Vitalität und Verwahrlosung
Fabrizia Ramondino, 1936 in Neapel geboren, wuchs in Mallorca, Italien und Frankreich auf und ist eine der großen Stimmen des italienischen Südens. Verschmitzt und vielfach gebrochen beschwört sie in ihren Werken die Welt einer mediterranen Großfamilie herauf und vergegenwärtigt immer wieder die Atmosphäre Neapels mit seinen chaotischen Bewohnern, den prächtigen Palazzi, den schwarzen Lavapflastersteinen und dem allgegenwärtigen Müll.
Sinnliche Erfahrungen prägen ihren Erzählstil ebenso wie ihre Leidenschaft für Philologie. Acht Erzählungen sind in ihrem neuen Band Die Katze versammelt. Ein berührendes Stadtporträt entsteht in der Geschichte "Die colombaia", in der es um eine alte Stadtstreicherin geht, die seit Jahrzehnten unter Kirchenportalen nächtigt, Tauben füttert und von der erzählt wird, sie habe die Madonna gesehen. Diese rastlose Frau, deren Körper zu einer Wolke aus Vögeln wird, wenn sie das Brot an die Tauben verteilt, ist Neapel selbst: eine geschundene, vernachlässigte Kreatur voller Lebenswillen und Barmherzigkeit.
Gleichzeitig führt Fabrizia Ramondino hier ihre Liebe zur Sprache und ihre Wortschöpfungslust vor, die mit viel Phantasie und Einfühlsamkeit in bewährter Manier von Maja Pflug ins Deutsche übertragen wurde: colombaia bedeutet nämlich eigentlich Taubenschlag, aber es wird zu "Täubnerin" umgewandelt. Wie in vielen ihrer Bücher zeigt sich Ramondinos Gespür für die Randgestalten der Gesellschaft: ohne Berührungsängste nimmt sie deren Lebensbedingungen unter die Lupe und stellt das Exemplarische daran heraus. In einer anderen Geschichte geht es um ein Brüderpaar, das auf den Strich geht und sich so ähnlich sieht, dass es abwechselnd dieselben Freier belustigen kann und sich als ein und dieselbe Person verkauft.
Vitalität und Verwahrlosung sind bei Ramondino die zwei Seiten derselben Medaille: die Schönheiten der Altstadt gehören ebenso zu Neapel wie die Strichjungen und die vor Fernsehern verdämmernden fetten Frauen in den düsteren Erdgeschosswohnungen, den legendären bassi, und wie der überall lagernde Müll. In der Titelgeschichte erhebt eine alte Frau ihre Stimme, die ebenfalls in den dunklen, feuchten Gassen der Altstadt aufgewachsen ist, jetzt eine Bleibe mit Terrasse bewohnt und sich um die kleine Tochter samt Katze der jungen Nachbarin kümmert. Behausungen sind seit jeher Gegenstand von Fabrizia Ramondinos Büchern, ob die eleganten Villen ihrer Kindheit auf Mallorca, die großbürgerlichen Palazzi in Neapel mit ihren repräsentativen Salons und den schmuddeligen Dienstboteneingängen oder spartanische Zimmer in Badeorten. Es sind die Häute ihrer Figuren, zu Stein gewordene Lebensgefühle.
Fabrizia Ramondino hat ihr Leben lang als Lehrerin gearbeitet. Als ihr die Großmutter in einem Traum erschien und befahl, das zu tun, was ihr nie beschieden war, nämlich die Geschichten der Familie zu erzählen, nahm das Projekt ihres literarischen Debüts Gestalt an. Fünfundvierzig Jahre alt war Fabrizia Ramondino damals, was sie als einen Glücksfall betrachtet. Intellektuell bereits gefestigt, hielt sie an ihrer Schreibweise und ihren Standpunkten fest und war weder für modische Erzählstrategien noch für die Verführungen des Literaturbetriebs anfällig.
Ramondino war Mitbegründerin der Associazione Risveglio Napoli, richtete mit ihren Genossen einen Kindergarten in der Altstadt von Neapel für die unbeaufsichtigten Gassenkinder ein und rief eine Abendschule für Arbeiter ins Leben. Die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei kündigte sie schon Anfang der 60er Jahre wieder auf, statt dessen beteiligte sie sich an einer Bewegung der Neuen Linken, die Centro Coordinamento Campano hieß und sich um arbeitslose Bauern kümmerte. Aber an starre Regeln hat sie sich nie gehalten – jede Form von Dogmatismus ist ihr fremd. Der neue Erzählungsband verschafft einen Eindruck von der Vielfalt ihres literarischen Könnens. Außerdem ist Die Katze eine ironische Liebeserklärung an Neapel, diese schmutzige, widerborstige, zerfallene und betörend schöne Stadt.
Rezensiert von Maike Albath
Fabrizia Ramondino: Die Katze und andere Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Arche Verlag, Zürich 2006, 144 Seiten, 17 Euro
Gleichzeitig führt Fabrizia Ramondino hier ihre Liebe zur Sprache und ihre Wortschöpfungslust vor, die mit viel Phantasie und Einfühlsamkeit in bewährter Manier von Maja Pflug ins Deutsche übertragen wurde: colombaia bedeutet nämlich eigentlich Taubenschlag, aber es wird zu "Täubnerin" umgewandelt. Wie in vielen ihrer Bücher zeigt sich Ramondinos Gespür für die Randgestalten der Gesellschaft: ohne Berührungsängste nimmt sie deren Lebensbedingungen unter die Lupe und stellt das Exemplarische daran heraus. In einer anderen Geschichte geht es um ein Brüderpaar, das auf den Strich geht und sich so ähnlich sieht, dass es abwechselnd dieselben Freier belustigen kann und sich als ein und dieselbe Person verkauft.
Vitalität und Verwahrlosung sind bei Ramondino die zwei Seiten derselben Medaille: die Schönheiten der Altstadt gehören ebenso zu Neapel wie die Strichjungen und die vor Fernsehern verdämmernden fetten Frauen in den düsteren Erdgeschosswohnungen, den legendären bassi, und wie der überall lagernde Müll. In der Titelgeschichte erhebt eine alte Frau ihre Stimme, die ebenfalls in den dunklen, feuchten Gassen der Altstadt aufgewachsen ist, jetzt eine Bleibe mit Terrasse bewohnt und sich um die kleine Tochter samt Katze der jungen Nachbarin kümmert. Behausungen sind seit jeher Gegenstand von Fabrizia Ramondinos Büchern, ob die eleganten Villen ihrer Kindheit auf Mallorca, die großbürgerlichen Palazzi in Neapel mit ihren repräsentativen Salons und den schmuddeligen Dienstboteneingängen oder spartanische Zimmer in Badeorten. Es sind die Häute ihrer Figuren, zu Stein gewordene Lebensgefühle.
Fabrizia Ramondino hat ihr Leben lang als Lehrerin gearbeitet. Als ihr die Großmutter in einem Traum erschien und befahl, das zu tun, was ihr nie beschieden war, nämlich die Geschichten der Familie zu erzählen, nahm das Projekt ihres literarischen Debüts Gestalt an. Fünfundvierzig Jahre alt war Fabrizia Ramondino damals, was sie als einen Glücksfall betrachtet. Intellektuell bereits gefestigt, hielt sie an ihrer Schreibweise und ihren Standpunkten fest und war weder für modische Erzählstrategien noch für die Verführungen des Literaturbetriebs anfällig.
Ramondino war Mitbegründerin der Associazione Risveglio Napoli, richtete mit ihren Genossen einen Kindergarten in der Altstadt von Neapel für die unbeaufsichtigten Gassenkinder ein und rief eine Abendschule für Arbeiter ins Leben. Die Mitgliedschaft in der Sozialistischen Partei kündigte sie schon Anfang der 60er Jahre wieder auf, statt dessen beteiligte sie sich an einer Bewegung der Neuen Linken, die Centro Coordinamento Campano hieß und sich um arbeitslose Bauern kümmerte. Aber an starre Regeln hat sie sich nie gehalten – jede Form von Dogmatismus ist ihr fremd. Der neue Erzählungsband verschafft einen Eindruck von der Vielfalt ihres literarischen Könnens. Außerdem ist Die Katze eine ironische Liebeserklärung an Neapel, diese schmutzige, widerborstige, zerfallene und betörend schöne Stadt.
Rezensiert von Maike Albath
Fabrizia Ramondino: Die Katze und andere Erzählungen
Aus dem Italienischen von Maja Pflug.
Arche Verlag, Zürich 2006, 144 Seiten, 17 Euro