und einem stark belasteten Gesundheitssystem noch mal mehr. Umso wichtiger, sich damit zu beschäftigen, was Sterbende erleben. Dabei spielen, glaubt man neueren Forschungen, Traumbilder eine wichtige Rolle. Welche Motive sie enthalten und vor allem wie Pfleger, Seelsorgerinnen und Angehörige damit umgehen können, das hat Simon Peng-Keller erforscht. Er ist katholischer Seelsorger und Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich.
Visionen sind intensive Träume
Herr Peng-Keller, Visionen ist ja ein schwieriges Wort, Traumbilder das lässt uns immer gleich an Schlaf denken. Was ist es denn, was Sterbende da häufiger erleben, und in welchem Zustand kommt das zu ihnen? Sind sie da wach oder schlafend?
Simon Peng-Keller: Es gibt beide Möglichkeiten, Erfahrungen, die in einem Schlafzustand gegeben werden und solche, die in einem Wachzustand sich ereignen. Es ist auch wichtig, dass man die Dinge zusammenhält: Träume und Visionen sind zwei Phänomene, die zusammengehören und die man auf einem Spektrum anordnen kann. Also das eine ist die Intensivform des anderen, Visionen sind Intensivformen von traumartigen Erfahrungen, die wir ständig machen.
Der visionäre Charakter besteht darin, dass das Erlebte einfach noch mal mit einem stärkeren Gefühl von Wirklichkeit verbunden ist, also die Bilder sind einfach intensiver, emotional gefüllter. Das ist so, wie wir es im Alltag erleben, die Realität, beziehungsweise noch mal intensiver, während sozusagen gewöhnliche Träume, einen abgeschwächten Realitätsgehalt haben - sie zerfallen, wenn wir aus ihnen aufwachen.
Viele Sterbende träumen in Todesnähe
Weber: Und es ist nun tatsächlich so, dass Sterbende also häufiger solche visionären Erfahrungen oder Träume haben? Kann man das überhaupt messen?
Peng-Keller: Ja, das kann man, und da hat es in den letzten Jahren eine Reihe von interessanten Forschungsprojekten gegeben, die genau das untersucht haben: Treten diese Formen von intensiven Träumen häufiger auf in Todesnähe? Und die Antwort ist ganz klar ja.
Es gibt eine Studie, die in der Nähe von York durchgeführt wurde in einem Hospiz, wo man Patientinnen und Patienten täglich nach diesen Erfahrungen befragt hat - es waren 60 Patientinnen und Patienten -, und am Ende ist herausgekommen, dass fast alle, 88 Prozent der Befragten, mindestens einmal von einer solchen Erfahrung berichteten. Erstaunlich ist, dass es offenbar zur Normalerfahrung des Sterbens gehört, solche Erfahrungen zu machen.
Wiedererleben bewegender Ereignisse
Weber: Und kann man denn sagen, ob diese Erfahrungen grundsätzlich tröstend sind, ob sie etwas aus dem Leben positiv aufgreifen, oder kann das auch eine ganz schreckliche Erfahrung sein, die die Menschen zusätzlich belastet?
Peng-Keller: Diese Frage wurde auch untersucht in diesem Forschungsprojekt, auch in anderen, und die gute Botschaft ist, dass die meisten dieser Erfahrungen positiv erlebt werden. Es gibt schon auch solche, die belastende Aspekte haben, es gibt so ein paar Grundtypen von Erfahrung, die da auftreten.
Ein Grundtyp ist das Wiedererleben von intensiven Lebensereignissen, und diese Lebensereignisse können positiven Charakter haben, aber auch belastende Ereignisse sein. Da gibt es schon ein gewisses Spektrum, was eher tröstlich oder eher belastend ist, aber die Tendenz ist ganz klar: Diese Erfahrungen werden in den überwiegenden Fällen als positiv erlebt, als tröstlich.
Weber: Und da gibt es wahrscheinlich auch neurologische Erklärungen dafür, so wie es für Schlafträume auch neurologische Erklärungen gibt. Tendieren Sie als Theologe eher zu theologischen Erklärungen?
Peng-Keller: Als Theologen erklären wir die Phänomene gar nicht. Es sind keine Alternativen. Also, natürlich findet auf der neurologischen Ebene etwas statt, wobei das bei Sterbenden gar nicht wirklich zu untersuchen ist. Also, neurologisch ist das irgendwie schwierig, wie überhaupt Forschung an sterbenden Menschen schwierig ist, auch ethisch problematisch.
Schlüssel für spirituelle Begleitung
Der andere Punkt ist, dass es ja auch bei Träumen so ist, dass man sich entscheiden muss: Gehe ich jetzt auf die Erklärungsebene, also stelle ich die Frage, wieso träumen wir überhaupt? Da ist die Forschung gar nicht so weit, würde ich sagen. Es gibt nicht eine einheitliche Theorie. Und eine ganz andere Ebene, die mich als Theologe interessiert, ist die Deutungsebene, und das ist bei den Träumen ganz analog. Also die Frage, was bedeutet ein Traum für die Person, die es erlebt, die diesen Traum hat.
Dieselbe Frage kann man auch bei diesen visionären Erfahrungen am Lebensende stellen, und die finde ich viel interessanter als die Erklärungsfrage, die man natürlich stellen darf und auch soll. Man bekommt andere Antworten. Die Frage, was diese Erfahrung bedeutet für eine Person, führt eigentlich direkt auch zur Frage von spiritueller Begleitung. Was können die Begleitpersonen da unterstützend Gutes tun? Wie kann man diese Erfahrungen in respektvoller Weise entgegennehmen, unterstützen, begleiten?
Weber: Und das ist jetzt genau die Frage, die ich Ihnen gerne stellen würde: Sie sind ja Professor für Spiritual Care, und Sie begleiten auch angehende Seelsorger, Seelsorgerinnen, aber auch angehende Mediziner, Medizinerinnen genau in einer Ausbildung dafür. Wie kann man sterbende Menschen begleiten, und was sagen Sie denen? Wie können sie mit solchen Traumbildern, die die Sterbenden vielleicht dann noch erzählen, umgehen?
Peng-Keller: Man kann die Frage sozusagen negativ beantworten und sagen, was man nicht tun sollte, nämlich diese Erfahrungen nicht pathologisieren. Das wird leider nach wie vor häufig gemacht, weil man sie verwechselt mit einem deliranten Zustand. Die Forschung, die es dazu gibt, zeigt auch, dass Patienten Scheu haben, davon zu sprechen, weil sie genau Angst haben und das vielleicht auch erfahren haben, dass sie pathologisiert werden.
Träume ansprechen und wertschätzen
Dieses Problem gibt es nach wie vor, dass dieses Phänomen einfach zu wenig bekannt ist, dass man nicht weiß, dass es sich dabei um Ressourcen handelt, die man nicht bekämpfen muss, sondern bestärken sollte. Das eine ist, sie wertschätzend zu behandeln, also Patienten, die davon erzählen von sich aus, nicht brüskieren mit irgendwie negativen oder pathologisierenden Äußerungen, sondern wertschätzend, bestärkend darauf zu reagieren.
Der zweite Zugang oder der zweite Schritt ist auch, aktiv Patientinnen und Patienten darauf anzusprechen. Also wenn es sich dann ergibt oder der Rahmen dafür da ist, Menschen einladen, davon zu erzählen von diesen Erfahrungen, und zwar in der Haltung, dass man weiß, dass es solche Erfahrungen gibt und dass sie auch hilfreich und wichtig sein können im Prozess der Vorbereitung auf das Sterben. Eine validierende Haltung ist da entscheidend. Man muss sie nicht deuten.
Weber: Wäre das denn auch ein Ratschlag, den Sie Angehörigen geben würden, oder würden Sie sagen: Da ist man lieber ein bisschen zurückhaltend, weil man nicht diese professionelle Haltung dazu haben kann und der Person ganz anders verbunden ist und es dabei vielleicht dann auch noch mal schwieriger ist, über soetwas zu reden?
Peng-Keller: Ganz im Gegenteil. Die Angehörigen sind auch ein Teil von Spiritual Care, wenn sie offen sind für diese Dimensionen. Es kann zu ganz berührenden, dichten Momenten kommen, wenn Menschen davon berichten können. Häufig geht es in diesen Erfahrungen selbst um die Beziehung zu Angehörigen, die verstorben sind.
Wichtige Beziehungen kommen zur Sprache
Es sind sozusagen Erfahrungen, die häufig mit diesen Nahbeziehungen ohnehin in einem Verhältnis stehen. Sie sind dann nicht nur tröstlich für die unmittelbar betroffenen Personen, sondern auch für ihr Umfeld. Da würde ich Angehörige sehr stark einladen, also auf diese Phänomene zu achten einerseits, und wenn sie die Möglichkeit haben, auch diskret Menschen darauf anzusprechen.
Weber: Aber dann nicht deutend zu sagen: Dir ist Großmutter erschienen, weil sie sich zu dir holen will, sondern vielleicht einfach nachzufragen. Wie sah sie denn aus, Großmutter, oder was hat sie denn da genau gesagt, oder an was erinnerst du dich denn aus deinen Begegnungen mit Großmutter? Wäre das der richtige Ansatz?
Peng-Keller: Ganz genau, also wertschätzend nachzufragen, interessiert, irgendwie auch vielleicht die eigene Berührtheit zu spiegeln. So, dass die Person merkt, dass sie hier etwas Wertvolles erlebt. Das merkt sie ohnehin, aber dass das auch noch mal sozial verwirklicht und gestärkt wird.
Ein offenes Ohr für Ängste ist wichtig
Das ist natürlich einfacher bei Erfahrungen, die rundum positiv sind und von den Sterbenden auch spontan so erlebt werden, als bei Erfahrungen, die auch einen Dissonanzmoment drinhaben, vielleicht eine Frage damit verbunden ist. Ein Themenfeld betrifft unerledigte Aufgaben. Das beunruhigt natürlich auch, wenn da irgendwo in diesem Erleben etwas signalisiert wird, was noch zu tun ist oder noch zu klären ist. Aber gerade da ist es wichtig, dass Menschen da sind, die ein offenes Ohr haben und die Person begleiten.
Weber: Nun habe ich schon am Anfang gesagt, in Zeiten von Corona steht das Pflegepersonal ja unter besonderem Druck und auch Angehörige und Seelsorger, Seelsorgerinnen können die Kranken nur eingeschränkt, wenn überhaupt, besuchen. Gibt es denn in dieser Situation einen Ratschlag, den Sie auf diesen Umgang mit Traumbildern hin geben könnten?
Peng-Keller: Man muss sicher unterscheiden, ob der klinische Kontext der einer Intensivstation ist, wo einfach anderes dringlicher ist, wo Patientinnen und Patienten häufig auch gar nicht mehr bei Bewusstsein sind. Es gibt auch in Zeiten von Corona sehr viele Patienten, die auf anderen Stationen sterben oder in einem Hospiz sterben, die wollen auch in diesen Zeiten genauso gut begleitet und betreut werden wie diese intensiv-medizinisch behandelten Patienten.
Koma-Patienten haben eher verstörende Visionen
Da gibt es auch noch andere Phänomene, die zu beachten sind. Es gibt bei diesen Erlebnissen in Todesnähe, bei diesen visionären Erlebnissen, unterschiedliche Typen. Und für komatöse Patienten gibt es sozusagen eine andere Erlebnisform, die häufig auftritt. Ich vermute, dass Menschen, die jetzt auf einer Covid-Intensivstation eine Zeit lang behandelt werden und es dann überleben, vermutlich diese Art von visionären Erlebnissen mitbringen. Der Name dafür heißt oneiroide Erlebnisse.
Das ist anders als diese Träume von Sterbenden, viel komplexer. Typisch für dieses visionäre Erleben im Sterbeprozess ist, dass es häufig sehr einfache Bilder sind, also ganz schlichte Motive, während das, was komatöse Patienten auf der Intensivstation manchmal erleben, viel komplexere Erzählungen, viel komplexere Geschichten sind, die dann an einem gewissen Punkt abbrechen.
Es sind unvollständige Geschichten, und es sind Geschichten, die Elemente aus der klinischen Welt mit integrieren auf häufig verstörende Art und Weise. Also Menschen, die solche Erfahrungen gemacht haben, die sind im Nachhinein verwirrt, was sie da erlebt haben, weil sie es mit der Realität nicht ganz in Verbindung bringen können.
Pflegende sollten um diese Erfahrungen wissen
Weber: Was in beiden Fällen, also bei Sterbenden auf Palliativstation und vielleicht auch bei Menschen auf der Intensivstation, die aufwachen, das Gleiche sein könnte, ist, dass die Angehörigen sie nicht persönlich besuchen können, sondern höchstens mal telefonieren können. Würden Sie dazu raten, auch am Telefon solche Themen anzusprechen?
Peng-Keller: Ich würde es wenigstens nicht von vornherein ausschließen. Wir bewegen uns bei dieser Thematik in einem Feld, wo es um eine sehr individualisierte Art und Weise der Kommunikation geht, wo so allgemeine Regeln nicht unbedingt gegeben werden können und umso weniger in der aktuellen Situation, wo alles gerade im Fluss ist, auch was das Organisatorische angeht.
Ich finde, grundsätzlich ist es gut, wenn man sich in diesem Feld bewegt, dass man offen ist, dass man um diese Erfahrungen weiß. Vielleicht gibt es Hinweise darauf, dass jemand so etwas erlebt hat, und vielleicht gibt es einfach aus dem Gespräch heraus die Möglichkeit, so eine Frage zu stellen. Ich würde es in jedem Fall denken, das ist gut, das auf dem Schirm zu behalten.
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