Widerspruch erntet Dávila immer dann, wenn er, erstens, das systematische Denken, zweitens, jede Hoffnung auf eine Besserung der Zustände, und drittens den Universalismus der Menschenrechte verwirft.
Vittorio Hösle: "Im Dialog mit Gómez Dávila"
© zu Klampen Verlag
Von Scholien und Korollarien
06:56 Minuten
Vittorio Hösle
Im Dialog mit Gómez Dávilazu Klampen, Springe 2022200 Seiten
20,00 Euro
Er war lange unbekannt und als man ihn entdeckte, galt er rasch als sinistre Gestalt: Philosoph Nicolás Gómez Dávila. Nun tritt ein anderer Philosoph, Vittorio Hösle, in literarischen Kontakt mit dem 1994 gestorbenen Kolumbianer. Spannend.
Vittorio Hösle traut sich was. Der in den Vereinigten Staaten lebende Philosoph sucht den Dialog mit einem Toten – und zwar in dessen ureigener Disziplin, in der Kunst des Aphorismus.
Bei dem posthumen Gesprächspartner handelt es sich um den 1994 verstorbenen kolumbianischen Schriftsteller Nicolás Gómez Dávila, der sich selbst als katholischen Reaktionär bezeichnete. Seine Aphorismen, die er nicht Aphorismen nannte, sondern Scholien, erweisen diesem ambivalenten Ruf alle Ehre.
Dávila lehnt die Moderne und die sie tragenden Prinzipien rundweg ab. Hösle wiederum ist Kind der Moderne durch und durch und lehrt an einer katholischen Universität im US-Bundesstaat Indiana.
Was neben der gemeinsamen Konfession verbindet den Heutigen mit dem programmatisch Gestrigen? Was will Hösle über sich, die Welt und die Wahrheit erfahren, wenn er ausgewählte Aphorismen von Dávila auf ihre Gegenwartstauglichkeit befragt?
Gegen den Anpassungsdruck der Moderne
Im Vorwort schreibt der 1960 geborene Hösle, die Lektüre des Kolumbianers steigere die Kraft, sich dem „Anpassungsdruck an die historischen Sieger“ zu entziehen.
Dieser Druck sei groß. Hösle scheut wie Dávila die Konformität des Zeitgeists. Er misstraut dem Gestus des ein für alle Mal im Diskurs als wahr Erkannten. Hösle wendet sich gegen die, wie er schreibt, „liberale Diktatur des politisch Korrekten“.
In diesem Punkt stimmen die beiden Männer überein: Wo alle einer Meinung sind, muss der Philosoph Zweifel säen und wird Zwietracht ernten.
Produktive Reibung
Der Untertitel verspricht „Gegenaphorismen, Variationen, Korollarien.“ Wer wie der Autor dieser Zeilen nachschlagen muss, was Korollarien sind – Ergänzungen, Ableitungen, Fortführungen –, zählt offenbar nicht zum Kernpublikum des Büchleins.
Hösle schreibt meistens verständlich und oft akademisch, ja geradezu im Sinne der Akademien, Fakultäten und Universitäten, die er vor Dávilas antisystematischen Affekten in Schutz nimmt.
So kommt es, dass Hösles Erwiderungen mal zustimmend mit „Und“ oder „Denn“ beginnen, mal widersprechend mit „Aber“, „Freilich“ oder „Nein“. Hösle reibt sich an Dávila – und zuweilen entstehen Funken, Geistesblitze, Aufhellungen.
Aphorismen gegen Aphorismen
Wenn Dávila formuliert: „Menschlich ist das Adjektiv, das dazu dient, jede Gemeinheit zu entschuldigen“, bekräftigt Hösle: „Appelliert man besonders eindringlich an unsere Menschlichkeit, dürfen wir uns auf etwas besonders Tierisches gefasst machen.“
Das Einvernehmen besteht also darin, dass dem moralischen Tremolo in öffentlichen Debatten zu misstrauen sei. Es kann im Namen der Menschlichkeit ganz unmenschliche Zwecke vorantreiben.
Verteidigung der Vernunft
Dávila bekennt in maximaler Verdichtung: „Vernunft, Fortschritt, Gerechtigkeit sind die drei theologischen Tugenden des Idioten.“
Hösle empört sich dagegen: „Es mag Zeiten gegeben haben, in denen man klug sein musste, um zu begreifen, dass der Appell an die höchsten Werte missbrauchbar ist. Aber es hat keine Zeit gegeben, und es wird keine Zeit geben, in der man sich ungestraft von ihnen verabschieden konnte.“
Hösle will trotz aller Freunde am Un-Zeitgemässen zeitlose Werte keinesfalls für ungültig erklären.
Auf Vernunft, Fortschritt, Gerechtigkeit lässt Hösle auch dann nichts kommen, wenn sich die von Dávila als Dummköpfe titulierten politischen Ignoranten in unlauterer Absicht auf sie berufen.
Hösle will die Leitbegriffe des Abendlands vor ihrem Missbrauch retten, Dávila hält sie für endgültig ruiniert. Hösle hofft, Dávila resigniert.
Dissens beim Katholizismus
Besonders deutlich wird dieser Dissens bei Hösles Versuchen, das katholische Christentum vor Dávilas elitärer und radikal individualistischer Deutung zu bewahren.
Dávila behauptet: „Reaktionär zu sein, bedeutet zu begreifen, dass der Mensch ein Problem ist ohne menschliche Lösung.“ Hösle gibt Kontra: „Christ zu sein bedeutet, darauf zu vertrauen, dass bei intelligenter Bändigung der tierischen Seiten der menschlichen Natur der göttliche Geist den Menschen inspiriert.“
Als Dávila starb, war Hösle 34 Jahre alt. Sie hätten sich begegnen können. Wer aber außerhalb Kolumbiens kannte in den 1990er-Jahren Dávila? Erst 2002 habe er, Hösle, die Aphorismen gelesen.
Insofern war es ein langer Weg hin zu diesem „Dialog“, der, in Dosen gelesen, erheitert und erhellt und tatsächlich einige Sollbruchstellen der von Hösle wie von Dávila verabscheuten Spätmoderne offenlegt: den plumpen Gegenwartsstolz, den gelehrten Bildungsdünkel, die Selbstzähmung des Christentums.
Schade nur, dass der Überlebende naturgemäß das letzte Wort behält. Nur zu gerne hätte man erfahren, was Dávila wohl zu Hösles Einwänden und Zustimmungen einfällt. Aber vielleicht nahm Dávila das Fazit zu einem ihm unbekannten Text aphoristisch bereits vorweg: „Wer betrachtet, ohne zu bewundern oder zu hassen, hat nicht geschaut.“