Optimismus in Kolumbien

Ein Dorf als Leuchtturm

24:25 Minuten
Ausblick über das Dorf Viterbo aus der Vogelperspektive. Im Hintergrund bewaldete Ausläufer des Gebirges.
Vor 20 Jahren hatte die Gewalt der Drogenbanden das Dorf Viterbo fest im Griff. Das hat sich geändert. © Deutschlandradio / Markus Plate
Von Markus Plate · 05.01.2022
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Das Dorf Viterbo ist heute einer der sichersten Orte Kolumbiens. Das war nicht immer so: Drogenkartelle, der Guerillakrieg und schließlich die Pandemie hielten die Gemeinde in Schach. Doch dann geschah eine Art menschengemachtes Wunder.
Das kleine Dorf mit gut zehntausend Seelen liegt leicht erhöht über dem Risaralda Fluß, blickt über ein weites Tal und auf die Andenkordilleren zu beiden Seiten.
Viterbo mag klein sein, hat aber eine lange Musiktradition, der sich auch der 33-jährige Julián Díaz verschrieben hat. Er singt einen Bambuco – typische Tanzmusik in den kolumbianischen Anden.
„Viterbo hat viel Reichtum. Ich habe lange in Bogotá gelebt und habe mit Formationen aus Kolumbien und der ganzen Welt gearbeitet. Bei einem Heimatbesuch habe ich beschlossen, dass ich hier arbeiten will, dass es hier fantastische Leute und Talente gibt. Ich lebe glücklich hier“, erzählt er.

Covid legte alles lahm - zum Glück

Mit seiner Band Camaleón tourt Julián wieder mindestens drei Tage in der Woche durch die Gegend, mal in Vollbesetzung mit acht Musikern, Gitarren, Bass, Piano und Percussion, mal nur mit dem jungen Gitarristen Andrés. Endlich wieder, denn die Corona-Pandemie traf Viterbo hart, erzählt der Musiker.

Es waren 18 sehr schwierige Monate. Konzerte, Projekte, eine Tour durch Peru, alles wurde abgeblasen. Aber wir haben weitergearbeitet. Klar, in der Pandemie musste die Familie aushelfen, und da war es natürlich gut, dass in einem Dorf wie Viterbo das Leben günstiger ist und die Familien Platz haben. Aber wir hatten eben auch viel Zeit, um Projekte für die Zeit während und nach der Pandemie zu entwickeln. Das hatte also auch etwas Gutes.

Julián Díaz

Zur Untätigkeit verdammt waren in Viterbo nicht nur die Künstler. Handwerker mussten ihre Geschäfte schließen, Studenten konnten nicht mehr zu ihren Unis fahren. Aber nicht nur der Musiker Julián hat darin eine Chance gesehen.

Ein Start-up in der Pampa

Der Biologe Diego Mejía hat ein Startup in Viterbo gegründet, was man in so einem kleinen Dorf nicht unbedingt erwarten würde.
„Mich faszinieren Pilze, vor allem ihre Vielfalt: Du kannst damit Werkstoffe herstellen, Umweltprobleme lindern. Sie helfen, Plastik zu zersetzen, sogar Zigarettenstummel. Und natürlich sind sie sehr wertvoll für eine gesunde Ernährung“, erzählt er.
„Wir forschen an Nahrungsergänzungsmitteln und Arzneien auf Pilzbasis. Das alles auf kleinem Raum und mit schnellem Wachstum. Pilze bieten also einen unglaublich vielfältigen Nutzen.“
Beim Start-up Miceltec arbeiten heute gut ein Dutzend Freundinnen und Freunde von Diego, im Marketing, im Vertrieb, beim Bau der Pilzfarm, im Labor und in der Forschung, beim Verkauf.
Das Wohnzimmer ist zum Büro umfunktioniert, das Bad ist Labor, am Waschplatz werden Pilze und Gerätschaften gewaschen. Aber der Verkauf der Austernpilze und die Entwicklung neuer Anwendungszwecke laufen mittlerweile so gut, dass sich Miceltec erweitern muss. Ohne die Pandemie wäre all das kaum vorstellbar gewesen.

Die Pandemie war gut für uns. Wir alle hatten ja nichts zu tun, alles stand still, also haben wir das hier gemeinsam aufgebaut und Miceltec am 15. Mai 2020 gegründet. Wir wollen dem Dorf zeigen, dass wir hier eine Wasserader haben, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, von Viterbo aus in die Welt zu exportieren. Das Limit ist unsere eigene Vorstellungskraft und wir beweisen, dass aus einem so kleinen Ort Großes kommen kann.

Diego Mejía

„Die Besucher verlieben sich in Viterbo“

„Viterbo ist schon besonders“, glaubt Cristina Jimenez. Sie ist die Chefin des örtlichen Versorgungsunternehmens. „Wir haben ein sehr gutes Klima, eine sehr gute Infrastruktur, einen wunderschönen, baumbestandenen Platz zum Verweilen in den Abendstunden. Die Besucher verlieben sich in Viterbo. Die Straßen sind viel breiter als in den Dörfern der Region. So weit wie die Herzen der Menschen.“
Die 50-jährige vierfache Mutter Cristina Jiménez fühlt sich Viterbo sehr verbunden. Im Gegensatz zu Julián und Diego hat Cristina vor allem das erste Pandemiejahr als extrem belastend wahrgenommen. Mit dem plötzlichen Lockdown musste sie die öffentliche Versorgung irgendwie aufrechterhalten und sich gleichzeitig um Familie, Verwandte und Bedürftige kümmern.

Obwohl Viterbo sehr klein ist, hat uns Covid extrem hart getroffen. Viele Menschen sind gestorben. Unser Bürgermeister hat Wochen mit dem Tod gerungen, viele Lehrer sind schwer erkrankt, und Viterbo hatte landesweit die erste Jugendliche, die künstlich beatmet werden musste. Betriebe, Geschäfte und Schulen waren dicht. Das war für alle sehr schwer, vor allem für die Kinder und ihre Eltern. Wir haben so gut wir konnten einander geholfen. Mittlerweile konnten wir die meisten Menschen impfen und es gibt viel weniger Fälle. Aber wir haben gesehen, dass wir auf so etwas nicht vorbereitet sind. Das Gesundheitssystem ist unter Ex-Präsident Uribe privatisiert worden, die Gesundheitsversorgung ist für die Ärmeren äußerst prekär. Und das ist uns in der Pandemie total auf die Füße gefallen.

Cristina Jiménez

Der Trend geht zurück aufs Land

Von Viterbo die Berge hinauf leben die Menschen vom Kaffeeanbau. Die Höhenlagen mit ihren regelmäßigen Regenfällen und die reichen Böden machen kolumbianischen Kaffee zu einem der besten der Welt.
Mit ihrer Mutter sortiert Rubiela Pulgarín am großen Tisch, auf der das ganze Haus umspannenden Veranda, die getrockneten und geschälten Kaffeebohnen, die dann für Eigenbedarf und Hofverkauf geröstet werden.
Das Leben findet tagsüber draußen statt. Die kleinen dunklen Zimmer sind nur zum Schlafen und für die Siesta da. Vor dem Bauernhaus laufen Hühner und Enten frei herum, es gibt einen Fischteich, einen Kräutergarten und natürlich die Arbeit in den Kaffeebergen. Covid, das war hier zunächst ein Problem anderer Kontinente und dann der kolumbianischen Millionenstädte.

Ich dachte, Covid kommt hier nicht hin, wir sind ja weit weg von allem. Aber dann ruft mich meine Tochter von der Schule an und sagt: Die machen das Dorf dicht. Das hat mich schockiert. Du hast plötzlich nur noch Covid gesehen. Gut, dass wir auf dem Land leben, stell dir vor, du wirst eingesperrt wie die Menschen in ihren kleinen Wohnungen in der Stadt. Das sehen immer mehr Menschen so, die Leute zieht es aufs Land. Die Luft ist gut, das hilft gegen Ansteckung. Und wir haben hier viele Kräuter und Früchte für unser Immunsystem.

Rubiela Pulgarín

Raus aufs Land, das ist in Kolumbien eine Trendumkehr. Über Jahrzehnte hat es die Menschen in die Städte gezogen, nicht nur wegen der Arbeit, auch wegen der Gewalt, die vor allem das ländliche Kolumbien seit Generationen im Griff hat.

Friedensprozess als Generationenkonflikt

Rubielas Mutter, María Fenix, ist mittlerweile 74 Jahre alt. Zehn Kinder hat sie auf die Welt gebracht, mittlerweile ist sie elffache Großmutter und inzwischen auch Urgroßmutter.
Ihre Finca ist bis heute der Treffpunkt der Großfamilie, daran hat auch die Pandemie wenig geändert. María Fenix‘ Familie hat die Gewalt am eigenen Leibe erlebt, auch deswegen geht der Matriarchin die Familie über alles.

Als ich elf war, haben wir eines Wochenendes die Finca meines Großvaters verlassen. An dem Tag haben sie sieben Nachbarn ermordet, am Tag darauf meinen Papa. Wir sind nicht wieder zurück, haben die Finca verkauft, danach sind wir umhergezogen. Das waren damals Konservative und Liberale, die sich gegenseitig umbrachten.
Danach kamen die Guerilla und als Reaktion die Paramilitärs. Die Armee hat die Hügel beschossen und bombardiert. Hier in unserem kleinen Tal haben wir aber recht ruhig gelebt, die Gefechte waren ja in den Bergen. Wir haben natürlich den Kindern eingebläut, nicht mit Fremden und Uniformierten zu reden sollen, weil die Guerilla ja Kinder rekrutiert hat.

María Fenix

Ende 2016 hatte die Regierung des damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos mit der FARC-Guerrilla Frieden geschlossen, um damit eines der opferreichsten Kapitel der kolumbianischen Geschichte zu beenden. María Fenix traut dem Frieden nicht, sehr im Widerspruch zu ihrer Tochter Rubiela. Ein Generationenkonflikt, typisch für Kolumbien.
Eine ältere Dame steht neben einem Tisch, auf dem Kaffeebohnen ausgebreitet liegen.
María Fenix kennt noch düstere Zeiten in Viterbo, die Guerillakriege und die Gewalt der Drogenbanden. Sie traut dem Frieden nicht.© Deutschlandradio / Markus Plate
Zur politischen Gewalt kommt in Kolumbien die Gewalt der Drogenbanden, gerade Viterbo kann davon ein Lied singen. Nach Viterbo fahre man besser nicht, meint auch heute noch die Kaffeebäuerin Rubiela.
Und ja, bestätigt Cristina Jimenez, es war schlimm in Viterbo, damals, vor 20 Jahren allerdings. „Wir waren hier eine Wiege der Drogenbanden. Die haben sich für Götter gehalten und viele Jugendliche wurden vom schnellen Geld angezogen. Noch heute antworten Leute, denen ich erzähle, dass ich aus Viterbo komme: Viterbo? Oh, wie fürchterlich, da wo alles blutrot gefärbt ist, wo alle Türen verriegelt sind“, sagt sie.
„Es gab regelmäßig Schießereien in den Kneipen und Cafés, so viele Tote pro Woche. Ich habe das selbst erlebt, die wollten mir einen Neffen ermorden, weil sie ihn nicht kannten. Ich habe gebettelt, dass sie ihn am Leben lassen. Es ist so schön, dass Viterbo heute eines der gesündesten Dörfern des Landes ist.“

"Die Jugend ist informiert und kämpferisch"

Was hat Viterbo gerettet? Die Regierung? Nein, sagt Cristina. Irgendwann hätten sich die Banden selbst so dezimiert, dass es langsam ruhiger wurde. Gleichzeitig habe sich das Dorf organisiert.
Es gebe heute eine engagierte Dorfpolizei und mit der Rückkehr von Tagesausflüglern aus der nahen Großstadt Pereira auch wieder mehr Jobs, vor allem für junge Menschen. Und die Jugend sei heute nicht mehr so leichte Beute wie früher, sie sei informierter, bewusster und kämpferischer.
Das zweite Pandemiejahr begann mit einer großen Protestwelle gegen die derzeitige Regierung von Ivan Duque, die vor allem von Kolumbiens Jugend getragen wurde. Der Rücktritt der Regierung Duque wurde gefordert, Respekt vor dem Friedensabkommen, soziale Gerechtigkeit. Und ein Ende der notorischen Polizeigewalt.
Auch in Viterbo stiegen junge Menschen auf ihre Motorräder, um die Hauptverbindung zwischen Medellín und Cali zu blockieren, die auf der anderen Flussseite durchs Tal führt. Die Studentin und Umweltschützerin Sofía erzählt:

Ich kämpfe für das Leben, für die Natur und die Menschen in meinem Dorf. Ich bin dagegen, dass all diese Magie, die du in den Menschen, in den Flüssen und Wäldern findest, von Partikularinteressen geplündert wird, Menschen, die viel Macht haben und die sich als Besitzer von allem halten, das eigentlich allen gehört. Dass so viele Menschen kamen, hat mir Mut gemacht, dass sich Veränderungen durchsetzen, auf die Menschen schon so lange hoffen. Diese kollektive Freude und Kreativität zu spüren, zu sehen, dass es, gerade nach den schlimmen Monaten der Pandemie, eine enge Gemeinschaft gibt, das hat mich unglaublich inspiriert.

Sofía

Die Lage im Land schweißt das Dorf zusammen

In Viterbo konnten die Menschen weitgehend friedlich demonstrieren, aber in anderen Dörfern, in der Provinzhauptstadt Pereira und vor allem in Cali war das nicht so. Am Ende gab es landesweit 75 Tote, Dutzende Verschwundene und weit über dreitausend Verletzte.
Wegen der Polizeigewalt und einer neuerlichen Corona-Welle wurden die Proteste schließlich ausgesetzt. Die Wut über die Regierung Duque ist darüber aber so groß wie nie. Im Mai wird in Kolumbien gewählt. Es ist zu erwarten, dass die Proteste dann in eine neue Runde gehen.
Die fragile Situation im ganzen Land, schweißt die Menschen in Viterbo zusammen. Für den Musiker Julian Díaz ist sein Heimatdorf nach der Rückkehr aus der Stadt wieder sein Leben, seine Zukunft, der Ort, für den er sich engagiert, und den er, so wie der Biologe Diego und die Studentin Sofía weiterbringen und nach der Pandemie wieder aufleben lassen will.
Ein kleines, heißes Dorf, dessen Straßen so weit sind wie die Herzen seiner Menschen.

Kristina Birke Daniels leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá. Im Interview im „Weltzeit“-Podcast spricht sie über den schwierigen Friedensprozess und die extreme soziale Ungleichheit.

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