Visualisierung der Wahrnehmung
Als vor knapp 100 Jahren das EEG erfunden wurde, konnte noch niemand ahnen, welche Folgen das für die Hirnforschung haben würde. Heute, nach der Entdeckung von Spiegelneuronen, stellt sich für manche Forscher die Frage, wie viel Einfluss unser Bewusstsein tatsächlich auf unser Handeln hat und ob so was wie ein freier Wille nicht nur eine Illusion ist. Ganz abgesehen davon ist immer noch die Frage offen, was Bewusstsein überhaupt ist.
"Dunkelkammer der Psychiatrischen Klinik in Jena. Doppeltüren schließen den Raum schalldicht von der Umwelt ab. Eine bahnbrechende Entdeckung soll ausprobiert werden, die Professor Dr. Hans Berger gelungen ist. Es handelt sich um die Aufzeichnung der Gedanken in Gestalt einer Zickzack-Kurve, um die elektrische Schrift des Menschenhirns."
Bereits seit 1900 arbeitete Hans Berger an der grafischen Erfassung von Hirnströmen bei Tieren. Doch erst 1924 sollte ihm die erste erfolgreiche Ableitung beim Menschen gelingen. Dennoch zögerte er weitere fünf Jahre und untersuchte tausende Gehirnstromkurven, bis er seine Beobachtungen veröffentlichte und den Namen Elektroenzephalogramm – kurz EEG - vorschlug.
"Ich glaube also in der Tat, das Elektroenzephalogramm des Menschen gefunden und hier zum ersten Mal veröffentlicht zu haben. Das Elektroenzephalogramm stellt eine fortlaufende Kurve mit ständigen Schwankungen dar, an der man die größeren Wellen erster Ordnung mit einer Durchschnittsdauer von 90 (?) und die kleineren Wellen zweiter Ordnung von durchschnittlich 35 (?) unterscheiden kann. Die größeren Ausschläge haben einen Wert von im Höchstmaß 0,00015 – 0,0002 Volt. "
Mit Bergers Publikation riss ein gewaltiger Erwartungshorizont auf. Nun, so die allgemeine Hoffnung, komme man dem menschlichen Bewusstsein endlich mit wissenschaftlicher Präzision auf die Spur. Es passte gut zum noch ungebrochenen Fortschrittsoptimismus jener Zeit, dass die Wissenschaft jetzt in der Lage zu sein schien, die Schrift des Gehirns aufzuzeichnen. Bis zur Entzifferung schien es nur noch ein kleiner Schritt zu sein. Der wesentlich größere scheint bereits getan: Die Visualisierung der Wahrnehmung.
Die Stimmen derer, die behaupteten, dass sich das Hirn aus prinzipiell-logischen Gründen gar nicht erkennen lasse, wollte da niemand hören. Diese argumentierten, dass ein erkennendes System, um etwas vollständig erkennen zu können, immer komplexer sein muss als das System, das erkannt werden soll. Bezogen auf das Gehirn bedeutet das aber, dass zur vollständigen Erkenntnis des Gehirns eine Struktur nötig wäre, die komplexer als das Gehirn selbst sein müsse. Unser Gehirn wäre somit nicht in der Lage, sich selbst zu erkennen.
Vorab: Diese kritischen Stimmen sollten Recht behalten. Bis heute. Damals aber wurden sie von der allgemeinen Euphorie übertönt. Zumal man glaubte, mit dem EEG einen Kopplungsmechanismus von Hirn und Maschine in Händen zu haben, der komplexer war, als das biologische Organ selbst.
Besonders die Presse jubelte. So schrieb der Düsseldorfer Stadtanzeiger im August 1930:
"Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben."
So euphorisch Presse und Öffentlichkeit auf das EEG reagierten, so zurückhaltend verhielt sich die Fachwelt zur Entdeckung des Psychiaters und Neurologen Hans Berger in Jena. Denn das EEG wollte nicht recht in das herrschende Paradigma der Hirnforschung hineinpassen, die damals einheitlich nach der Theorie des so genannten universalen Codes arbeitete.
Man stellte sich vor, dass das Gehirn bei Reizung punktuelle explosionsartige Entladungen produzierte, die sich je nach Hirnareal unterschieden. Zu dieser herrschenden Ansicht gehörte auch die Annahme, dass sich das Hirn in einem erregungsfreien Zustand befindet, wenn keine Reizung vorliegt. Und so passte ein gleichmäßiges Erregungsmuster, wie es das EEG aufzeichnete, überhaupt nicht ins Bild der damaligen Physiologen. Selbst der englische Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian, der schließlich dem EEG zum Durchbruch in der internationalen Forschergemeinde verhalf, ignorierte hartnäckig vier lange Jahre die Ergebnisse der neuen Untersuchungsmethode:
"In seiner Versuchsanordnung stieß er nämlich auf Teile des Gehirns, in denen es immer unruhig war, wo ein Hintergrundrauschen da war, was nicht Rauschen war – dafür hatte es eine zu regelmäßige Struktur. Was aber mit dieser ganzen Theorie überhaupt nicht in Einklang zu bringen war. "
Cornelius Borck, Medizinhistoriker mit neurowissenschaftlichem Forschungshintergrund, lehrt derzeit in Montreal als Professor für Philosophie und Geschichte der Medizin.
Borck: "Und in der ersten Veröffentlichung, wo er überhaupt darüber berichtet, dass er diese Phänomene gefunden hat, schreibt er noch, dass es ganz klar sich um eine Störung handelt und es artifiziell ist und dass man leicht zeigen konnte, dass auch in diesem Hirnteil der universale Code gilt. Und dieses "leicht zeigen" – das kann man nachrecherchieren - war tatsächlich sehr schwer herzustellen, dafür sind mehrere Kilometer Hirnstromableitungen geschrieben worden, um also leicht zu zeigen, dass die alte Theorie gilt.
Aber da war eine neue Doktorandin bei ihm und Adrian hat ihr schlicht nicht geglaubt, dass es irgendwas Ernstzunehmendes war. Und erst als ein anderer Kollege – ein schon versierter Tierbiologe bei ihm im Labor mit einem ganz anderen Versuchstier wiederum diese rhythmischen Potentiale – langsame, autonome, von sich aus entstehende rhythmische Wellen beobachtete, da konnte Adrian das einfach nicht mehr ignorieren und dann begann er sich dafür zu interessieren, ob irgendwo so etwas schon mal veröffentlicht wurde. ... Und darüber ist er dann über Umwege aufmerksam geworden auf Bergers Berichte."
Adrian las Bergers Veröffentlichung, überzeugte sich durch Wiederholung von der Richtigkeit des Experiments und machte mit dem EEG Weltkarriere.
1935 brach Adrian in die USA auf und stellte in einer Vortragsreihe die neuartige Methode vor. Die Amerikaner waren begeistert. In kürzester Zeit bildeten sich so viele Forschergruppen zum EEG, dass der Internationale Neurologie-Kongress von 1935 bereits eine eigene EEG-Sektion bilden musste, um die Fülle der Untersuchungsergebnisse entsprechend würdigen zu können.
In den USA kamen die Forscher-Gruppen rasch voran. Die entwickelte Nachrichtentechnik und die freigiebige Rockefeller Foundation waren die beiden wesentlichen Faktoren dafür. Vor allem den Arbeiten von William Lennox ist es zu danken, dass mit Hilfe des EEG die Ursachen der Epilepsie aufgeklärt werden konnten. Cornelius Borck hat im Archiv jedoch auch erschreckende Funde machen müssen:
Borck: "William Lennox ... hat, bevor er sich mit dem EEG beschäftigte, jahrelang zum Thema Epilepsie gearbeitet. Durchaus mit einem persönlichen Hintergrund: Er hatte eine epilepsiekranke Tochter. ... Man wusste in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eigentlich nicht so sehr viel mehr darüber, wie epileptische Anfälle entstehen als fünfzig Jahre zuvor. Und dann hörte er vom EEG. Und es lag natürlich nahe, dass er das Problem, wo er nicht weiterkam und die neue Methode zusammenbrachte. Das war technisch einfach durchzuführen und eine halbe Stunde später stand er plötzlich vor einer sensationellen Entdeckung, die dreißig Jahre seiner Forschung hinfällig gemacht haben. ... Mit einem Mal war Epilepsie eine hirnelektrische Störung, ein großes Gewitter, und keine rätselhafte Krankheit. ...
Und das war, als Lennox seine Forschung betrieb, so bestimmend diese Vorstellung von Epilepsie, dass Lennox soweit ging, zu fordern in Briefwechseln mit der Rockefeller Foundation, dass es doch vielleicht besser wäre, die Epileptiker im Endstadium, die seiner Meinung mehr oder weniger vegetierten, doch umzubringen, um die Kosten zu sparen und die Kosten für die Forschung einzusetzen. ... Es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass diese Figur Lennox, die sich doch so eingeschrieben hat als der humanitäre Papst der Epilepsiebekämpfung, doch da so ein radikalen Humanismus fordert, der nicht davor Halt macht, Menschen umzubringen, um anderen zu helfen. "
Mit seinen Vorschlägen näherte sich Lennox verdächtig weit der etwa zur selben Zeit praktizierten Euthanasiepraxis der Nazis an. Sicherlich mit einem anderen Hintergrund – aber mit denselben Konsequenzen. Doch glücklicherweise fielen die Anregungen von William Lennox auf wenig fruchtbaren Boden. Nicht auszudenken, zu welch trauriger Berühmtheit der amerikanische Psychiater gekommen wäre, hätte er in Hitler-Deutschland geforscht.
Lennox' Ideen zeigen die Kehrseite der Visualisierung des Hirns. Von einem Tag auf den anderen konnte Epilepsie durch das EEG diagnostiziert und kartografiert werden. Von nun an waren Epileptiker nicht mehr die sagenumwobenen Weisen und Heiligen vergangener Tage, sondern gläserne Menschen, deren Leiden in zwanzig Minuten erkannt werden konnte. Aus dem Mythos wurde eine Krankenakte. Dass aus der Krankenakte nicht grundsätzlich eine Todesakte wurde, ist nur historischen Zufällen zu danken.
Der ursprüngliche Traum von der Erschließung der psychischen Welt mit Hilfe elektrischer Ableitungen rückte dabei Jahr für Jahr in immer weitere Ferne.
"Ein Teil der Faszination am Gegenstand EEG liegt darin, dass dieses Versprechen, das so zum Greifen nah schien im Moment der Erstbeobachtung des EEGs, nicht in Erfüllung gegangen ist und dass die Debatte darüber, wie es eigentlich wirklich dazu kommt, dass diese Millionen von Nervenzellen eines Gehirns so eine einheitliche, regelmäßige Kurve schreiben, ist nach wie vor nicht verstanden.
Gleichwohl weiß man natürlich unendlich viel mehr über die Mechanismen, die beitragen zum EEG. Und es gibt auch eine ganze Reihe von Theorien, wie die Interaktionen und Interferenzen zwischen diesen Millionen von kleinen elektrischen Ereignissen möglicherweise diese Kurvenform, die man EEG nennt, verhältnismäßig einfach unterscheiden kann, was die dazu beitragen, dass es diese distinkten Rhythmen gibt.
Auf der einen Seite wissen wir viel, viel mehr, aber in diesem Viel-Mehr-Wissen ist zugleich auch das Problem unendlich komplexer geworden, als es zu Anfang war. Und was sich sicher verschoben hat ist, dass es heutzutage sicher nicht mehr die Hoffnung gibt, im EEG den Schlüssel zur Gehirnfunktion in Händen zu halten."
Als Norbert Wiener 1955 den zentralen Computer des MIT ein EEG analysieren ließ, war der Startschuss gefallen: Die Kybernetik versuchte nun, ihre Kenntnisse von den Steuer- und Regelegungsmechanismen der Maschinen auf das menschliche Gehirn zu übertragen. Wiener versuchte nachzuweisen, dass sowohl das Hirn wie auch der Computer mit einer zentralen Taktfrequenz arbeiteten. Im EEG sollte sich nach seiner Hypothese die Taktung des Hirnprozessors zeigen.
Der Rechenaufwand war enorm. Die leistungsstärkste Rechenmaschine der USA brauchte für die Analyse von einer Sekunde EEG mehrere Tage. Das Ergebnis aber war überzeugend. Wiener konnte tatsächlich die ersehnte Übereinstimmung von Gehirn und Computer in Form eines klaren Frequenzmaximums bei genau 9,05 Hertz nachweisen.
Bei genauerem Hinsehen aber wurde rasch deutlich, dass der scheinbar mit wissenschaftlicher Exaktheit untermauerte Analogieschluss zwischen Hirn und Computer seine Grenzen hatte. Der Kybernetiker Heinz von Foerster machte dies mit seiner Unterscheidung von trivialen und nicht trivialen Maschinen deutlich.
Trivial ist eine Maschine, wenn sie zu einem bestimmten Eingangswert immer denselben Ausgangswert produziert. Ein Auto, ein Toaster, aber eben auch ein Computer wären hier Beispiele. Nicht trivial ist eine Maschine, wenn sie innere Zustände hat und somit zu einem bestimmten Eingangswert verschiedene Ausgangswerte erzeugt. Hier wäre der Mensch als Beispiel zu nehmen, der ja auf einen bestimmten Reiz, wie etwa das Singen eines Vogels je nach Stimmung ganz unterschiedlich reagieren kann.
Heinz von Foerster war es auch, der Wesentliches zur Visualisierung der Wahrnehmung des Menschen beitrug. Für seine Untersuchungen wandte er die bewährte kybernetische Methode der Black Box an. Das heißt, der zu untersuchende Gegenstand kommt im übertragenen Sinne in eine schwarze Schachtel, so dass sich der Beobachter nur auf die Ein- und Ausgangswerte konzentriert.
"Wenn Sie die Zunge herausstrecken, dann haben Sie auf der Zunge lauter kleine Geschmackspapillen, und wenn Sie auf eine davon, die bspw. essigempfindlich ist, ein Tröpfchen Essig rauftropfen, was schmecken Sie? Essig! Jetzt geben Sie einen kleinen elektrischen Impuls auf diese Zelle. Was schmecken Sie? Essig! Jetzt haben Sie eine kleine gewärmte Nadel, geben Sie auf diesen Punkt. Was schmecken Sie? Essig! Was immer Sie tun mit dieser Zelle, sie wird sagen: Essig! Die Zelle reagiert nicht auf die Natur des physiologischen Stimulus, sondern sagt immer nur das, was sie sagen kann. Sie spricht also nur eine Sprache. Und wenn Sie das messen, sind das nichts anderes als elektrische Impulse. ... Die ganzen Sinneszellen codieren nur die Intensität des Reizes, aber nicht was! "
Alle Signale, so interpretierte Heinz von Foerster dieses physiologische Phänomen, die aus den etwa hundertmillionen Sinneszellen des Menschen kommen, liefern nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche Eigenschaften der Welt da draußen. Die Boten der Außenwelt werden an den Schnittstellen zum Körper all jener Eigenschaften entblößt, die letztlich zu dem farbigen und tönenden Bild dieser Welt führen sollen. Das aber bedeutet, dass unsere Wahrnehmung mit einer Bild-Abbild-Entsprechung nicht erklärt werden kann, sondern dass wir vielmehr den Reichtum unserer Erlebniswelt selbst erzeugen.
<im_977>Gehirn 1</im_977>Nicht der Reiz, sondern der Organismus ist für sein Verhalten, für seine Wahrnehmung, ja letztlich für die Welt, in der er lebt, verantwortlich. So lässt sich das Wahrnehmungskonzept von Heinz von Foerster zusammenfassen. Hierin liegt ein enormer Sprengstoff. Denn diese Sichtweise räumt radikal mit dem Behaviorismus auf, der ja einen kausalen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion sah. Heinz von Foerster hingegen sieht die gesamte Verantwortung für die Reaktion gerade nicht beim Reiz, sondern beim Subjekt selbst.
Mit dieser Sichtweise hat der österreichisch-amerikanische Kybernetiker eine ganze Denkrichtung angestoßen. Der Konstruktivismus, der heute weder aus philosophischen noch aus geisteswissenschaftlichen Diskursen wegzudenken ist, führt die Einsichten Heinz von Foersters konsequent weiter und kommt zum Schluss, dass die gesamte Objektwelt vom Subjekt nicht erkannt, sondern konstruiert wird.
So schwer eingängig diese Sichtweise auf den ersten Blick vielleicht scheint, in der Wissenschaftlergemeinde ist mittlerweile unstrittig, dass unser Hirn nicht mit einem gewaltigen Fotoarchiv zu vergleichen ist, in dem die gesamte Umwelt abgelichtet ist. Viel mehr wird unser Hirn allgemein als ein sich selbst organisierendes System angesehen, das es in Zusammenarbeit mit dem Nervensystem versteht, seine inneren Zustände nach außen zu projizieren.
Diese Projektionstätigkeit des Hirns kann man auch sehr gut an den erst kürzlich entdeckten Spiegelneuronen studieren. Mittlerweile steht dem Hirnforscher ein gewaltiges Arsenal an Techniken zur Visualisierung der Wahrnehmung zu Gebote. Computer- und Magnetresonanztomografen erzeugen die bunten oft dreidimensionalen Bilder vom Hirn, die uns mittlerweile aus Presse und Fernsehen gut bekannt sind.
Doch die Entwicklung der Hirnforschung ging nicht nur im Bereich der bildgebenden Verfahren weiter. Auch die Messfühler haben, nicht zuletzt durch die Erfolge der Nanotechnologie, an Präzision gewonnen. So gelang es dem italienischen Physiologen Giacomo Rizzolatti 1996 sogar, einzelne Handlungsneurone im lebendigen Affenhirn mit seinen Messvorrichtungen zu verkabeln.
"Zum Star in diesem Ensemble von Zellen wurde eine handlungssteuernde Nervenzelle, die immer dann – und nur dann – feuerte, wenn der Affe mit seiner Hand nach einer Erdnuss griff, die auf einem Tablett lag. Genau dafür, und für nichts sonst, hatte diese Zelle den Plan. Weder beim alleinigen Anblick der Nuss noch bei einer sonstigen Greifbewegung der Hand ging von dieser Zelle irgendeine Aktivität aus."
So berichtet der Freiburger Psychiater und Universitätsprofessor Joachim Bauer in seinem 2005 erschienenen Buch "Warum ich fühle, was du fühlst" von der Versuchsanordnung, die vollkommen unbeabsichtigt eine der folgenreichsten Entdeckungen der Hirnforschung hervorbringen sollte.
"Jedes Mal, wenn der Affe diese Handlung ausführte, begann die Aktion mit einem bioelektrischen Signal dieser Nervenzelle. Aber damit nicht genug. Denn nun beobachteten die Forscher etwas Erstaunliches: dass diese Zelle auch dann feuerte, wenn der Affe beobachtete, wie jemand anderes nach der Nuss auf dem Tablett griff. Man brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Es war eine neurobiologische Sensation. "
Spiegelneurone wurden diese Nervenzellen genannt. Die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass Spiegelneurone bei allen höheren Säugetieren vorhanden sind. Und natürlich auch beim Menschen.
Joachim Bauer: "Man könnte Spiegelneurone als einen Nachrichtendienst bezeichnen, der an verschiedenen Stellen unseres Gehirns eingenistet ist und uns informiert über die inneren Zustände und Absichten anderer Menschen. ... Es sind im Prinzip Nervenzellen wie ganz normale andere Nervenzellen auch, die aber eine zusätzliche Eigenschaft haben, nämlich nicht nur das zu steuern, was in uns selbst als Erleben und Handlung abläuft, sondern die zugleich auch reagieren, wenn wir zuschauen und miterleben, wie jemand anderes die betreffenden Handlungen vollzieht. "
Mann (gähnt): "Oh, Entschuldigung."
Frau (gähnt): "Jetzt muss ich auch. Entschuldigung."
Joachim Bauer: "Und das zeigt auch, dass dieser Spiegelmechanismus in die tieferen Hirnstrukturen hinab geht. Das Gähnen wird nämlich nicht in der Hirnrinde gesteuert, sondern im Mittel- und im Stammhirn. Und es ist ein Phänomen, dass tatsächlich das Beobachten des Gähnens – das ist auch wissenschaftlich einwandfrei untersucht worden – das eigene Gähnen auslöst. ... Übrigens zeigt dieses Phänomen, dass die Spiegelnervenzellen mehr sind als nur ein Meldesystem, das uns als Beobachter informiert, wie der Zustand eines anderen Menschen aussieht. Diese Spiegelneurone haben im Prinzip auch die Fähigkeit, unsere eigene Befindlichkeit zu verändern. Das Gefühl des anderen Menschen beeinflusst auch unser eigenes Gefühl. "
Mit den Spiegelneuronen haben die Hirnforscher die physiologische Grundlage des Mitgefühls und der Intuition entdeckt. Das System der Spiegelneurone wird daher auch als Zentrum der emotionalen Intelligenz bezeichnet. Interessant dabei ist nun vor allem, dass diese Nervenzellen in verschiedensten Hirnarealen anzutreffen sind.
Spiegelneurone gibt es in der motorischen Hirnrinde. Hier werden die Handlungen geplant. Die Spiegelneurone geben uns also Hinweise auf die Handlungen anderer, zugleich aber werden uns auf diese Weise die Konsequenzen unserer eigenen Handlungen gespiegelt. Das Imitationsverhalten von Kindern hat hier seine neurophysiologische Ursache. Im späteren Leben gibt dem Menschen dann die so genannte Frontalhirnhemmung die Möglichkeit, nicht jede erwogene Handlung auch sofort auszuführen.
Spiegelneurone findet man weiterhin im Schmerzzentrum des Hirns. Dort also, wo unser Hirn den selbst erlittenen Schmerz meldet, dort treten Nervenzellen in Resonanz, wenn tatsächlicher oder gemutmaßter Schmerz beobachtet wird.
Hierin liegt der Grund dafür, warum wir zusammenzucken, wenn wir die Zahnarztgeräusche auch nur hören. Auch wird so erklärbar, warum wir mitleiden, wenn andere Schmerzen haben.
Und schließlich gibt es Spiegelneurone auch dort, wo in unserem Hirn die inneren Körperzustände gemeldet werden. Wenn man sieht, dass jemandem übel ist, wird einem selbst ein wenig mulmig. Hypochonder scheinen in diesem Hirnareal eine besonders ausgeprägte Spiegelaktivität zu haben.
Die Entdeckung der Spiegelneurone stellt auch die älteste Frage der Philosophie wieder neu: Was ist Bewusstsein? Denn die meisten Hirnareale, in denen Spiegelneurone vorkommen, liegen außerhalb der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde. Spiegelphänomene wirken also vor- oder sogar unbewusst. Von einem autonomen Ich kann daher keine Rede mehr sein.
Joachim Bauer: "Es haben inzwischen auch weitere Psychotherapeuten und Analytiker diese Konsequenzen bedacht und darüber auch schon Arbeiten geschrieben, in denen deutlich wird, dass wir jetzt zunehmend erkennen, dass das Konstrukt der Identität – also wer bin ich und wie grenze ich mich vom anderen ab – dass diese Konstrukt der Identität etwas sehr Durchlässiges ist, dass wir eigentlich in der Art, wie wir uns erleben, wie wir fühlen und wie wir vorhaben zu handeln, in hohem Maße beeinflussbar sind. Das, was uns zugespielt wird von anderen Menschen durch die Beobachtungen, die wir bei andern Menschen machen, ... dass da ein permanentes Einfließen von Signalen in unser eigenes Gehirn stattfindet und dass das, was wir dann als Ich erleben, nicht gänzlich abgeschottet ist von dem, was ... um uns herum stattfindet. ... Die Identität der anderen verändert sich durch uns und unsere Identität verändert sich im Angesicht des Anderen. "
Überhaupt hat ein Jahrhundert Visualisierung von Wahrnehmungs- und Hirnprozessen verdeutlicht, dass es eigentlich gar keinen Grund für den Stolz des Menschen auf seine Großhirnrinde gibt. Versuche haben ergeben, dass unser Bewusstsein weder bei der Handlungsplanung, noch bei der Entscheidungsfindung wirklich mitreden darf.
Dazu das folgende Experiment, das in den achtziger Jahren von dem amerikanischen Physiologen Benjamin Libet durchgeführt und seit dem mehrmals erfolgreich wiederholt wurde:
Ein Proband wird gebeten, zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt eine Handbewegung auszuführen. Diesen Zeitpunkt hält er mit Hilfe einer Oszilloskop-Uhr fest. Das überraschende Ergebnis ist nun, dass sich schon etwa 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotential nachweisen lässt. Die Versuchsperson hatte also den bewussten Entschluss zur Handlung deutlich nach der Einleitung der Bewegung durch neuronale Prozesse gefällt.
Der Willensakt tritt also erst ins Bewusstsein, nachdem längst entschieden wurde, welche Handlung ausgeführt wird. Erst im Nachhinein, wenn die entscheidenden Prozesse auf hirnphysiologischer Ebene gelaufen sind, erscheint die Handlung auf der Bewusstseinsebene, und das Ich schreibt sich diese Handlung dann zu.
2004 erfuhr dieser irritierende Versuch eine neue Spielart. Eine Berliner Forschergruppe hatte Probanden über EEG-Signale mit dem Computer verbunden. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, den in der Mitte des Schirms befindlichen Cursor durch Tastendruck nach rechts oder links zu bewegen. Nun ertappten sich die Versuchspersonen regelmäßig dabei, dass der Computer genau jene Bewegung des Cursors bereits vollzogen hatte, die sie gerade ausführen wollten.
Das Ich der Probanden, so bemerkt Cornelius Borck in seinem Buch "Hirnströme", machte bei diesen Versuchen die irritierende Erfahrung, den Handlungen seines Gehirns zuzuschauen.
Die Interpretation dieser Versuche teilt die Hirnforscher in zwei Lager. Jene, die aufgrund der Befunde den freien Willen des Menschen überhaupt infrage stellen und jene, die versuchen, die Idee des freien Willens zu retten, indem sie darauf hinweisen, dass Bewegungen der Hand nicht mit hochkomplexen Entscheidungsprozessen zu vergleichen sind.
Diese Situation der Hirnforschung erinnert ein wenig an des Dilemma der Physik in den zwanziger Jahren, als es sowohl Beweise für den Teilchencharakter wie für den Wellencharakter des Lichtes gab. Damals war es Niels Bohr, der vorschlug, die Frage offen zu lassen und die beiden einander ausschließenden Beschreibungen des Lichtes für gültig zu erklären und damit zu akzeptieren, dass beide Möglichkeiten in der Natur des Lichtes liegen.
Zu einer ähnlichen Herangehensweise fordert Cornelius Borck die Hirnforscher auf:
"Mich interessieren diese Forschungen, weil sie gerade kein eindeutiges Ergebnis haben. Das Faszinierende daran ist diese Sperrigkeit, dass wir auf der einen Seite gezwungen sind, solche Fragen zu stellen und auf der anderen Seite ebenso gute Gründe haben, unsere Konzepte von Verantwortlichkeit und Freiheit nicht aufzugeben. Und wenn uns dann Hirnforscher glauben machen wollen, wir müssten uns jetzt anpassen an die Ergebnisse, die sie in ihren Forschungslabors produzieren, muss ich dem als Wissenschaftshistoriker widersprechen, weil ich eben sehr genau nachzeichnen kann, wie viele dieser Ergebnisse ihrerseits wieder die Effekte bestimmter historischer Umstände sind, also die wissenschaftliche Objektivität, die da produziert wird, selbst eine kulturelle Seite hat.
Und auf der anderen Seite, weil mir für moderne Gesellschaften genau dieser Widerstreit verschiedener wissenschaftlicher Antworten ganz zentral zu sein scheint. Und anstatt nun das Bestürzende daran zu sehen, dass wir Menschen mittlerweile Formen wissenschaftlicher Aufklärung erreicht haben, die uns selbst infrage stellen, ... könnte man vielleicht umgekehrt die Perspektive aufmachen: Dass Hirnforschung eine Maschinerie ist, um uns selbst immer komplizierter zu machen und genau diese Fragen in Gang zu halten. Vielleicht ist das, was wirklich faszinierend ist an der Hirnforschung, dass sie eben mit der Perspektive, fast am Durchbruch zu sein, sich eigentlich schon seit hundert oder hundertfünfzig Jahren eingerichtet hat."
Bereits seit 1900 arbeitete Hans Berger an der grafischen Erfassung von Hirnströmen bei Tieren. Doch erst 1924 sollte ihm die erste erfolgreiche Ableitung beim Menschen gelingen. Dennoch zögerte er weitere fünf Jahre und untersuchte tausende Gehirnstromkurven, bis er seine Beobachtungen veröffentlichte und den Namen Elektroenzephalogramm – kurz EEG - vorschlug.
"Ich glaube also in der Tat, das Elektroenzephalogramm des Menschen gefunden und hier zum ersten Mal veröffentlicht zu haben. Das Elektroenzephalogramm stellt eine fortlaufende Kurve mit ständigen Schwankungen dar, an der man die größeren Wellen erster Ordnung mit einer Durchschnittsdauer von 90 (?) und die kleineren Wellen zweiter Ordnung von durchschnittlich 35 (?) unterscheiden kann. Die größeren Ausschläge haben einen Wert von im Höchstmaß 0,00015 – 0,0002 Volt. "
Mit Bergers Publikation riss ein gewaltiger Erwartungshorizont auf. Nun, so die allgemeine Hoffnung, komme man dem menschlichen Bewusstsein endlich mit wissenschaftlicher Präzision auf die Spur. Es passte gut zum noch ungebrochenen Fortschrittsoptimismus jener Zeit, dass die Wissenschaft jetzt in der Lage zu sein schien, die Schrift des Gehirns aufzuzeichnen. Bis zur Entzifferung schien es nur noch ein kleiner Schritt zu sein. Der wesentlich größere scheint bereits getan: Die Visualisierung der Wahrnehmung.
Die Stimmen derer, die behaupteten, dass sich das Hirn aus prinzipiell-logischen Gründen gar nicht erkennen lasse, wollte da niemand hören. Diese argumentierten, dass ein erkennendes System, um etwas vollständig erkennen zu können, immer komplexer sein muss als das System, das erkannt werden soll. Bezogen auf das Gehirn bedeutet das aber, dass zur vollständigen Erkenntnis des Gehirns eine Struktur nötig wäre, die komplexer als das Gehirn selbst sein müsse. Unser Gehirn wäre somit nicht in der Lage, sich selbst zu erkennen.
Vorab: Diese kritischen Stimmen sollten Recht behalten. Bis heute. Damals aber wurden sie von der allgemeinen Euphorie übertönt. Zumal man glaubte, mit dem EEG einen Kopplungsmechanismus von Hirn und Maschine in Händen zu haben, der komplexer war, als das biologische Organ selbst.
Besonders die Presse jubelte. So schrieb der Düsseldorfer Stadtanzeiger im August 1930:
"Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankungen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar schon Briefe in Hirnschrift schreiben."
So euphorisch Presse und Öffentlichkeit auf das EEG reagierten, so zurückhaltend verhielt sich die Fachwelt zur Entdeckung des Psychiaters und Neurologen Hans Berger in Jena. Denn das EEG wollte nicht recht in das herrschende Paradigma der Hirnforschung hineinpassen, die damals einheitlich nach der Theorie des so genannten universalen Codes arbeitete.
Man stellte sich vor, dass das Gehirn bei Reizung punktuelle explosionsartige Entladungen produzierte, die sich je nach Hirnareal unterschieden. Zu dieser herrschenden Ansicht gehörte auch die Annahme, dass sich das Hirn in einem erregungsfreien Zustand befindet, wenn keine Reizung vorliegt. Und so passte ein gleichmäßiges Erregungsmuster, wie es das EEG aufzeichnete, überhaupt nicht ins Bild der damaligen Physiologen. Selbst der englische Nobelpreisträger Edgar Douglas Adrian, der schließlich dem EEG zum Durchbruch in der internationalen Forschergemeinde verhalf, ignorierte hartnäckig vier lange Jahre die Ergebnisse der neuen Untersuchungsmethode:
"In seiner Versuchsanordnung stieß er nämlich auf Teile des Gehirns, in denen es immer unruhig war, wo ein Hintergrundrauschen da war, was nicht Rauschen war – dafür hatte es eine zu regelmäßige Struktur. Was aber mit dieser ganzen Theorie überhaupt nicht in Einklang zu bringen war. "
Cornelius Borck, Medizinhistoriker mit neurowissenschaftlichem Forschungshintergrund, lehrt derzeit in Montreal als Professor für Philosophie und Geschichte der Medizin.
Borck: "Und in der ersten Veröffentlichung, wo er überhaupt darüber berichtet, dass er diese Phänomene gefunden hat, schreibt er noch, dass es ganz klar sich um eine Störung handelt und es artifiziell ist und dass man leicht zeigen konnte, dass auch in diesem Hirnteil der universale Code gilt. Und dieses "leicht zeigen" – das kann man nachrecherchieren - war tatsächlich sehr schwer herzustellen, dafür sind mehrere Kilometer Hirnstromableitungen geschrieben worden, um also leicht zu zeigen, dass die alte Theorie gilt.
Aber da war eine neue Doktorandin bei ihm und Adrian hat ihr schlicht nicht geglaubt, dass es irgendwas Ernstzunehmendes war. Und erst als ein anderer Kollege – ein schon versierter Tierbiologe bei ihm im Labor mit einem ganz anderen Versuchstier wiederum diese rhythmischen Potentiale – langsame, autonome, von sich aus entstehende rhythmische Wellen beobachtete, da konnte Adrian das einfach nicht mehr ignorieren und dann begann er sich dafür zu interessieren, ob irgendwo so etwas schon mal veröffentlicht wurde. ... Und darüber ist er dann über Umwege aufmerksam geworden auf Bergers Berichte."
Adrian las Bergers Veröffentlichung, überzeugte sich durch Wiederholung von der Richtigkeit des Experiments und machte mit dem EEG Weltkarriere.
1935 brach Adrian in die USA auf und stellte in einer Vortragsreihe die neuartige Methode vor. Die Amerikaner waren begeistert. In kürzester Zeit bildeten sich so viele Forschergruppen zum EEG, dass der Internationale Neurologie-Kongress von 1935 bereits eine eigene EEG-Sektion bilden musste, um die Fülle der Untersuchungsergebnisse entsprechend würdigen zu können.
In den USA kamen die Forscher-Gruppen rasch voran. Die entwickelte Nachrichtentechnik und die freigiebige Rockefeller Foundation waren die beiden wesentlichen Faktoren dafür. Vor allem den Arbeiten von William Lennox ist es zu danken, dass mit Hilfe des EEG die Ursachen der Epilepsie aufgeklärt werden konnten. Cornelius Borck hat im Archiv jedoch auch erschreckende Funde machen müssen:
Borck: "William Lennox ... hat, bevor er sich mit dem EEG beschäftigte, jahrelang zum Thema Epilepsie gearbeitet. Durchaus mit einem persönlichen Hintergrund: Er hatte eine epilepsiekranke Tochter. ... Man wusste in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre eigentlich nicht so sehr viel mehr darüber, wie epileptische Anfälle entstehen als fünfzig Jahre zuvor. Und dann hörte er vom EEG. Und es lag natürlich nahe, dass er das Problem, wo er nicht weiterkam und die neue Methode zusammenbrachte. Das war technisch einfach durchzuführen und eine halbe Stunde später stand er plötzlich vor einer sensationellen Entdeckung, die dreißig Jahre seiner Forschung hinfällig gemacht haben. ... Mit einem Mal war Epilepsie eine hirnelektrische Störung, ein großes Gewitter, und keine rätselhafte Krankheit. ...
Und das war, als Lennox seine Forschung betrieb, so bestimmend diese Vorstellung von Epilepsie, dass Lennox soweit ging, zu fordern in Briefwechseln mit der Rockefeller Foundation, dass es doch vielleicht besser wäre, die Epileptiker im Endstadium, die seiner Meinung mehr oder weniger vegetierten, doch umzubringen, um die Kosten zu sparen und die Kosten für die Forschung einzusetzen. ... Es ist wichtig sich vor Augen zu halten, dass diese Figur Lennox, die sich doch so eingeschrieben hat als der humanitäre Papst der Epilepsiebekämpfung, doch da so ein radikalen Humanismus fordert, der nicht davor Halt macht, Menschen umzubringen, um anderen zu helfen. "
Mit seinen Vorschlägen näherte sich Lennox verdächtig weit der etwa zur selben Zeit praktizierten Euthanasiepraxis der Nazis an. Sicherlich mit einem anderen Hintergrund – aber mit denselben Konsequenzen. Doch glücklicherweise fielen die Anregungen von William Lennox auf wenig fruchtbaren Boden. Nicht auszudenken, zu welch trauriger Berühmtheit der amerikanische Psychiater gekommen wäre, hätte er in Hitler-Deutschland geforscht.
Lennox' Ideen zeigen die Kehrseite der Visualisierung des Hirns. Von einem Tag auf den anderen konnte Epilepsie durch das EEG diagnostiziert und kartografiert werden. Von nun an waren Epileptiker nicht mehr die sagenumwobenen Weisen und Heiligen vergangener Tage, sondern gläserne Menschen, deren Leiden in zwanzig Minuten erkannt werden konnte. Aus dem Mythos wurde eine Krankenakte. Dass aus der Krankenakte nicht grundsätzlich eine Todesakte wurde, ist nur historischen Zufällen zu danken.
Der ursprüngliche Traum von der Erschließung der psychischen Welt mit Hilfe elektrischer Ableitungen rückte dabei Jahr für Jahr in immer weitere Ferne.
"Ein Teil der Faszination am Gegenstand EEG liegt darin, dass dieses Versprechen, das so zum Greifen nah schien im Moment der Erstbeobachtung des EEGs, nicht in Erfüllung gegangen ist und dass die Debatte darüber, wie es eigentlich wirklich dazu kommt, dass diese Millionen von Nervenzellen eines Gehirns so eine einheitliche, regelmäßige Kurve schreiben, ist nach wie vor nicht verstanden.
Gleichwohl weiß man natürlich unendlich viel mehr über die Mechanismen, die beitragen zum EEG. Und es gibt auch eine ganze Reihe von Theorien, wie die Interaktionen und Interferenzen zwischen diesen Millionen von kleinen elektrischen Ereignissen möglicherweise diese Kurvenform, die man EEG nennt, verhältnismäßig einfach unterscheiden kann, was die dazu beitragen, dass es diese distinkten Rhythmen gibt.
Auf der einen Seite wissen wir viel, viel mehr, aber in diesem Viel-Mehr-Wissen ist zugleich auch das Problem unendlich komplexer geworden, als es zu Anfang war. Und was sich sicher verschoben hat ist, dass es heutzutage sicher nicht mehr die Hoffnung gibt, im EEG den Schlüssel zur Gehirnfunktion in Händen zu halten."
Als Norbert Wiener 1955 den zentralen Computer des MIT ein EEG analysieren ließ, war der Startschuss gefallen: Die Kybernetik versuchte nun, ihre Kenntnisse von den Steuer- und Regelegungsmechanismen der Maschinen auf das menschliche Gehirn zu übertragen. Wiener versuchte nachzuweisen, dass sowohl das Hirn wie auch der Computer mit einer zentralen Taktfrequenz arbeiteten. Im EEG sollte sich nach seiner Hypothese die Taktung des Hirnprozessors zeigen.
Der Rechenaufwand war enorm. Die leistungsstärkste Rechenmaschine der USA brauchte für die Analyse von einer Sekunde EEG mehrere Tage. Das Ergebnis aber war überzeugend. Wiener konnte tatsächlich die ersehnte Übereinstimmung von Gehirn und Computer in Form eines klaren Frequenzmaximums bei genau 9,05 Hertz nachweisen.
Bei genauerem Hinsehen aber wurde rasch deutlich, dass der scheinbar mit wissenschaftlicher Exaktheit untermauerte Analogieschluss zwischen Hirn und Computer seine Grenzen hatte. Der Kybernetiker Heinz von Foerster machte dies mit seiner Unterscheidung von trivialen und nicht trivialen Maschinen deutlich.
Trivial ist eine Maschine, wenn sie zu einem bestimmten Eingangswert immer denselben Ausgangswert produziert. Ein Auto, ein Toaster, aber eben auch ein Computer wären hier Beispiele. Nicht trivial ist eine Maschine, wenn sie innere Zustände hat und somit zu einem bestimmten Eingangswert verschiedene Ausgangswerte erzeugt. Hier wäre der Mensch als Beispiel zu nehmen, der ja auf einen bestimmten Reiz, wie etwa das Singen eines Vogels je nach Stimmung ganz unterschiedlich reagieren kann.
Heinz von Foerster war es auch, der Wesentliches zur Visualisierung der Wahrnehmung des Menschen beitrug. Für seine Untersuchungen wandte er die bewährte kybernetische Methode der Black Box an. Das heißt, der zu untersuchende Gegenstand kommt im übertragenen Sinne in eine schwarze Schachtel, so dass sich der Beobachter nur auf die Ein- und Ausgangswerte konzentriert.
"Wenn Sie die Zunge herausstrecken, dann haben Sie auf der Zunge lauter kleine Geschmackspapillen, und wenn Sie auf eine davon, die bspw. essigempfindlich ist, ein Tröpfchen Essig rauftropfen, was schmecken Sie? Essig! Jetzt geben Sie einen kleinen elektrischen Impuls auf diese Zelle. Was schmecken Sie? Essig! Jetzt haben Sie eine kleine gewärmte Nadel, geben Sie auf diesen Punkt. Was schmecken Sie? Essig! Was immer Sie tun mit dieser Zelle, sie wird sagen: Essig! Die Zelle reagiert nicht auf die Natur des physiologischen Stimulus, sondern sagt immer nur das, was sie sagen kann. Sie spricht also nur eine Sprache. Und wenn Sie das messen, sind das nichts anderes als elektrische Impulse. ... Die ganzen Sinneszellen codieren nur die Intensität des Reizes, aber nicht was! "
Alle Signale, so interpretierte Heinz von Foerster dieses physiologische Phänomen, die aus den etwa hundertmillionen Sinneszellen des Menschen kommen, liefern nicht den geringsten Hinweis auf irgendwelche Eigenschaften der Welt da draußen. Die Boten der Außenwelt werden an den Schnittstellen zum Körper all jener Eigenschaften entblößt, die letztlich zu dem farbigen und tönenden Bild dieser Welt führen sollen. Das aber bedeutet, dass unsere Wahrnehmung mit einer Bild-Abbild-Entsprechung nicht erklärt werden kann, sondern dass wir vielmehr den Reichtum unserer Erlebniswelt selbst erzeugen.
<im_977>Gehirn 1</im_977>Nicht der Reiz, sondern der Organismus ist für sein Verhalten, für seine Wahrnehmung, ja letztlich für die Welt, in der er lebt, verantwortlich. So lässt sich das Wahrnehmungskonzept von Heinz von Foerster zusammenfassen. Hierin liegt ein enormer Sprengstoff. Denn diese Sichtweise räumt radikal mit dem Behaviorismus auf, der ja einen kausalen Zusammenhang zwischen Reiz und Reaktion sah. Heinz von Foerster hingegen sieht die gesamte Verantwortung für die Reaktion gerade nicht beim Reiz, sondern beim Subjekt selbst.
Mit dieser Sichtweise hat der österreichisch-amerikanische Kybernetiker eine ganze Denkrichtung angestoßen. Der Konstruktivismus, der heute weder aus philosophischen noch aus geisteswissenschaftlichen Diskursen wegzudenken ist, führt die Einsichten Heinz von Foersters konsequent weiter und kommt zum Schluss, dass die gesamte Objektwelt vom Subjekt nicht erkannt, sondern konstruiert wird.
So schwer eingängig diese Sichtweise auf den ersten Blick vielleicht scheint, in der Wissenschaftlergemeinde ist mittlerweile unstrittig, dass unser Hirn nicht mit einem gewaltigen Fotoarchiv zu vergleichen ist, in dem die gesamte Umwelt abgelichtet ist. Viel mehr wird unser Hirn allgemein als ein sich selbst organisierendes System angesehen, das es in Zusammenarbeit mit dem Nervensystem versteht, seine inneren Zustände nach außen zu projizieren.
Diese Projektionstätigkeit des Hirns kann man auch sehr gut an den erst kürzlich entdeckten Spiegelneuronen studieren. Mittlerweile steht dem Hirnforscher ein gewaltiges Arsenal an Techniken zur Visualisierung der Wahrnehmung zu Gebote. Computer- und Magnetresonanztomografen erzeugen die bunten oft dreidimensionalen Bilder vom Hirn, die uns mittlerweile aus Presse und Fernsehen gut bekannt sind.
Doch die Entwicklung der Hirnforschung ging nicht nur im Bereich der bildgebenden Verfahren weiter. Auch die Messfühler haben, nicht zuletzt durch die Erfolge der Nanotechnologie, an Präzision gewonnen. So gelang es dem italienischen Physiologen Giacomo Rizzolatti 1996 sogar, einzelne Handlungsneurone im lebendigen Affenhirn mit seinen Messvorrichtungen zu verkabeln.
"Zum Star in diesem Ensemble von Zellen wurde eine handlungssteuernde Nervenzelle, die immer dann – und nur dann – feuerte, wenn der Affe mit seiner Hand nach einer Erdnuss griff, die auf einem Tablett lag. Genau dafür, und für nichts sonst, hatte diese Zelle den Plan. Weder beim alleinigen Anblick der Nuss noch bei einer sonstigen Greifbewegung der Hand ging von dieser Zelle irgendeine Aktivität aus."
So berichtet der Freiburger Psychiater und Universitätsprofessor Joachim Bauer in seinem 2005 erschienenen Buch "Warum ich fühle, was du fühlst" von der Versuchsanordnung, die vollkommen unbeabsichtigt eine der folgenreichsten Entdeckungen der Hirnforschung hervorbringen sollte.
"Jedes Mal, wenn der Affe diese Handlung ausführte, begann die Aktion mit einem bioelektrischen Signal dieser Nervenzelle. Aber damit nicht genug. Denn nun beobachteten die Forscher etwas Erstaunliches: dass diese Zelle auch dann feuerte, wenn der Affe beobachtete, wie jemand anderes nach der Nuss auf dem Tablett griff. Man brauchte einen Moment, um zu begreifen, was das bedeutete. Es war eine neurobiologische Sensation. "
Spiegelneurone wurden diese Nervenzellen genannt. Die Forschung der letzten Jahre hat ergeben, dass Spiegelneurone bei allen höheren Säugetieren vorhanden sind. Und natürlich auch beim Menschen.
Joachim Bauer: "Man könnte Spiegelneurone als einen Nachrichtendienst bezeichnen, der an verschiedenen Stellen unseres Gehirns eingenistet ist und uns informiert über die inneren Zustände und Absichten anderer Menschen. ... Es sind im Prinzip Nervenzellen wie ganz normale andere Nervenzellen auch, die aber eine zusätzliche Eigenschaft haben, nämlich nicht nur das zu steuern, was in uns selbst als Erleben und Handlung abläuft, sondern die zugleich auch reagieren, wenn wir zuschauen und miterleben, wie jemand anderes die betreffenden Handlungen vollzieht. "
Mann (gähnt): "Oh, Entschuldigung."
Frau (gähnt): "Jetzt muss ich auch. Entschuldigung."
Joachim Bauer: "Und das zeigt auch, dass dieser Spiegelmechanismus in die tieferen Hirnstrukturen hinab geht. Das Gähnen wird nämlich nicht in der Hirnrinde gesteuert, sondern im Mittel- und im Stammhirn. Und es ist ein Phänomen, dass tatsächlich das Beobachten des Gähnens – das ist auch wissenschaftlich einwandfrei untersucht worden – das eigene Gähnen auslöst. ... Übrigens zeigt dieses Phänomen, dass die Spiegelnervenzellen mehr sind als nur ein Meldesystem, das uns als Beobachter informiert, wie der Zustand eines anderen Menschen aussieht. Diese Spiegelneurone haben im Prinzip auch die Fähigkeit, unsere eigene Befindlichkeit zu verändern. Das Gefühl des anderen Menschen beeinflusst auch unser eigenes Gefühl. "
Mit den Spiegelneuronen haben die Hirnforscher die physiologische Grundlage des Mitgefühls und der Intuition entdeckt. Das System der Spiegelneurone wird daher auch als Zentrum der emotionalen Intelligenz bezeichnet. Interessant dabei ist nun vor allem, dass diese Nervenzellen in verschiedensten Hirnarealen anzutreffen sind.
Spiegelneurone gibt es in der motorischen Hirnrinde. Hier werden die Handlungen geplant. Die Spiegelneurone geben uns also Hinweise auf die Handlungen anderer, zugleich aber werden uns auf diese Weise die Konsequenzen unserer eigenen Handlungen gespiegelt. Das Imitationsverhalten von Kindern hat hier seine neurophysiologische Ursache. Im späteren Leben gibt dem Menschen dann die so genannte Frontalhirnhemmung die Möglichkeit, nicht jede erwogene Handlung auch sofort auszuführen.
Spiegelneurone findet man weiterhin im Schmerzzentrum des Hirns. Dort also, wo unser Hirn den selbst erlittenen Schmerz meldet, dort treten Nervenzellen in Resonanz, wenn tatsächlicher oder gemutmaßter Schmerz beobachtet wird.
Hierin liegt der Grund dafür, warum wir zusammenzucken, wenn wir die Zahnarztgeräusche auch nur hören. Auch wird so erklärbar, warum wir mitleiden, wenn andere Schmerzen haben.
Und schließlich gibt es Spiegelneurone auch dort, wo in unserem Hirn die inneren Körperzustände gemeldet werden. Wenn man sieht, dass jemandem übel ist, wird einem selbst ein wenig mulmig. Hypochonder scheinen in diesem Hirnareal eine besonders ausgeprägte Spiegelaktivität zu haben.
Die Entdeckung der Spiegelneurone stellt auch die älteste Frage der Philosophie wieder neu: Was ist Bewusstsein? Denn die meisten Hirnareale, in denen Spiegelneurone vorkommen, liegen außerhalb der bewusstseinsfähigen Großhirnrinde. Spiegelphänomene wirken also vor- oder sogar unbewusst. Von einem autonomen Ich kann daher keine Rede mehr sein.
Joachim Bauer: "Es haben inzwischen auch weitere Psychotherapeuten und Analytiker diese Konsequenzen bedacht und darüber auch schon Arbeiten geschrieben, in denen deutlich wird, dass wir jetzt zunehmend erkennen, dass das Konstrukt der Identität – also wer bin ich und wie grenze ich mich vom anderen ab – dass diese Konstrukt der Identität etwas sehr Durchlässiges ist, dass wir eigentlich in der Art, wie wir uns erleben, wie wir fühlen und wie wir vorhaben zu handeln, in hohem Maße beeinflussbar sind. Das, was uns zugespielt wird von anderen Menschen durch die Beobachtungen, die wir bei andern Menschen machen, ... dass da ein permanentes Einfließen von Signalen in unser eigenes Gehirn stattfindet und dass das, was wir dann als Ich erleben, nicht gänzlich abgeschottet ist von dem, was ... um uns herum stattfindet. ... Die Identität der anderen verändert sich durch uns und unsere Identität verändert sich im Angesicht des Anderen. "
Überhaupt hat ein Jahrhundert Visualisierung von Wahrnehmungs- und Hirnprozessen verdeutlicht, dass es eigentlich gar keinen Grund für den Stolz des Menschen auf seine Großhirnrinde gibt. Versuche haben ergeben, dass unser Bewusstsein weder bei der Handlungsplanung, noch bei der Entscheidungsfindung wirklich mitreden darf.
Dazu das folgende Experiment, das in den achtziger Jahren von dem amerikanischen Physiologen Benjamin Libet durchgeführt und seit dem mehrmals erfolgreich wiederholt wurde:
Ein Proband wird gebeten, zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt eine Handbewegung auszuführen. Diesen Zeitpunkt hält er mit Hilfe einer Oszilloskop-Uhr fest. Das überraschende Ergebnis ist nun, dass sich schon etwa 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotential nachweisen lässt. Die Versuchsperson hatte also den bewussten Entschluss zur Handlung deutlich nach der Einleitung der Bewegung durch neuronale Prozesse gefällt.
Der Willensakt tritt also erst ins Bewusstsein, nachdem längst entschieden wurde, welche Handlung ausgeführt wird. Erst im Nachhinein, wenn die entscheidenden Prozesse auf hirnphysiologischer Ebene gelaufen sind, erscheint die Handlung auf der Bewusstseinsebene, und das Ich schreibt sich diese Handlung dann zu.
2004 erfuhr dieser irritierende Versuch eine neue Spielart. Eine Berliner Forschergruppe hatte Probanden über EEG-Signale mit dem Computer verbunden. Die Versuchspersonen wurden nun gebeten, den in der Mitte des Schirms befindlichen Cursor durch Tastendruck nach rechts oder links zu bewegen. Nun ertappten sich die Versuchspersonen regelmäßig dabei, dass der Computer genau jene Bewegung des Cursors bereits vollzogen hatte, die sie gerade ausführen wollten.
Das Ich der Probanden, so bemerkt Cornelius Borck in seinem Buch "Hirnströme", machte bei diesen Versuchen die irritierende Erfahrung, den Handlungen seines Gehirns zuzuschauen.
Die Interpretation dieser Versuche teilt die Hirnforscher in zwei Lager. Jene, die aufgrund der Befunde den freien Willen des Menschen überhaupt infrage stellen und jene, die versuchen, die Idee des freien Willens zu retten, indem sie darauf hinweisen, dass Bewegungen der Hand nicht mit hochkomplexen Entscheidungsprozessen zu vergleichen sind.
Diese Situation der Hirnforschung erinnert ein wenig an des Dilemma der Physik in den zwanziger Jahren, als es sowohl Beweise für den Teilchencharakter wie für den Wellencharakter des Lichtes gab. Damals war es Niels Bohr, der vorschlug, die Frage offen zu lassen und die beiden einander ausschließenden Beschreibungen des Lichtes für gültig zu erklären und damit zu akzeptieren, dass beide Möglichkeiten in der Natur des Lichtes liegen.
Zu einer ähnlichen Herangehensweise fordert Cornelius Borck die Hirnforscher auf:
"Mich interessieren diese Forschungen, weil sie gerade kein eindeutiges Ergebnis haben. Das Faszinierende daran ist diese Sperrigkeit, dass wir auf der einen Seite gezwungen sind, solche Fragen zu stellen und auf der anderen Seite ebenso gute Gründe haben, unsere Konzepte von Verantwortlichkeit und Freiheit nicht aufzugeben. Und wenn uns dann Hirnforscher glauben machen wollen, wir müssten uns jetzt anpassen an die Ergebnisse, die sie in ihren Forschungslabors produzieren, muss ich dem als Wissenschaftshistoriker widersprechen, weil ich eben sehr genau nachzeichnen kann, wie viele dieser Ergebnisse ihrerseits wieder die Effekte bestimmter historischer Umstände sind, also die wissenschaftliche Objektivität, die da produziert wird, selbst eine kulturelle Seite hat.
Und auf der anderen Seite, weil mir für moderne Gesellschaften genau dieser Widerstreit verschiedener wissenschaftlicher Antworten ganz zentral zu sein scheint. Und anstatt nun das Bestürzende daran zu sehen, dass wir Menschen mittlerweile Formen wissenschaftlicher Aufklärung erreicht haben, die uns selbst infrage stellen, ... könnte man vielleicht umgekehrt die Perspektive aufmachen: Dass Hirnforschung eine Maschinerie ist, um uns selbst immer komplizierter zu machen und genau diese Fragen in Gang zu halten. Vielleicht ist das, was wirklich faszinierend ist an der Hirnforschung, dass sie eben mit der Perspektive, fast am Durchbruch zu sein, sich eigentlich schon seit hundert oder hundertfünfzig Jahren eingerichtet hat."